Tards erstes Mal
Von allen Kindern Mamas konnte Tard sich am besten verstecken. Das war auch der Grund, warum Sly gerade ihn ausgewählt hatte, das Monster im Auge zu behalten. Es war nicht gerecht, dass Sly Tard nie an ihrem richtigen Spaß teilhaben ließ, doch jetzt würde Sly alles wieder gutmachen.
Wenn der Wagen mit den gelben Lichtern das Monster wirklich weggebracht hatte, dann, so sagte Sly, durfte Tard auf die Jagd gehen. Er musste nur darauf achten, sich unauffällig zu verhalten, damit der Erstgeborene nichts davon erfuhr. Die Jagd! Tard hatte noch nie gejagt. Sly war ein echter Freund.
Tard konnte sich so gut verstecken, weil er in der Lage war, wie andere Dinge auszusehen. Im Augenblick sah er aus wie ein Teil eines knorrigen alten Baumstamms. Im Golden Gate Park gab es rechts und links der unbefestigten Wege jede Menge knorriger Bäume – Bäume, deren Stämme so spiralförmig verdreht waren wie Korkenzieher und deren äußere Hülle kleine Hohlräume umschloss. In diesen Hohlräumen konnte niemand Tard erkennen, besonders bei Dunkelheit nicht. Bis auf die Strahlen des zur Hälfte vollen Mondes, die weit oben zwischen den hohen Stämmen der Kiefern hindurchfielen, gab es im Park keine weitere Lichtquelle.
Tard sah wirklich fast ganz genauso aus wie Holz, doch deswegen schlug sein Herz nicht weniger heftig, und es fiel ihm schwer, still dazusitzen. So war es also, wenn man jagte. Kein Wunder, dass Sly das ständig tun wollte.
Tard bewegte nichts als seine Augen, während er die Beute beobachtete, die auf dem unbefestigten Weg auf ihn zukam. Es waren ein Junge und ein Mädchen im Teenageralter. Sie hielten sich bei den Händen. Niemand würde jemals Tards Hand halten, und das war nicht fair. Warum sollte die Beute so etwas genießen dürfen? Er hatte schon immer die Menschen bestrafen wollen, die er sah – Menschen, die sich an den Händen hielten, Menschen, die sich küssten.
Der Junge sah auf. Er starrte direkt in Tards kleines Versteck – und wandte sich ab. Er hatte Tard nicht bemerkt. Das lag daran, dass Tard nicht mehr Tard war, sondern Chamäleon.
Das Teenagerpärchen kam näher. Das Herz Chamäleons hämmerte noch ein wenig heftiger. So aufregend! Würde die Beute davonlaufen, bevor sie sein Versteck erreicht hatte? Würden die beiden seine Gegenwart irgendwie spüren?
Er hatte noch nie zuvor getötet. Na ja, jedenfalls nicht mehr, seit er ein kleiner Junge beim Lauf des Bräutigams gewesen war, aber das war schon so lange her. Die Angst vor dem Erstgeborenen und die Angst vor dem Erlöser hatten ihn immer zurückgehalten, aber vielleicht hätte der Erstgeborene ja nicht mehr lange das Sagen, und der Erlöser war schließlich von den gelben Lichtern abtransportiert worden.
So lagen die Dinge. Und deshalb würde Tard – nein, Chamäleon – das alles jetzt wirklich tun.
Er hielt den Atem an, als das Paar nur noch fünf Schritte entfernt war.
Dann vier.
Dann drei.
Als sich die beiden ihm bis auf kaum anderthalb Meter genähert hatten, schossen Tards Arme flink wie die Krallen einer Katze nach vorn, und auf jeden Mund legte sich eine raue, knorrige Hand.
Er zog die beiden in seine kleine dunkle Festung.