Mr. Biz-Nass
North Beach, San Franciscos »Little Italy«, grenzt direkt an Chinatown. Als kleiner Junge war Bryan mit seinem Vater oft durch beide Viertel gegangen. Der Wechsel von einem zum anderen war so abrupt und so deutlich, dass Bryan den Eindruck gehabt hatte, Tore mit einer internationalen Grenztruppe wären nicht im Geringsten unangebracht gewesen. Gerade noch waren alle Beschriftungen und Unterhaltungen auf der Straße asiatisch gewesen, und man schob sich durch eine dichte Menge Chinesen, die vor winzigen Lebensmittelläden Kisten mit Obst und Gemüse durchsahen, und im nächsten Augenblick hatte man ruhige Bürgersteige mit den Tischen von Straßencafés vor sich, an denen Leute saßen und Espresso tranken, ältere Herren knappe Bemerkungen auf Italienisch von sich gaben und jeder Laternenpfahl mit grünen, weißen und roten Bändern umwickelt war.
In North Beach bewegt sich der Handel im Wesentlichen auf zwei Ebenen. Direkt an der Straße kann man sich in einer endlosen Reihe von Restaurants, Bäckereien, Metzgereien und Süßwarengeschäften mit Essbarem versorgen; hier kann man sich auch in Geschäften voller billiger Souvenirs, überteuerter Kleider und dramatisch überteuerter Kunst mit allerlei Kitsch eindecken. Über den Lebensmitteln und dem Kitsch befindet sich die zweite Ebene von North Beach. Dort werben verblasste Schilder in den Fenstern für Import-Export-Firmen, Olivenölhändler, Schneider und Ähnliches.
Mr. Biz-Nass hatte eines dieser Geschäfte im zweiten Stock, nur eine Treppe über dem Stella Pastry & Café. Sein Schild war nicht verblasst – es bestand aus einem blauen Neonauge in einer roten Neonhand mit weißer, geschwungener Neonschrift darunter: WAHRSAGER.
»Wie praktisch«, sagte Pookie. »Sobald wir mit diesem Kerl geredet haben, besorgen wir uns unten etwas Sacripantina-Kuchen.«
»Braucht die kleine Eisenbahn Benzin?«
»Genaugenommen lautet die Metapher Kohle«, sagte Pookie. Er konnte die vier dicken Aktenhefter unter seinem Arm gerade noch zurechtschieben, bevor sich ihr Inhalt auf den Bürgersteig ergoss. »Gehirne brauchen Chemikalien wie Kalium und Natrium. Zucker ist auch eine Chemikalie, Bryan, ergo braucht mein Gehirn Zucker. Das nennt man Wissenschaft.«
»Ausgerechnet der Typ, der an den Unsichtbaren Daddy im Himmel glaubt, bezieht sich auf die Wissenschaft?«
»Ja«, sagte Pookie. »Und ausgerechnet dieser Typ wird eine nette Plauderei mit einem heidnischen Schwarzmagier führen. Die Beichte wird furchtbar werden diese Woche. Übrigens, ich habe Mister Biz-Nass nicht gesagt, dass wir Bullen sind.«
Bryan nickte. »Es ist immer gut, sie ein bisschen zu überraschen.«
»Meiner Meinung nach ist der Kerl ein Verdächtiger«, sagte Pookie. »Aber ich will nichts überstürzen. Er ist die einzige Person von Interesse, die wir haben.«
Bryan war nicht allzu begeistert, jedenfalls noch nicht. Der Wahrsager Thomas Reed, auch bekannt unter dem Namen Mr. Biz-Nass, hatte lediglich nach Informationen über die Symbole gesucht. Das konnte zwar bedeuten, dass irgendeine Verbindung zu ihrem Fall bestand, doch wahrscheinlicher war, dass er die Symbole irgendwo gesehen hatte und einfach mehr darüber wissen wollte. Auch wenn nur selten jemand aus reiner Neugierde Anfragen an das SFPD oder die Stadt richtete.
»Pooks, was für ein Name ist Biz-Nass eigentlich?«
»Vielleicht ist er wie Elvis«, sagte Pookie, »und es kommt von taking care of business. Bereit für ein paar Antworten?«
Bryan war bereit. Im Augenblick würde er sogar jede Antwort akzeptieren. Er hatte leichte Kopfschmerzen, doch andere Dinge waren schlimmer. Sein rebellierender Körper versuchte, ihn komplett außer Gefecht zu setzen, doch er weigerte sich nachzugeben. Wenigstens vorläufig gelang es ihm noch, sich durchzubeißen und die Tatsache zu ignorieren, dass ihn jede Bewegung schmerzte und ihm sogar das Atmen wehtat.
Sie betraten den Flur im Erdgeschoss und gingen dann die Treppen hinauf. Der herabsinkende Geruch nach Weihrauch mischte sich mit dem aufsteigenden Geruch nach Gebäck. Es war offensichtlich, welche Tür im Obergeschoss zu Mr. Biz-Nass gehörte: Sie war hellrot, mit einem stilisierten blauen Auge darauf. Bryan und Pookie traten ein.
Im Raum hinter der Tür erwartete sie ein Mann in einer roten Robe mit blauem Saum. Er trug einen ebenfalls blauen Turban, der mit Rubinen aus Glas geschmückt war. Er musste um die sechzig sein, und wenn sein Gesicht nicht trog, war jedes dieser sechzig Jahre hart gewesen. Er saß in einem roten, thronartigen Sessel. Vor dem Sessel ruhte eine blaue Glaskugel auf einem Tisch, der mit einem Tuch aus rotem Samt bedeckt war. Zwei billige blaue Plastikstühle standen auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs.
Seine Kleidung glich derjenigen, die indische Fürsten in Hollywoodfilmen der Sechzigerjahre trugen, doch sein Gesicht wirkte keineswegs wie das eines Mannes aus dem Hochadel. Seine Nase war dreimal gebrochen, die Haut runzlig und bleich, und das linke Augenlid hing wie in einem mitten in der Bewegung erstarrten Blinzeln bis auf die halbe Höhe der Iris herab.
Der Mann winkte Bryan und Pookie zu sich heran. In seiner linken Hand hielt er einen kleinen zylindrischen Gegenstand, den er gegen seine Kehle drückte.
WILLKOMMEN, sagte eine mechanische Stimme, BITTE TRETEN SIE EIN.
Bryan und Pookie blieben stehen und starrten den Mann an.
BEACHTEN SIE MEINE BEHINDERUNGEN NICHT. ICH VERFÜGE ÜBER EINE SPRACHUNTERSTÜTZUNG.
»Ein Kehlkopfmikrofon«, sagte Pookie. »Ein Wahrsager mit einem Kehlkopfmikrofon.«
»Behinderungen?«, sagte Bryan. »Plural?«
ICH LEIDE AUCH UNTER EINER ABGESCHWÄCHTEN FORM VON KOPROLALIE.
Bryan und Pookie tauschten einen Blick.
DEM TOURETTE-SYNDROM.
»Natürlich«, sagte Pookie. »Ein Wahrsager mit einem Kehlkopfmikrofon und Tourette.«
DAS ALLES STEHT AUF MEINER FACEBOOK-SEITE. RECHERCHIEREN SIE DAS NÄCHSTE MAL EIN BISSCHEN. SCHISSEIER! KACKSCHNÜFFLER! BEACHTEN SIE MEIN FLUCHEN NICHT. DAS IST NUR MEINE BEEINTRÄCHTIGUNG. KOMMEN SIE, SETZEN SIE SICH.
Bryan und Pookie nahmen auf den blauen Plastikstühlen Platz.
WER VON IHNEN IST POOKIE?
Pookie hob die Hand. »Ich.«
Mr. Biz-Nass beugte sich vor und ließ seine rechte Hand über der blauen Glaskugel kreisen. Er starrte hinein und begann, wütend zu knurren, als erblickte er das Höllenfeuer darin. Wenn Bryan angesichts der Behinderungen des Mannes nicht schon völlig sprachlos gewesen wäre, hätte ihn dieser übertrieben dramatische Auftritt in lautes Lachen ausbrechen lassen.
SAGEN SIE MIR, WAS SIE WISSEN WOLLEN. ICH STEHE IN VERBINDUNG MIT DEN PIMMELSCHWANZ GEISTERN.
»Wir sind Cops«, sagte Pookie. »Wir müssen Ihnen ein paar Fragen zu einem Fall stellen.«
Bryan hielt seine Marke hoch, Pookie ebenfalls.
Die Hand des Wahrsagers erstarrte. Mr. Biz-Nass sah hoch, ohne den Kopf zu heben. Seine Augen spähten unter seinen graumelierten Brauen hervor. Das wütende Knurren verschwand, und an seine Stelle trat eine Miene, die die Worte Oh, Scheiße auszudrücken schien.
COPS?
»Ganz ruhig«, sagte Pookie. »Wir wollen Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«
Biz-Nass musterte die beiden. Sein Blick huschte hin und her. Er schien auf etwas zu warten. Als dieses Etwas – was immer es auch sein mochte – nicht kam, fuhr er fort.
HHMMMMM FRAGEN WORÜBER?
»Vor neunundzwanzig Jahren haben Sie eine Anfrage in Bezug auf gewisse Symbole beim SFPD eingereicht.«
Verängstigt riss der Mann die Augen auf.
MMMMM ICH WILL KEINE SCHWIERIGKEITEN. TUN SIE MIR NICHTS.
Bryan fragte sich, warum der Wahrsager so nervös war. Welchen Geschäften ging er hier nach? Natürlich abgesehen davon, dass er behauptete, die Zukunft zu kennen, um leichtgläubigen Kunden das Geld aus der Tasche zu ziehen.
»Das ist keine große Sache«, sagte Pookie. »Wir ermitteln in einem Fall. Wir brauchen Ihre Hilfe. Wir sind nicht gekommen, um Sie irgendwie in Bedrängnis zu bringen.«
Wieder huschte der Blick hin und her. SIE WOLLEN EINFACH NUR WISSEN, WARUM ICH DIESE ANFRAGE EINGEREICHT HABE? DAS IST ALLES?
Pookie nickte. Biz-Nass schien sich zu entspannen. Ein wenig. Sein Gesichtsausdruck verriet Hoffnung.
ICH HABE AN EINEM BUCH GEARBEITET.
»Wie nett«, sagte Pookie. »Ein Autor. Ein Autor und Wahrsager mit Tourette-Syndrom und einem Kehlkopfmikrofon. Wie heißt Ihr Buch?«
ICH HABE ES NICHT VOLLENDET. WAS WOLLEN SIE?
Pookie öffnete einen seiner Aktenhefter. Er zog die Fotos mit den blutigen Symbolen heraus und schob sie langsam über den Tisch.
Mr. Biz-Nass sah sie an. Seine Augen wurden immer größer. Der Wahrsager erkannte die Symbole, und sie jagten ihm eine Heidenangst ein.
SCHWANZMÖSEN SCHWANZMÖSEN SCHWANZMÖSEN.
»Ruhig durchatmen, Biz«, sagte Pookie. »Immer mit der Ruhe. Holen Sie erst mal Luft.«
Biz-Nass ließ das Kehlkopfmikrofon fallen. Es rollte über den roten Samt. Er drückte beide Handflächen auf den Tisch und atmete dreimal langsam und tief ein und aus. Das schien ihn zu beruhigen. Sein Gesicht entspannte sich. Er sah zu Pookie und dann zu Bryan, als wartete er darauf, dass die beiden etwas taten.
Als das nicht der Fall war, lehnte sich Biz-Nass in seinem Thron zurück. Mit zitternder Hand griff er nach dem Mikrofon auf dem Tisch und hielt es an seine Kehle.
DIE HABE ICH NOCH NIE GESEHEN.
Bryan lachte. »Natürlich nicht. Deshalb haben Sie sich auch fast in die Hose gemacht. Oder gehört Inkontinenz ebenfalls zu Ihren Behinderungen? Es ist ein wenig spät, so zu tun, als wüssten Sie nicht, was diese Dinger sind.«
Mr. Biz-Nass starrte ihn an.
Hatte der Mann Angst vor den Symbolen, oder hatte er Angst, dass die Polizisten über die Symbole Bescheid wussten und deshalb bei ihm vorbeischauten? Biz-Nass war Wahrsager, Hellseher. War es möglich, dass er die Träume in Bryans Kopf projiziert hatte?
Der Gedanke war so lächerlich, dass Bryan sich am liebsten sofort selbst einen Schlag versetzt hätte. Wahrsager waren geschickte Betrüger, mehr nicht. Und doch wusste Mr. Biz-Nass etwas über die Symbole. Sie mussten Antworten bekommen.
Bryan beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Kommen Sie schon, wo haben Sie die Symbole gesehen?«
Wieder huschte Biz-Nass’ Blick zwischen den beiden Polizisten hin und her. Es sah aus, als versuchte er, sie einzuschätzen.
ICH WEISS PIMMELSCHWANZ NICHTS.
Pookie griff in einen der Hefter und zog ein Foto von Oscar Woodys verstümmelter Leiche heraus. Er schob das Bild über den Tisch.
Biz-Nass schüttelte den Kopf, als wollte er nicht glauben, dass die Aufnahme echt war.
»Menschen sterben«, sagte Pookie. »Wir müssen wissen, was Sie wissen. Wenn Sie nicht hier mit uns reden wollen, können wir Sie auch aufs Revier bringen.«
Diese Vorstellung schien Biz-Nass noch mehr in Panik zu versetzen als die Fotos. Er begann, hektisch ein- und auszuatmen. Fast hätte er hyperventiliert.
»Immer mit der Ruhe«, wiederholte Pookie. »Sie müssen sich nur mit uns unterhalten, und nichts davon wird diesen Raum verlassen.«
Vorsichtig strich sich der Wahrsager über seine schiefe Nase. Er sah auf, und wieder lag ein skeptischer Ausdruck in seinen Augen. HABEN SIE IHREN SCHWEINISCHEN BOSSEN GESAGT, DASS SIE HIERHERKOMMEN WÜRDEN? WEISS IRGENDJEMAND, DASS SIE HIER SIND?
Bryan verharrte vollkommen regungslos, als könnte die geringste Bewegung den Mann erneut in Panik versetzen. Pookies Art der Befragung war bravourös.
»Es gibt noch eine Person, die davon weiß«, sagte Pookie, »aber das ist alles. Und dieser Mann ist nicht unser Boss, sondern jemand, der in unserem Computersystem nach den Symbolen gesucht hat. Es gibt keinen offiziellen Bericht. Es gibt in dieser Hinsicht überhaupt nichts. Ich nehme an, dass diese Unterhaltung unter uns bleiben soll?«
NIEMAND WIRD MEINEN NAMEN ERFAHREN. SCHISSEIER! KACKSCHNÜFFLER!
Pookie bekreuzigte sich. »Wir versprechen es.«
Der Wahrsager hob seine linke Faust. DAS WORT GILT?
Pookie ballte ebenfalls die Faust und schlug damit leicht gegen die Hand des Wahrsagers. »Das Wort gilt.«
Mr. Biz-Nass nickte. Schließlich betrachtete er die Fotos.
SAGEN SIE MIR, WO SIE DAS GEFUNDEN HABEN.
»An Tatorten«, sagte Pookie. »Zwei Jungen im Teenageralter. Beide Mitglieder einer Gang namens Boys Company. Einer starb vor zwei Nächten, der andere heute Morgen, noch vor Anbruch der Dämmerung. Abgesehen von Ihrer Anfrage beim SFPD konnten wir die Symbole nirgendwo in den Polizeiunterlagen finden. Sagen Sie uns, worum es sich handelt.«
Biz-Nass sah auf und schüttelte den Kopf.
Bryan spürte, wie er ungeduldig wurde. Er stand auf. »Hör zu, Arschloch, dir fehlen noch zehn Sekunden, dann verwandelst du dich von einer Person von Interesse in meinen Hauptverdächtigen.«
PIMMELSCHWANZKACKLUTSCHER.
»Wie hast du mich genannt?«
»Entspann dich, Bryan«, sagte Pookie. »Das ist nur seine besondere Verfassung.«
JA, DAS IST ES. ES IST EINE BESONDERE VERFASSUNG. ES TUT MIR LEID PIMMELSCHWANZLUTSCHER.
»Schwachsinn«, sagte Bryan. »Der Typ hat keine besondere Verfassung.«
ICH BIN BEHINDERT.
Eine Hand legte sich auf Bryans Arm. »Komm runter«, sagte Pookie. »Lass den Mann reden, okay?«
Bryan setzte sich wieder und verschränkte die Arme vor der Brust.
DIESE SYMBOLE STEHEN FÜR MARIES KINDER. ES IST EIN KULT. MMMM SIE SIND BULLEN; SIE MÜSSTEN DAVON GEHÖRT HABEN.
Pookie schüttelte den Kopf. »Ich bin seit zehn Jahren beim SFPD. Ich habe noch nie von Maries Kindern gehört.«
Auch Bryan hatte noch nie davon gehört. Er schwieg. Pookie machte Fortschritte.
Biz-Nass starrte die beiden an, als wartete er auf die Pointe. Er wartete mehrere Sekunden lang. Dann zuckte er mit den Schultern.
EINE HEXE MIT NAMEN MARIE UND IHR SOHN, GENANNT DER ERSTGEBORENE, KAMEN WÄHREND DES GOLDRAUSCHS NACH SAN FRANCISCO. SIE UND IHRE ANHÄNGER WAREN ANGEBLICH FÜR MEHRERE MORDE IN DER STADT VERANTWORTLICH. EINIGE BEHAUPTETEN, SIE WÄREN KANNIBALEN GEWESEN SCHISSEIER! KACKSCHNÜFFLER! EINE GRUPPE, GENANNT DIE ERLÖSER, NAHM DUTZENDE VON MARIES KINDERN GEFANGEN UND MMMMM VERBRANNTE SIE IM JAHRE 1873 AUF DEM SCHEITERHAUFEN.
Bryans Bockmist-Detektor schlug kräftig Alarm. »Dutzende Menschen? Auf dem Scheiterhaufen verbrannt? Auch wenn das schon lange her ist, kann es unmöglich passiert sein, ohne dass wir jemals davon gehört haben.«
DIE LEUTE INTERESSIEREN SICH NICHT FÜR DIE DÜSTEREN SEITEN DER STADTGESCHICHTE. SO ETWAS SCHREIBT MAN NICHT IN DIE BROSCHÜREN FÜR TOURISTEN, ABER COPS SOLLTEN EIGENTLICH DARÜBER BESCHEID WISSEN.
»Warum?«, sagte Pookie. »Warum sollten Cops darüber Bescheid wissen?«
WEIL MARIES KINDER NIE MIT DEM MORDEN AUFGEHÖRT HABEN. MEISTENS UNBEMERKT, DOCH MANCHMAL GAB ES EINIGE AUFFÄLLIGE SERIENKILLER UND SCHISSEIER! GERÜCHTE, DASS SIE IM AUFTRAG DES ORGANISIERTEN VERBRECHENS HANDELTEN.
Bryan schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Die leichten Kopfschmerzen waren so stark geworden, dass er sich am liebsten hingelegt hätte.
»Das nehme ich Ihnen nicht ab«, sagte er. »Wie auffällig kann etwas sein, von dem ich noch nie gehört habe?«
Biz-Nass starrte Bryan an. SIE HABEN DOCH VOM GOLDEN GATE SLASHER GEHÖRT?
Bryan und Pookie sahen einander an. Der Slasher war der größte Serienkiller der Stadt, ein Monster, das Kinder abgeschlachtet hatte. Er hatte mehr Menschen ermordet als der Zodiac Killer, David Carpenter und Luis Aguilar – Psychopathen, die bekannter waren als der Slasher.
Biz-Nass tippte auf die Fotos. DIESE SYMBOLE HAT MAN GEFUNDEN, ALS DER GOLDEN GATE SLASHER GESCHNAPPT WURDE.
»Unmöglich«, sagte Bryan. »Es ist völlig unmöglich, dass das stimmt und wir nie davon gehört haben.«
Biz-Nass stand auf und trat an sein überfülltes Bücherregal. Er zog ein Fotoalbum heraus, blätterte es durch und schob es wieder zurück. Dasselbe tat er noch zwei Male, bis er im vierten Band fand, was er gesucht hatte. Er ging zurück an den Tisch und reichte Bryan das Album.
PIMMELSCHWANZKACKLUTSCHER LIES DAS.
Es war ein Zeitungsausschnitt, laut Datumszeile dreißig Jahre alt. Obwohl das Papier durch das Album geschützt gewesen war, sah es vergilbt und brüchig aus. Neben der Spalte mit dem Text befand sich ein Schwarz-Weiß-Foto, das ein in die Erde gezeichnetes Symbol darstellte. Es war der Kreis mit dem Dreieck aus Bryans Träumen, dasselbe Symbol, das sie an zwei Orten gefunden hatten, an denen Menschen auf entsetzliche Weise ermordet worden waren.
GOLDEN GATE SLASHER VON POLIZEI GETÖTET
Ein grässliches Rätsel fand heute seine Auflösung, als ein Mann, den die Polizei als den Golden Gate Park Slasher identifizierte, in eben dem Park getötet wurde, den er über 10 Monate hinweg terrorisiert hatte.
Um wen es sich dabei handelt, konnten die Beamten bisher nicht genau bestimmen. Quellen innerhalb der Polizei deuten an, dass sich die Identität des Killers möglicherweise nie wird feststellen lassen.
Inspektor Francis Parkmeyer von der Polizei von San Francisco sagte, dass die Fingerabdrücke den Unbekannten bereits mit allen acht Tatorten in Verbindung bringen, an denen im Golden Gate Park zwischen dem 18. Februar und dem 27. November Kinder ermordet wurden.
Der Unbekannte wurde unweit eines Bowiemessers gefunden, einer Waffe, die laut früheren Erkenntnissen der Polizei bei allen Morden das Tatwerkzeug darstellte. Erste Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass individuelle Merkmale der Klinge mit den Spuren übereinstimmen, die an den sterblichen Überresten der Opfer festgestellt wurden.
»Ich zweifle nicht daran, dass wir den Golden Gate Slasher gefunden haben«, sagte Parkmeyer. »Die Fingerabdrücke passen, genauso wie die Waffe.«
Die Leiche wurde um 5:15 Uhr heute Morgen von Mitgliedern der Parkreinigung gefunden. Ramon Johnson, der zur Reinigungscrew gehört, hatte ursprünglich behauptet, der mutmaßliche Killer sei mit einem Pfeil im Rücken durch ein kleines Waldstück getaumelt. Nach einem Gespräch mit der Polizei sagte Johnson, er habe einen Ast mit einem Pfeilschaft verwechselt.
Parkmeyer bestritt das Vorhandensein eines Pfeils.
»Die Dämmerung hatte noch nicht eingesetzt. Die Augen des Zeugen haben ihm einen Streich gespielt«, sagte Parkmeyer. »Der Unbekannte hat Selbstmord begangen. Der Albtraum ist vorbei. Wir haben unsere Stadt zurückbekommen.«
Pookie sah von dem Artikel auf. »Das verstehe ich nicht. Es geht hier um eine Mordserie – eine der größten überhaupt –, und trotzdem ist das Symbol im Department nicht allgemein bekannt? Warum?«
Bryan musterte eine Ecke des Zeitungsausschnitts. Das Logo des San Francisco Chronicle schien dunkler zu sein als die anderen Buchstaben auf der Seite; es war, als könnte der Name der Zeitung den Verheerungen der Zeit leichter widerstehen.
Er deutete darauf. »Vielleicht gibt es im Archiv des Chronicle noch mehr Informationen.«
Mr. Biz-Nass lächelte. DAS IST EINE GUTE IDEE. SEHEN SIE IM ARCHIV NACH.
Bryan starrte das verblichene Foto des Symbols an. Da war es, schwarz auf weiß. Eine der großen Zeitungen der Stadt hatte es abgedruckt, es gehörte zu einem der bedeutendsten Fälle überhaupt, und doch befand sich keine Aufnahme davon im System des SFPD?
Black Mr. Burns hatte gelöschte Informationen entdeckt, aber das hier hatte völlig andere Dimensionen. Hielt jemand seine schützende Hand über einen Serienkiller? Oder über den Kult um Maries Kinder? Oder über beide gleichzeitig?
PARKMEYER HAT GELOGEN, WAS DEN PFEIL ANGEHT. ICH HABE MIT RAMON JOHNSON GESPROCHEN. ER IST INZWISCHEN GESTORBEN PIMMELSCHWANZ, NATÜRLICHE TODESURSACHE, ABER ICH KONNTE IHN VOR SEINEM TOD AUFSPÜREN UND INTERVIEWEN. ER SAGTE, ER HÄTTE EINEN PFEIL IM RÜCKEN DES KILLERS GESEHEN. UND ER SAGTE, ER HÄTTE GESEHEN, WIE DER KILLER IM STERBEN DAS SYMBOL AUF DIE ERDE GEZEICHNET HAT.
Biz-Nass griff nach dem Album mit den Zeitungsausschnitten, schlug eine andere Seite auf und reichte Bryan und Pookie das Buch.
Bryan notierte sich das Datum – 5. Mai 1969. Die Überschrift lautete: WAH CHING MASSAKER. Direkt darunter befand sich ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto, das drei Tote unter weißen, von schwarzen Flecken bedeckten Laken zeigte.
Das Schwarze war Blut, und man sah viel davon.
Auf einer Wand hinter den Leichen erkannte Bryan das leicht verschwommene Symbol – den Kreis und das Dreieck vom Mord an Oscar Woody, das Symbol vom Mord an Jay Parlar, das Symbol aus seinen Träumen.
Was zum Teufel sollte er damit anfangen?
Biz-Nass nahm das Album, klappte es zu und stellte es wieder ins Regal. Er ging zurück auf seinen Thron und setzte sich. ICH HABE IHNEN DIE INFORMATIONEN GEGEBEN. DAS WAR’S.
»Wir brauchen mehr«, sagte Bryan. »Wir brauchen mehr.«
Biz-Nass schüttelte den Kopf. ICH KANN NICHT. ICH KANN IHNEN NICHT MEHR SCHISSEIER! GEBEN ALS SIE SCHON KACKSCHNÜFFLER! HABEN.
Der Mann hatte ihnen tatsächlich viel gesagt, doch jetzt war die Angst in seine Augen zurückgekehrt. Wovor fürchtete er sich? Bryan sah hinüber zu Pookie.
»Biz-Baby, das war großartig«, sagte Pookie. »Sie haben uns jede Menge gegeben, und wir danken Ihnen dafür.«
Biz-Nass nickte.
»Es gibt da noch eine Sache, die wir gern wüssten«, sagte Pookie, »und das ist wirklich keine große Sache. Sie haben doch recherchiert. Ich wette, Sie wissen, was diese Symbole bedeuten.«
Biz-Nass dachte einen Augenblick nach. Dann beugte er sich vor und betrachtete sorgfältig die Fotos auf seinem Tisch. Während er antwortete, deutete er mit seinem rechten Zeigefinger auf einzelne Teile des Symbols.
Er begann mit der gekrümmten Linie, die wie ein Schnitt wirkte und auf beiden Zeichnungen zu erkennen war.
MMMM DAS IST EIN ZEICHEN FÜR DIE SAN FRANCISCO BAY. DIE BEIDEN LINIEN STELLEN DEN ZUGANG ZUM OZEAN ZWISCHEN DEN BEIDEN HALBINSELN DAR.
Er deutete auf den Teil des Symbols, der sich wie ein Blitz durch den Kreis zog, sowie auf die beiden Halbkreise rechts und links.
DER INNERE KREIS STELLT DAS EI DAR, AUS DEM DIE HEXEN HERVORGINGEN …
(ein Mutterleib) schoss es Bryan durch den Kopf
… UND DIE HALBKREISE WAREN EINST ARME, DIE SICH ZUM SCHUTZ UM DAS EI SCHLOSSEN. IRGENDWANN IM LAUFE DER ZEIT WURDE IHRE DARSTELLUNG VEREINFACHT UND STILISIERT. DIE GEZACKTE LINIE STEHT FÜR DAS MENSCHLICHE BLUT. DAS IST DAS SYMBOL VON MARIES KINDERN.
Bryan beugte sich vor. »Also bedeutet das Symbol an den Tatorten, dass Maries Kinder die beiden Jugendlichen umgebracht haben?«
GENAU DAS BEDEUTET ES.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Pookie erneut. »Die Jungen waren Mitglieder einer unbedeutenden Gang. Warum sollten Maries Kinder etwas gegen sie haben?«
Mr. Biz-Nass zuckte mit den Schultern.
»Wir glauben, dass die Killer möglicherweise Masken getragen haben«, sagte Pookie. »Dass sie irgendwie kostümiert waren. Klingelt da etwas bei Ihnen?«
ANGEBLICH HABEN SICH MARIES KINDER ALS MONSTER VERKLEIDET, UM IHRE OPFER IN PANIK ZU VERSETZEN, BEVOR SIE SIE UMBRACHTEN.
»Ich wusste es!«, sagte Pookie. »Hast du das gehört, Bryan?«
Bryan schwieg. Eine Verkleidung konnte erklären, was er in seinen Träumen gesehen und was Tiffany beobachtet hatte. Aber wie passte das zu Robins Untersuchungsergebnissen?
Pookie hob das Foto mit dem Blitz-Symbol hoch. »Biz, sind Sie sicher, dass das das Werk von Maries Kindern ist? Könnte es sich nicht um eine Fälschung handeln?«
ICH BIN MIR SEHR SICHER. ABER VIELLEICHT WAR ES AUCH JEMAND, SCHISSEIER!, DER NUR GLAUBT, ZU MARIES KINDERN ZU GEHÖREN.
Bryan berührte das Bild mit dem Dreiecksymbol, das den Wahrsager so sehr in Panik versetzt hatte, als handelte es sich um die vergrößerte Aufnahme einer Spinne, die jeden Augenblick zum Leben erwachen und ihn beißen könnte. »Und was ist damit?«
MMM DER ERSTE NACHWEIS STAMMT AUS DEM JAHR 1892. AUCH DIESER KREIS STELLT EIN EI DAR, DOCH GLEICHZEITIG STEHT ER FÜR DAS AUGE EINES JÄGERS. DAS UNVOLLENDETE DREIECK IST EIN SCHUTZSYMBOL GEGEN DIE DÄMONEN, DIE JAGD AUF MARIES KINDER MACHEN.
»Dämonen?«, sagte Pookie.
DIE ERLÖSER. ES IST EIN SCHUTZSYMBOL GEGEN DIE ERLÖSER.
Bryan erinnerte sich an die Angst in seinen Träumen. Er fühlte sie sogar in diesem Augenblick. Sie war wie eine kalte Faust unter seinem Herzen. »Sieh mal einer an. Die Killer haben selbst so etwas wie einen Schwarzen Mann.«
ICH HABE IHNEN GEHOLFEN, ABER JETZT SOLLTEN SIE GEHEN.
Bryan wollte noch etwas fragen, doch bevor er dazu kam, schüttelte Pookie dem Wahrsager die Hand.
»Biz-Baby, Sie sind ein guter Mensch«, sagte Pookie. »Was ist, wenn wir zu einem späteren Zeitpunkt noch einige Fragen haben?«
Biz zögerte. Dann zog er eine Visitenkarte aus seiner Tasche und reichte sie Pookie. Es stand nichts darauf außer einer Nummer.
DIE GEHÖRT ZU EINEM PREPAID-HANDY, DAS SICH NICHT ZU MIR ZURÜCKVERFOLGEN LÄSST.
»Ein Prepaid-Handy?«, sagte Bryan. »Was sind Sie? Ein Drogendealer?«
DIESES HANDY IST FÜR DIE GANZ BESONDEREN ANRUFE. ES KOMMEN JEDE MENGE EINSAME HAUSFRAUEN ZU MIR, UM SICH DIE ZUKUNFT VORHERSAGEN ZU LASSEN; WENN SIE PIMMEL-SCHWANZ-KACK-LUTSCHER VERSTEHEN, WAS ICH MEINE.
Pookie nickte anerkennend. »Ein Spieler muss spielen, Biz, ein Spieler muss spielen. Nochmals vielen Dank. Wir bleiben in Verbindung. Bryan, ich denke, wir machen uns auf den Weg.«
Rasch ging Pookie zur Tür und hielt sie auf. Bryan zögerte, während er diesen Scharlatan anstarrte, der sie beide mit echten Informationen versorgt hatte. Er wusste, dass Biz ihnen noch mehr sagen konnte, aber vielleicht hatte Pookie recht, und mehr als das, was sie inzwischen hatten, würden sie heute nicht mehr bekommen.
Bryan ging durch die Tür und folgte der Treppe nach unten auf die Columbus Avenue.
Bryan sah zu, wie Pookie die Kante seiner Gabel in sein zweites Stück gelben Sacripantina-Kuchens drückte. Er schob die Gabel in den Mund und kaute dann summend.
»Das ist so gut«, sagte er. »Es ist wie ein Twinkie auf Steroiden. Bist du sicher, dass du nicht auch ein Stück willst?«
Bryan bereute noch immer die Krakauer, die ihm wie ein saurer Backstein im Magen lagen. Er konnte den Zucker, den Teig und sogar das Zitronenaroma in Pookies Kuchen riechen. Ein einziger Bissen davon, und sein nervöser Magen würde rebellieren. Er schüttelte den Kopf. »Ich platze gleich, Pooks. Also, das war unsere beste Spur, und was haben wir wirklich in der Hand? Ein Hexenzirkel. Wie bitte? Killer im Auftrag des organisierten Verbrechens? Eine über hundert Jahre alte Vertuschungsaktion? Ich bitte dich!«
»Warum nicht? Es gibt einen Grund, warum Oscar und Jay umgebracht wurden. Okkulte Verbindungen sind als Spur so gut wie jede andere. Ich werde mir den Fall des Golden Gate Slasher vornehmen. Und mit der Formulierung Ich werde ihn mir vornehmen meine ich, dass ich Black Mister Burns darauf ansetze.«
»Gibt es eigentlich irgendeine Ermittlungsarbeit, die du selbst erledigst?«
»Ja«, sagte Pookie. »Ich ermittle die Bräute, die wirklich heiß sind. Moment mal. Da sitzt gerade eine am Tisch gegenüber. Bist du sicher, dass du keinen Kuchen möchtest?«
»Nein«, sagte Bryan. »Ich möchte keinen Kuchen. Ich möchte herausfinden, was hier vor sich geht.«
Pookie nickte langsam. »Wir klären das, Bryan. Diese Traum-Sache ergibt keinen Sinn, und ich weiß, wie sehr dir das zusetzt. Du musst trotzdem versuchen, dich zu entspannen, denn ich brauche dein Gehirn in funktionstüchtigem Zustand.«
»Ich will mich nicht entspannen.«
»Komm schon, hab Vertrauen zu Doktor Chang. Ging es dir besser, nachdem du bei deinem Dad warst?«
Ja. Ehrlich gesagt fühlte ich mich wieder geistig gesund.
»Nein«, sagte Bryan. »Überhaupt nicht.«
»V-L-D-L-E. Hör zu, Mann. Wenn es sich wirklich um eine Vertuschungsaktion handelt und die Polizeiführung darin verwickelt ist, dann weißt du, dass wir von nun an vorsichtiger vorgehen müssen. Geduld, Daniel-San.«
Geduld? Pookie hatte leicht reden. Und doch war Geduld genau das, was sie brauchten. Bryan war ein Jäger. Wenn er jetzt die Nerven verlor, würde er die Beute aufscheuchen.
Jemand war für all diese Dinge verantwortlich.
Bryan würde nicht ruhen, bis er herausfand, wer das war.