Der weisse Raum

Warm.

Mollig warm. Decken. Weiche Decken, trockene Decken. Saubere Kleider, die über seine Haut glitten, als er sich herumrollte – Haut, die saubergeschrubbt worden war, sodass zum ersten Mal seit Monaten kein Schmutz, keine Schmierflecken und kein Schweiß mehr daran klebten.

Wieder rollte er sich herum … und hörte ein metallisches Rasseln.

Aggie James blinzelte ein paarmal, während er erwachte. Trug er einen … Pyjama? Schlagartig erinnerte er sich an das Bett seiner Kindheit in Detroit und daran, wie ihn seine Mutter mit liebevollen Worten und sanften Umarmungen geweckt hatte, während der Geruch nach Pfannkuchen das kleine Haus erfüllte. Doch hier roch es nicht nach Pfannkuchen.

Es roch nach Farbe. Es roch nach Bleichmitteln.

Er lag auf der Seite, auf einer Matratze, die so dünn war, dass er den harten Boden darunter fühlen konnte, gleich neben ein paar zusammengeknüllten Decken. Die Welt schien sich zu bewegen, schien auf und ab zu wogen, doch er wusste aus langer Erfahrung, dass das Heroin daran schuld war. Blinzelnd öffnete er die Augen. Er war noch immer mehr als nur ein wenig high.

Geschah das alles wirklich?

Nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt befand sich eine Wand aus zerbrochenen Backsteinen und abgerundeten Natursteinen, die von einer dicken, augenscheinlich wieder und wieder und wieder aufgetragenen Schicht strahlend weißen Einbrennlacks bedeckt war.

Etwas Schweres hing um seinen Hals.

Aggies Hände schossen nach oben und ertasteten eine flache, ringförmige Halsfessel aus Metall. Die obere und untere Kante waren abgerundet, sodass sie sich nicht in seine Haut grub. Er hatte einige Mühe, einen Finger zwischen die Fessel und seinen Hals zu schieben, doch als es ihm schließlich gelang, konnte er fühlen, dass sich an der Innenseite des Rings ein weicher Lederstreifen befand, der seinen Hals wie ein Kissen vor dem Metall schützte.

Noch mehr metallisches Rasseln.

Er fasste sich in den Nacken und entdeckte eine Kette.

Er setzte sich auf und zog die Kette nach vorn, damit er sie sehen konnte. Sie war aus Edelstahl, und in ihrem Schimmer, der an Chrom erinnerte, spiegelten sich die fluoreszierenden Deckenlichter. Jedes der etwa einen halben Zentimeter dicken Kettenglieder zeigte ihm ein winziges, verzerrtes Abbild seiner schwarzen Haut und seines schockierten Gesichts. Er folgte dem Lauf der Kette. Sie führte zu einem in die Wand eingelassenen Edelstahlring, der ein in die Steine gebohrtes Loch verkleidete.

Oh, Scheiße, bitte mach, dass das nur ein schlechter Trip ist.

»Ayúdenos«, sagte ein Mann.

Aggie drehte sich von der Wand weg und der Stimme des Mannes zu und sah eine Familie: ein kleiner Junge, der sich an seine Mutter klammerte; eine Mutter, die sich an ihren Jungen klammerte; ein Vater, der seine Arme um beide geschlungen hatte.

Die Frau und der Junge sahen entsetzt aus, während der Mann mit einem Blick vor sich hinstarrte, der jedem, der sich ihnen nähern würde, den Tod versprach. Schwarze Haare, hellbraune Haut. Sie schienen Mexikaner zu sein.

Alle drei trugen Pyjamas. Hellblaue Baumwolle für den Mann, fuchsienfarbene Seide für die Frau, rosaroter Flanell mit blauen Zeichentrick-Welpen für den Jungen. Die Kleider wirkten sauber, aber abgenutzt, wie die Kleider im Geschäft der Heilsarmee in der Sutter Street.

Genau wie bei Aggie schlossen sich jeweils bei jedem Mitglied der kleinen Familie ringförmige Fesseln aus Edelstahl um den Hals, deren Ketten zu Löchern in der Wand führten. Aggie stand auf und begann, langsam umherzugehen, während seine Kette klirrend über die Steine unter und hinter ihm schabte.

»Por favor, ayúdenos«, sagte der Mann. »Ayude a mi familia.«

»Ich spreche eure Bohnenfressersprache nicht«, sagte Aggie. »Sprichst du Englisch?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht sprechen.«

Das hatte Aggie sich gedacht. Blöde Ärsche. Kamen in sein Land, ohne die Sprache zu sprechen.

»Was soll das alles?«, fragte Aggie. »Warum zum Teufel sind wir hier?«

Wieder schüttelte der Mann den Kopf. »No entiendo, Señor.«

Aggie blickte sich um. Die Wände schimmerten. Und sie bewegten sich. Wegen des Stoffs, den er genommen hatte, war es schwierig, sich zu konzentrieren. Er konnte nicht sicher sein, ob das, was er sah, der Wirklichkeit entsprach, doch es schien, als habe der kreisförmige Raum eine gewölbte Decke – wie eine Art Kuppel. Sie hatte einen Durchmesser von etwa neun Metern; ihr höchster Punkt befand sich gut viereinhalb Meter über dem Boden. Der Boden sah aus wie die Wände: Natur- und Backsteine, die ein raues, flaches Muster bildeten und mit mehreren Schichten Emaillefarbe übermalt worden waren. Er kam sich vor wie in einem großen Iglu aus Stein.

In der gegenüberliegenden Wand des Raums befand sich eine Tür, die aus einem strahlend weißen Gitter bestand: die Tür zu einer Gefängniszelle.

Zehn Matratzen lagen auf dem Boden, jeweils eine pro kreisförmiger Vertiefung, die Aggie in den Wänden gezählt hatte. Einige dieser Löcher befanden sich näher am Boden. Sie waren für Kinder gedacht, wie Aggie sofort klar wurde. Aus vier der Löcher ragten Ketten, die zu Aggie und den Mitgliedern der mexikanischen Familie führten. Auf jeder Matratze lagen mehrere lose Decken. Genau wie die Kleider schienen auch die Decken aus zweiter Hand zu stammen. Doch alles – die Kleider, die Decken, die Matratzen, die Wände – sah sauber aus.

Genau in der Mitte des Raums befand sich am Boden ein Ring aus Edelstahl von etwa dreißig Zentimetern Durchmesser. Aggie sah, dass drei Rollen Klopapier darauf lagen. Sollte dieses Loch etwa die Toilette darstellen?

Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung, und Aggie wollte nichts als verschwinden. Es mochte ja sein, dass er als Penner auf der Straße hauste und sein scheinbar normales Leben viele Jahre zuvor nichts als eine Art Betrug gewesen war, doch was es bedeutete, wenn ein Schwarzer wie er eine metallene Halsfessel trug, an der eine Kette hing, war sogar ihm klar.

Die Frau begann zu weinen. Der kleine Junge sah sie an, fing ebenfalls zu weinen an und drückte seinen Kopf an ihre Brust.

Der Mann starrte Aggie immer noch an.

»Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht«, sagte Aggie. »Wenn du Hilfe suchst, frag jemand anderen.«

Aus den Wänden erklang ein metallisches Geräusch und hallte in dem kleinen Raum wider. Drei Köpfe drehten sich um: Aggie, der Mann und die Frau suchten nach der Quelle des Lärms. Nur der kleine Junge sah nicht auf. Das Geräusch verstummte und ertönte gleich darauf von Neuem. Aggie begriff, dass es aus den Löchern in der Wand kam.

Das Geräusch rasselnder Ketten. Aggie spürte, wie er an seiner Halsfessel nach hinten gerissen wurde. Er stolperte, fiel und schlug mit dem Ellbogen auf. Er bekam kaum noch Luft, als die Halsfessel gegen seinen Hals drückte und er über den harten, unebenen Boden geschleift wurde. Er streckte die Arme aus und versuchte, sich irgendwo festzuhalten, doch er erwischte nur die Decken, die in seinen Händen mitgeschleift wurden.

Die Frau rutschte über den Boden. Mit beiden Händen drückte sie das Kind gegen ihre Brust »Jesús nos ayuda!«

Der Mann versuchte, Widerstand zu leisten, doch die Kette zog ihn so mühelos in Richtung Wand wie die Frau.

Der kleine Junge schrie. Die Ketten zerrten ihn von seiner Mutter weg. Beide versuchten, sich gegenseitig festzuhalten, doch gegen die ununterbrochene mechanische Kraft waren sie machtlos.

Aggie spürte, wie sein Rücken gegen die Wand krachte und er mit der Halsfessel, die von unten gegen seinen Kiefer drückte und ihm fast die Luft abschnürte, an der Wand hochgezogen wurde. Er schaffte es gerade noch, von selbst aufzustehen, als die Kette die Halsfessel bis zur Vertiefung in der Wand zog, von wo sie sich schließlich mit dem unmissverständlichen Knallen von Metall auf Metall nicht mehr von der Stelle rührte. Das Zerren hörte auf. Fast panisch holte Aggie tief Luft. Dann packte er die Halsfessel und versuchte, sich nach vorn zu beugen, doch die Kette bewegte sich nicht.

Alle vier Gefangenen befanden sich in derselben prekären Lage. Ihre Halsfesseln lagen dicht an den in der Wand angebrachten, ringförmigen Stahlvertiefungen an. Hände wurden nach oben gerissen, Füße drückten sich gegen die weißen Wände, doch niemandem gelang es, sich zu befreien.

Sie alle standen da und warteten.

»Mama!«, kreischte der Junge, als er seine Stimme wiederfand. »Qué está pasando?«

»No sé«, antwortete sie. »Sea valiente. Le protegeré!«

Irgendwie begriff Aggie, was die letzten Worte bedeuteten. Sei tapfer. Ich werde dich beschützen.

Doch die Mutter konnte nichts tun. Sie war so machtlos wie der Junge.

Das Geräusch eines großen Schlüssels, der knirschend ein Metallschloss öffnete, ließ alle verstummen.

Die weiße Zellentür schwang auf.

Geschah das wirklich? Alles schien zu verschwimmen. Die Wände strahlten so weiß, wie das in der realen Welt unmöglich der Fall sein konnte. Ein schlechter Trip, ein schlechter Trip, mehr nicht. Ich habe einen schlechten Trip.

Als er sah, was durch die offene Zellentür kam, reagierte Aggie nur noch instinktiv. Es spielte keine Rolle, ob er breit war und träumte oder stocknüchtern. Er zog heftiger an seiner Fessel, als er es jemals für möglich gehalten hätte – so heftig, dass er sich fast selbst stranguliert hätte. Doch die Halsfessel rührte sich nicht.

Menschen in weißen Kapuzen und weißen Roben mit einem Seil als Gürtel. Nur waren es keine Menschen. Sie hatten die Gesichter von Monstern. Ein Schwein, ein Wolf, ein Tiger, ein Bär, ein Kobold. Verzerrtes, böses Lächeln. Vortretende blinzelnde Augen. Ein primitiver Teil in Aggies Seele schrie nach Erlösung. Schweinsgesicht trug eine über drei Meter lange Holzstange, deren Spitze aus einem Stahlhaken bestand.

Die fünf in Roben gekleideten Wesen gingen langsam auf den Jungen zu.

Der Junge ist ihr Kind, wie meine Tochter mein Kind war, mit einer Haut so weich wie geschmolzene Schokolade. Meine Tochter, bitte bringt meine Tochter nicht um …

Der Mexikaner schrie vor Wut. Aggie blinzelte, um die Erinnerung abzuschütteln. Es hatte ihn so große Mühe gekostet, diese Gedanken hinter sich zu lassen.

Auch die Frau schrie, doch was ihre Stimme verriet, war nicht Wut, sondern herzzerreißende Angst. Ihr Sohn tat es ihr nach, und die kindlich hohen Töne waren umso ergreifender in ihrem Entsetzen.

Der Junge sah sie auf sich zukommen. Er zuckte wie ein Epileptiker. Speichel und Blut rannen aus seinem Mund, und seine Augen waren so groß, dass Aggie sogar aus viereinhalb Metern Entfernung die vollkommen runde braune Iris erkennen konnte. Der Junge umklammerte seine Halsfessel so heftig, dass sich seine Fingernägel in seine weiche braune Haut gruben.

Noch immer stieß der Mann Drohungen aus, die Aggie nicht verstand. Seine Wutschreie hallten von den weißen Wänden wider.

Die Gestalten in den weißen Roben ignorierten ihn.

Sie blieben etwa einen Meter von dem Jungen entfernt stehen. Eines der Wesen zog eine Art Fernbedienung hervor und drückte auf einen Knopf. Die Kette des Jungen lockerte sich. Er stürmte nach vorn, doch nach nicht einmal anderthalb Metern straffte sich die Kette wieder, und seine Beine rutschten unter ihm weg. Der Junge fiel hart auf den Rücken. Schreiend, weinend und blutend rollte er sich auf Hände und Knie und versuchte aufzustehen, doch schon waren die fünf weißen Gestalten bei ihm. Hände, die in schwarzen Handschuhen steckten, schoben sich unter den weißen Ärmeln hervor, packten ihn und hielten ihn fest. Schweinsgesicht senkte die Holzstange und schob den Stahlhaken durch die Rückseite der Halsfessel des Jungen.

Die Gestalt mit der Fernbedienung drückte auf einen anderen Knopf. Die Kette des Jungen wurde völlig schlaff und rutschte aus der Wand. Rasselnd schlug sie auf dem Boden auf. Das eine Ende war noch immer mit der Halsfessel verbunden, das andere war lose.

Schweinsgesicht hielt die Stange fest in den Händen und ging auf die Tür zu, wobei der Junge über den Boden geschleift wurde. Die Kette rutschte wie eine tote Schlange hinter dem Jungen her. Ihre schlaffen Glieder klirrten über den Boden aus Natur- und Backsteinen.

Aggie wollte aufwachen, er wollte, verdammt noch mal, sofort aufwachen.

Die Mutter bettelte.

Der Vater tobte.

Die gekrümmten Finger des Jungen hinterließen dünne rote Streifen auf dem weißen Boden. Schweinsgesicht ging durch die Tür, wandte sich nach rechts und verschwand um eine Ecke. Der Junge wurde an der Stange hinter ihm hergezogen. Schließlich sah man nur noch die Kette, die mit einem letzten metallischen Klirren verschwand, als sie gegen die offene weiße Zellentür stieß.

Die anderen Monster verließen den Raum. Eine Gestalt nach der anderen bog um die Ecke und war nicht mehr zu sehen. Koboldgesicht war der Letzte. Er drehte sich um und zog die Zellentür hinter sich zu. Sie fiel mit einem metallischen Krachen ins Schloss, das leise verhallte, während die Mutter unaufhörlich weiterschrie.

Die Verborgenen
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