Ursprungsgeschichte

Bryan steuerte Pookies Buick. Er folgte dem pechschwarzen, im großen Stil umgebauten Dodge-Magnum-Kombi der Jessups. Das vorbeihuschende Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in der polierten Oberfläche des Magnum. Nie zuvor war Bryan auf die Idee gekommen, dass ein Kombi so elegant sein konnte. Angesichts des umgebauten Magnum jedoch würde jeder Möchtegern-Gangster grün vor Neid werden. Der Kombi rollte auf Rädern mit schwarzen Chromfelgen. Getönte Fenster verbargen das Innere. Der Transportbereich war voller Kästen mit Schubfächern, die die Heckklappe vor fremden Blicken verbarg. Bryan konnte sich nur ansatzweise vorstellen, welches Waffenarsenal das Team aus Großvater und Enkel im Heck des Wagens untergebracht hatte.

Seltsamerweise verhielt sich Adam hinter dem Steuer wie eine alte Dame: Er fuhr langsam, achtete auf jedes Schild und jede Ampel und ließ, wann immer es nötig war, den Leuten genügend Platz zum Überholen. Bryan wusste nicht viel über Autos, doch als er hinter dem Magnum herrollte, konnte sogar er das tiefe Gurgeln hören, das die ungenutzte Kraft des Motors verriet.

Der Magnum bog nach Süden auf die fünfspurige Potrero Avenue ab. Zweistöckige Gebäude und niedrige Bäume glitten rechts an Bryan vorüber. Jetzt lagen nur noch ein paar Blocks vor ihm. Er hatte Zeit für einen raschen Anruf. Er wählte, und sie meldete sich sofort.

»Hallo?«

Wie kam es nur, dass bereits der Klang ihrer Stimme genügte, damit er sich besser fühlte? »Hey.«

»Bryan, ist alles in Ordnung?«

»Klar. Hast du meine Nachricht bekommen?«

Sie hielt kurz inne. »Ja. Und ich danke dir dafür. Aber eine nette Notiz und eine Kanne Kaffee können das Wissen, dass mit dir alles okay ist, nicht ersetzen.«

»Ich bin okay.« Er wusste nicht, ob das der Wahrheit entsprach, aber es war wichtig, dass Robin genau das jetzt hörte. »Ich wollte mich nur bei dir melden.«

Sie schwieg. Er wartete. Vor ihm kam auf der linken Straßenseite das SFGH in Sicht.

»Robin, ich muss los. Es könnte sein, dass Erickson heute Nacht Probleme bekommt.«

»Vergiss ihn«, sagte sie. »Komm und hol mich ab. Dann verschwinden wir einfach.«

»Wovon redest du?«

»Da ist so viel Tod«, sagte sie. »Du und ich, wir beide könnten einfach fortgehen, Bryan. Wir setzen uns in meinen Wagen, suchen uns irgendeine Richtung aus, und los geht’s. Gemeinsam.«

Sie hatte Angst um ihn. Oder vielleicht hatte sie auch Angst vor dem, was er möglicherweise tun würde. Dieses Gefühl brach ihm das Herz, doch ihr Vorschlag kam nicht infrage.

»Robin, ich kann nicht.«

Sie seufzte. »Ich weiß. Ich hoffe nur, dass wir es nicht bereuen werden.« Wieder veränderte sich ihre Stimme. Hatte sie zunächst melancholisch geklungen, war der Ton jetzt geschäftsmäßig. »Hör zu. Ich habe versucht, herauszufinden, was mit dir passiert ist. Als Kind hattest du doch die üblichen Kratzer und Hautabschürfungen, stimmt’s?«

»Klar«, sagte er.

»Dass deine Verletzungen so schnell heilen, ist etwas völlig Neues?«

»Ja. Es war zwar schon immer so, dass ich ein kleines bisschen schneller gesund war als andere Menschen, doch so wie jetzt war es früher nie.«

»Das liegt daran, dass die Informationen auf deinem Zett-Chromosom unterdrückt wurden«, sagte sie. »Du hattest die entsprechende genetische Ausstattung zwar schon immer in dir, aber sie war nicht aktiv. Dein Körper hat nichts damit angefangen. Man könnte sagen, dass die Informationen auf dem Zett abgeschaltet waren.«

Das hörte sich unmöglich an. Wie konnte man abgeschaltete Körperteile besitzen? Doch er würde sich nicht mit einer Expertin streiten. »Und was hat sie dann angeschaltet?«

»Als du zu mir in die Gerichtsmedizin gekommen bist, warst du krank, stimmt’s? Wirklich krank – du hattest Glieder- und Brustschmerzen und so weiter?«

Er hatte sich schrecklich gefühlt: das Fieber, die hämmernden Kopfschmerzen, die Gliederschmerzen. »Ja, das war übel.«

»Eigentlich müssten wir Röntgenaufnahmen machen. Ich wette, dann würden wir dasselbe merkwürdige Organ finden, das wir auch in Schwarzbarts Körper entdeckt haben. Und ich wette, wir würden herausfinden, dass sich deine Knochen verändert haben oder eine solche Veränderung zumindest begonnen hat. Du warst krank, weil sich in deinem Körper eine massive physische Veränderung abgespielt hat. Die Frage ist: Wann hat diese Krankheit angefangen?«

In den letzten Tagen war so viel geschehen. Es kam ihm vor, als läge die Zeit, in der er nicht mit Erickson, Rex Deprovdechuk und den BoyCo-Jungs zu tun gehabt hatte, bereits eine Ewigkeit zurück. Oder mit Pater Paul …

… und das war der entscheidende Punkt. Das Dach, auf dem er etwas gerochen hatte, von dem ihm schwindlig geworden war.

»Ich bin an dem Tag krank geworden, an dem ich Pater Paul Maloneys Leiche gesehen habe.«

»Hat Maloneys Leiche nach Urin gerochen?«

Er nickte. »Ja. Nach Urin und etwas anderem, von dem ich nie herausbekommen habe, was es war. Kurz darauf fing ich an, mich beschissen zu fühlen.«

»Bryan, ich weiß, was mit dir passiert ist. Jedenfalls in groben Zügen. Wir sind sicher, dass der Mord an Paul Maloney etwas mit diesen merkwürdigen Symbolen zu tun hatte – genau wie der Tod von Oscar Woody. Wir wissen, dass die Mörder von Woody das Zett-Chromosom in sich trugen, also ist es nur logisch, wenn wir dasselbe von Maloneys Mörder annehmen. Ich bin ziemlich sicher, dass sich im Urin, der deine Zett-Chromosomen aktiviert hat, gewisse Hormone befunden haben, durch welche die dort codierten Informationen aktiviert wurden. Dieser ruhende Code, den du in dir hattest, hat nur auf ein Signal gewartet. Dieses Signal kam, und bum!, dein Körper hat eine Art chemisches Wettrennen gestartet.«

So etwas war Stoff für einen Comic – Bryan verfügte nicht nur über Selbstheilungs-, sondern offensichtlich auch über Superkräfte, und was war das auslösende Moment in seiner Ursprungsgeschichte? Ich habe Pisse gerochen. Nicht ganz so cool wie der Biss einer radioaktiven Spinne.

»Aber warum hat mein Zett so lange stillgehalten?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Robin. »Nach allem, was wir sonst gesehen haben, würde ich sagen, dass es sich um eine Art Strategie zum Schutz der Spezies handelt. Wenn jemand von deiner Art …«

»Von meiner Art? Ich bin keiner von denen.«

»Wissenschaftlich gesprochen schon. Spiel nicht den Hypersensiblen. Aber wie auch immer, vielleicht hat sich vor mehreren Zehntausend Jahren – nein, vor mehreren Hunderttausend Jahren –, und das würde einen völlig neuen Aspekt in der Primatenentwicklung bedeuten, weil …«

»Robin, ich bin fast bei der Klinik.« Auf der linken Straßenseite war der Gebäudekomplex des SFGH schon sehr nah. »Könntest du bitte zum entscheidenden Punkt kommen?«

»Tut mir leid. Ich vermute Folgendes: Wenn diese Gene vor langer Zeit bei einem isolierten Vertreter deiner Art aktiv wurden, brachten die normalen Menschen ihn möglicherweise um. Dadurch wäre es möglich, dass das Abschalten dieser Gene einen Überlebensvorteil bedeutete. Vielleicht haben sich die Gene in einer besonderen Weise weiterentwickelt – nämlich so, dass sie nur aktiv wurden, wenn mehrere Vertreter deiner Art in der Nähe waren. Ganz im Sinne von: Sicherheit durch Menge. Ständig aktiviert die Natur mithilfe von Hormonen und anderen Signalmechanismen unterdrückte genetische Informationen. Du selbst hast deinen Lebensweg als normaler Mensch mit unterdrückten Genen begonnen, bis dein Körper schließlich andere Vertreter deiner Art entdeckt hat, woraufhin deine latenten Gene aktiviert wurden.«

Er verstand kaum ein Viertel dessen, was sie sagte. Aber im Augenblick spielte das auch keine Rolle.

»Ich muss los«, sagte er.

»Hast du Pookie angerufen?«

Scheiße. Er hatte seinen Partner ebenso vergessen wie die Tatsache, dass er inzwischen schon seit vierundzwanzig Stunden Pookies Wagen benutzte.

»Nein, hab’ ich nicht. Kannst du ihn anrufen und ihm sagen, dass er den Buick vor dem Krankenhaus abholen kann?«

Sie schwieg einen kurzen Augenblick. »Bryan, er hat dich gestern den ganzen Tag lang gesucht. Er hat mich heute Morgen angerufen. Er ist ziemlich sauer, weil du ihm kein Lebenszeichen geschickt hast.«

Was Pookies gutes Recht war. Doch Bryan hatte im Moment so viel zu tun; er konnte sich nicht auch noch mit Pookies Enttäuschung beschäftigen.

»Hör zu, Robin, könntest du ihn bitte für mich anrufen, okay?«

»Okay«, sagte sie. »Ich liebe dich, Bryan.«

»Ich liebe dich auch.« Es war überraschend, wie viel leichter er diese Worte beim zweiten Mal sagen konnte. Er beendete die Verbindung.

Das San Francisco General Hospital bestand aus mehreren Gebäuden; im nördlichsten davon befand sich die psychiatrische Station, wo Erickson untergebracht worden war. Eine mannshohe Backsteinmauer, über der sich ein drei Meter hoher roter Zaun erhob, zog sich entlang des Bürgersteigs. Bryan war nicht sicher, ob der Zaun die Patienten fest- oder Eindringlinge fernhalten sollte.

Adam fuhr langsamer, machte dann eine rasche Wende und rollte auf einen freien Parkplatz unmittelbar vor der Twentieth. Bryan versuchte, ebenso rasch zu wenden und musste feststellen, dass der Buick nicht nur ein launisches Fahrzeug war, sondern Adam auch ein bei Weitem besserer Fahrer. Schließlich parkte Bryan direkt hinter dem Magnum. Die hintere Beifahrertür des Kombis öffnete sich. Alder stützte sich auf seinen Stock, während er langsam ausstieg. Bryan stieg ebenfalls aus und ging ihm entgegen.

»Warten Sie hier, Inspektor«, sagte Alder. »Ich werde mit Chief Zou sprechen und die Sache klären.«

»Sind Sie mit ihr befreundet?« Vielleicht konnte Alder ihm helfen, ein paar Sachen in Ordnung zu bringen und Pookie seinen Job wiederzubeschaffen.

»Ich habe sie seit achtundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen«, sagte Alder. »Und wir sind keineswegs befreundet. Adam? Los geht’s!«

Alders Stock klickte gegen den Bürgersteig, als er und Adam auf eine Öffnung in der Mauer zugingen, die zum Klinikkomplex führte.

Die Verborgenen
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