Die Morgennachrichten

Das Klingeln des Weckers riss Rex Deprovdechuk aus dem Schlaf. Er hatte einen großartigen Traum gehabt, der wunderbare Gefühle in ihm weckte; er versuchte, ihn einzufangen und ihn in seinem Gedächtnis zu bewahren, doch der Traum entglitt ihm, und Rex konnte sich nicht mehr daran erinnern, worum es gegangen war. Das angenehme Gefühl verschwand. Mattigkeit erfüllte ihn, und er hatte Schmerzen in der Brust.

Rex fühlte sich krank. Er wollte nur noch schlafen. Er wollte zwar ständig tagsüber schlafen – oft nickte er im Trigonometrieunterricht in der zweiten Stunde ein –, doch das, was er jetzt empfand, war anders. Er hatte schon seit Tagen Schmerzen. Seine Mutter ließ nicht zu, dass er zu Hause blieb. Mühsam schleppte er sich aus dem Bett, schneuzte sich in das Papiertaschentuch, das er schon letzte Nacht benutzt hatte, und schlurfte aus seinem winzigen Zimmer hinaus in den langen Flur.

Der Flur zog sich durch die ganze Wohnung. Links befand sich eine Wand, rechts gab es fünf Türen. An der Wand hingen alte gerahmte Fotos aus einer Zeit, an die er sich kaum noch erinnern konnte – Bilder von seinem Vater, Aufnahmen von ihm selbst, als er noch sehr klein gewesen war, und sogar Fotos von seiner lächelnden Mutter. Über diese Bilder war er sehr froh, denn im wahren Leben hatte er sie noch nie lächeln sehen.

Rex ging nach rechts zur Toilette. Der Raum war kaum größer als der Spülkasten des WC. Man konnte ihn streng genommen nicht als Badezimmer bezeichnen, denn außer der Toilette befand sich nur noch ein Waschbecken darin. Dagegen gab es eine Badewanne im Raum daneben – aber keine Toilette –, weshalb Rex diesen zweiten Raum die Dusche nannte.

Er verrichtete sein morgendliches Geschäft und wollte gerade in sein Zimmer zurückgehen, als er es hörte.

Eine Stimme aus dem Fernseher am anderen Ende des Flurs ließ ihn innehalten. Es lag nicht an der Stimme selbst, sondern an dem Namen, den sie ausgesprochen hatte – ein Name, der ebenso dem Traum angehörte, an den er sich nicht erinnerte, wie der Vergangenheit, die er nicht vergessen konnte. Er wischte sich mit der Hand über seine triefende Nase. Dann drehte er sich um und ging den Flur entlang an der Dusche vorbei in Richtung Wohnzimmer, das unmittelbar neben der Wohnungstür lag.

Leise betrat er das Zimmer. Seine Mutter Roberta saß in ihrem Sessel vor dem Fernseher. Der Schimmer des Bildschirms drang durch ihr drahtiges Haar und ließ die Silhouette ihres Schädels hervortreten.

Rex stand regungslos da und wartete darauf, den Namen wiederzuhören, denn er hatte von diesem Namen und von dem Mann, der ihn trug, geträumt. Und erst letzte Nacht, bevor er zu Bett ging, hatte er ein Bild dieses Mannes gemalt. Er musste sich verhört haben.

Doch er hatte sich nicht verhört.

»… Maloney war viele Jahre lang Pfarrer in der Cathedral of St. Mary of the Assumption in San Francisco gewesen, bevor er durch einen Missbrauchsskandal seine Stelle verloren hatte. Maloney hatte eine einjährige Haftstrafe hinter sich und war danach auf Bewährung freigekommen. Amy Zou, die Polizeichefin von San Francisco, sagte heute Morgen in einer Pressekonferenz, dass ihre Behörde im Augenblick daran arbeite, Informationen über den Mord an Maloney zusammenzutragen. Es sei jedoch noch zu früh, um Aussagen über die Motive des Täters zu machen.«

»Pater Maloney ist tot?«

Rex sagte das, ohne nachzudenken. Hätte er nachgedacht, hätte er sich schweigend zurückgezogen.

Roberta drehte sich um, wobei sie sich auf die Armlehne des Sessels stützte, um ihn anzusehen. Das Licht des Fernsehers schimmerte auf ihrem pockennarbigen Gesicht. Zwischen ihren mageren Fingern hing eine Zigarette. »Was machst du hier im Fernsehzimmer?«

»Oh, ich habe nur … ich habe den Namen von Pater Maloney gehört.«

Sie blinzelte. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte. Dann nickte sie fast unmerklich. »Ich erinnere mich an die Lügen, die du über ihn erzählt hast«, sagte sie. »Schmutzige, dreckige Lügen.«

Noch immer stand Rex vollkommen regungslos da. Er fragte sich, ob sie den Gürtel holen würde.

»Sieh zu, dass du in die Schule kommst«, sagte sie. »Hörst du mich?«

»Ja, Roberta.« Sie mochte es nicht, wenn er Mom oder Mutter zu ihr sagte. Als er klein war, hatte er sie so genannt, doch irgendwann nach dem Tod seines Vaters hatte sie verlangt, dass er damit aufhörte.

Rasch verließ Rex das Fernsehzimmer, bevor sie ihre Meinung möglicherweise ändern würde. Sobald sie ihn nicht mehr sehen konnte, rannte er durch den schmalen Flur in sein Zimmer. Darin befanden sich sein Bett, ein kleiner Fernseher mit einer Spielkonsole, ein Schrank und ein kleiner Schreibtisch samt Hocker – die vollständige Summe seiner Existenz. Er zog sich an und packte seinen Rucksack, wobei er darauf achtete, seine Notizen für den Englischkurs – er war im ersten Jahr auf der Highschool – vom Boden aufzuheben und mitzunehmen. Keine Zeit für eine Dusche. Er musste aus dem Haus sein, bevor Roberta ein Grund einfiel, sich über ihn zu ärgern. Er hoffte, dass er nicht nach Urin roch – irgendein Penner benutzte die Gasse vor Rex’ Fenster als Badezimmer. Aber eigentlich war das nicht so wichtig, denn manchmal ließ ihn Roberta ohnehin nicht duschen.

Bevor Rex das Zimmer verließ, griff er nach der Zeichnung, die auf seinem Schreibtisch lag. Er hatte sie letzte Nacht angefertigt. Das Bild zeigte einen viel größeren Rex, einen Rex mit muskulösen Armen und breiter Brust, der Pater Maloney mit bloßen Händen das linke Bein brach. Und jetzt war Pater Maloney tot. Es fühlte sich komisch an, die Zeichnung zu betrachten. Komisch und außerdem so, als hätte er etwas Unrechtes getan.

Rex legte die Zeichnung in die Schreibtischschublade. Er schloss die Schublade und musterte sie genau, um sicher zu sein, dass kein Stück des Papiers daraus hervorschaute.

Es wurde Zeit, sich auf den langen Weg zur Schule zu machen. Rex betete darum, nirgendwo den Schlägertypen von der BoyCo zu begegnen.

Pater Paul Maloney war tot, und das war kaum zu fassen. Vielleicht würde Rex es heute zur Schule und später wieder nach Hause schaffen, ohne dass irgendjemand ihn verprügelte. Vielleicht wurde der Tag ja immer besser.

Die Verborgenen
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072.html
part0073.html
part0074.html
part0075.html
part0076.html
part0077.html
part0078.html
part0079.html
part0080.html
part0081.html
part0082.html
part0083.html
part0084.html
part0085.html
part0086.html
part0087.html
part0088.html
part0089.html
part0090.html
part0091.html
part0092.html
part0093.html
part0094.html
part0095.html
part0096.html
part0097.html
part0098.html
part0099.html
part0100.html
part0101.html
part0102.html
part0103.html
part0104.html
part0105.html
part0106.html
part0107.html
part0108.html
part0109.html
part0110.html
part0111.html
part0112.html
part0113.html
part0114.html
part0115.html
part0116.html
part0117.html
part0118.html
part0119.html
part0120.html
part0121.html
part0122.html
part0123.html
part0124.html
part0125.html
part0126.html
part0127.html
part0128.html
part0129.html
part0130.html
part0131.html
part0132.html
part0133.html
part0134.html
part0135.html
part0136.html
part0137.html
part0138.html
part0139.html
part0140.html
part0141.html
part0142.html
part0143.html
part0144.html
part0145.html
part0146.html
part0147.html
part0148.html
part0149.html
part0150.html