Tards Aufgabe

Tard versuchte, sich über einige Dinge klar zu werden, doch alles war so verwirrend. Seine Haut juckte. Auf diesem Dach juckte sie immer. Doch er wagte es nicht, sich zu kratzen; er wagte es nicht einmal, sich zu bewegen, denn das Monster hatte das Haus verlassen.

Tards Aufgabe im Leben bestand darin, entsetzt zu sein. Jede Nacht. Jede einzelne Nacht beobachtete er, wie das Monster aus dem Haus kam und irgendwo draußen auf den Straßen verschwand. Tard wusste nie, wohin das Monster ging. Es war möglich, dass es irgendwo umkehrte und sich an Tard heranschlich. Dann wäre es zu spät, und Tard würde einen Pfeil, ein Messer oder eine Kugel in seinem Leib spüren.

Es gab nur etwa fünf Minuten, in denen Tard erleichtert aufatmen konnte, und das war, wenn das Monster durch die Hintertür des Hauses zurückkehrte. Doch selbst dieses Gefühl verschwand sehr schnell wieder, denn vielleicht verfügte das Monster in seinem Haus noch über eine weitere Tür, eine Geheimtür. Vielleicht schlüpfte es durch diese geheime Öffnung, umrundete den Block, kletterte an einem Gebäude hinauf und …

Tard schob den Gedanken mit Gewalt beiseite. Konzentriere dich. Du hast eine wichtige Aufgabe. Sly hatte das zu ihm gesagt. Wichtig und vertrackt. Eine Aufgabe wie für James Bond. Genauso wollte Tard sein – wie James Bond. Genauso souverän.

Tards Hände zitterten, als er langsam nach unten griff, um sein Handy aufzuheben. Er konnte es nicht am Körper tragen, nicht, wenn er sich versteckte, also legte er es üblicherweise einfach auf den Boden.

Er gab eine Nummer ein.

Sly antwortete beim zweiten Klingeln.

»Chamäleon«, sagte er, »wie läuft deine Mission?«

Chamäleon. So wollte Tard genannt werden, doch niemand nannte ihn so. Jedenfalls nicht, ohne zu lachen. Niemand außer Sly. Sly lachte nie.

»Sly, er hat das Haus verlassen.«

»Guter Mann«, sagte Sly. »Bleib auf dem Posten. Ruf mich an, wenn er wieder zurück ist.«

»Aber kann ich diesmal nicht mit euch kommen?«

»Du musst vor Ort bleiben«, sagte Sly. »Etwas Großartiges spielt sich ab, Chamäleon. Es geschieht heute Nacht. Wir müssen wissen, wann das Monster zurückkehrt. Wir schaffen das nicht ohne deinen tapferen Einsatz.«

Tard wollte mit Sly und den anderen losziehen. Er war traurig darüber, dass er das nicht konnte. Doch Sly hatte gesagt, dass Tards Aufgabe – das Beobachten – sehr wichtig war.

»Okay, Sly. Ich werde bleiben. Ich werde tapfer sein. Ist Marco inzwischen zurückgekommen?«

»Nein«, sagte Sly. »Wir glauben, dass das Monster ihn erwischt hat.«

Traurigkeit. Tard wollte weinen. Zuerst Beißer und jetzt Marco. Das Monster ermordete Menschen. Und Tard war ganz allein hier oben.

»Sly, ich habe Angst.«

»Bleib einfach da«, sagte Sly. »Wenn du dich vollkommen ruhig verhältst, wird das Monster dich nicht finden. Aber wenn du es nicht schaffst, auf deinem Posten zu bleiben … Was würde wohl passieren, wenn der Erstgeborene herausfindet, wo du in all diesen Nächten gewesen bist?«

Der Erstgeborene. Der Erstgeborene konnte dafür sorgen, dass man verschwand. Für immer. Und der Erstgeborene hatte gesagt, dass sich niemand dem Haus des Monsters nähern durfte.

»Glaubst du wirklich, dass er das herausfinden würde?«

»Nicht, wenn du ruhig an Ort und Stelle bleibst«, sagte Sly. »Ruf mich an, sobald das Monster zurückkommt.«

Sly beendete die Verbindung.

Langsam legte Tard das Handy zurück aufs Dach. Ganz langsam. Wenn man nicht wollte, dass das Monster einen in seinen Keller brachte, dann bewegte man sich am besten überhaupt nicht.

Die Angst vor dem Monster. Die Angst vor dem Erstgeborenen. Sie hatten keine Wahl, sie mussten nach draußen gehen, um jemanden zu finden, den niemand vermissen würde. Tard wollte mutig sein, damit Sly ihn mochte und er ein paar Freunde fand. Aber es gab so viele Dinge, an die er denken musste.

Sly hatte gesagt, dass nur die mutigsten von Maries Kindern das Monster beobachten durften. Das Monster hatte jeden umgebracht, der in die Nähe seines Hauses gekommen war. Viele Brüder und Schwestern hatten bereits versucht, das Monster zu töten – manchmal mit Pistolen und allen möglichen anderen Waffen. Doch nie war auch nur einer von ihnen zurückgekehrt. Deshalb war es bereits furchtbar gefährlich, das Haus auch nur zu beobachten. Aber wenn man das schaffte, wenn es einem gelang, das Haus wirklich im Auge zu behalten, dann, so hatte Sly gesagt, würde jeder wissen, wie mutig man war, und jeder würde einen mögen.

Das Problem war nur, dass Tard niemandem von seiner Aufgabe erzählen konnte, denn der Erstgeborene hatte verlangt, dass niemand sich dem Haus des Monsters näherte. Sly hatte allerdings gemeint, es sei schon in Ordnung, die Befehle des Erstgeborenen zu ignorieren, solange es niemand herausfand.

Eine Bewegung. Unten beim Haus des Monsters. An der Hintertür. Es war der Mann in Schwarz, der Mann, der früher in der Nacht mehrmals um den Block herumgegangen war. Wie aufregend! Tard verhielt sich absolut ruhig, denn das konnte er gut.

Tard beobachtete.

Die Verborgenen
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