Der Golden Gate Slasher
Die elektronischen Unterlagen des Departments über den Golden Gate Slasher waren bestenfalls teilweise erhalten. Das konnte John Smith kaum überraschen. Der Fall war so alt, dass die ursprünglichen Berichte auf Schreibmaschinen oder elektronisch unterstützten Schreibgeräten angefertigt worden waren, bevor das SFPD eine computerisierte Datenbank erhalten hatte.
Berichte, die so alt waren, musste man scannen oder per Hand in das System eingeben. Weil es aus der Zeit vor der Datenbank aber Hunderttausende von Fällen gab, waren nicht einmal alle besonders wichtigen Akten übertragen worden. Es gab zahllose Berichte, die im SFPD auch heute nur auf Papier existierten, das langsam verblasste, zerfiel und nach und nach in den Gefilden des historisch Unerreichbaren verschwand.
Auch das Internet gab nicht viel her. Zum Golden Gate Slasher gab es nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag. In einer Kultur, die von Mördern fasziniert war und die das Verbrechen feierte, war über diesen Serienkiller überraschend wenig berichtet worden.
Also war John ins Archiv gegangen, um sich die Originalunterlagen anzusehen. Eine weiße Pappschachtel in einem klimatisierten Raum war alles, was von einem der hässlichsten Sommer San Franciscos übrig geblieben war. Tatortberichte, Aufzeichnungen des Gerichtsmediziners, eine Aufstellung der Beweismittel … viele Informationen, auch wenn alles weit verstreut und unorganisiert zu sein schien.
Gut möglich, dass John vor seinem eigenen Schatten so viel Angst hatte, dass er den anderen keine echte Hilfe sein konnte, doch er würde sich nützlich machen, indem er sich durch diese Unterlagen grub.
Er hasste, was er geworden war. Vor langer Zeit in einem Märchenland war er einmal ein echter Polizist gewesen. Er war ein Mann gewesen. Jetzt war er eine Art besserer Sekretär. Jede Nacht schreckte er hoch, von kaltem Schweiß bedeckt. Nicht aus Albträumen, sondern aus Szenen, in denen sich die Ereignisse von früher wiederholten. Sie waren so real, dass er die entscheidenden Momente stets aufs Neue durchlebte.
Pookie war davon besessen gewesen, einen korrupten Cop namens Blake Johansson auffliegen zu lassen, der sich von Gangs dafür bezahlen ließ, bei bestimmten Fällen beide Augen zuzudrücken. Chief Zou hatte sie angewiesen, die Finger von Johansson zu lassen, doch Pookie gab keine Ruhe. Er wühlte weiter im Dreck und suchte nach Belastungsmaterial, um Johansson aus dem Verkehr zu ziehen. Auch John wollte, dass sie die Angelegenheit ruhen ließen, während sich die Abteilung für polizeiinterne Ermittlungen darum kümmerte, doch Pookie weigerte sich, seine eigenen Nachforschungen einzustellen. Und wie jeder gute Partner hatte John ihn bei jedem seiner Schritte begleitet.
Ein Tipp führte sie ins Tenderloin, wo sie einen Volltreffer landeten. Johansson nahm von Johnny Yee, dem Boss der Suey Singsa Tong, Geld entgegen. Doch Pookie überstürzte alles. Anstatt auf Verstärkung zu warten, wollte er den Zugriff selbst durchführen. Für einen kurzen Augenblick war Johansson von Pookies Aktion völlig überrascht, doch dieser Augenblick verging, und er zog seine Waffe. Pookie hätte ihn außer Gefecht setzen müssen, doch er tat es nicht. John sollte nie verstehen, warum Pookie in diesem Moment nicht den Abzug drückte. Hätte er es getan, wäre alles ganz anders gekommen.
Danach brach das Chaos aus. Johansson schoss, Pookie schoss, John schoss, und dann floh Johansson durch die Hintertür. Als John ihm folgte, wurde er von einer Kugel in den Bauch getroffen. Er sah den Schützen nicht, wusste nicht, wer der Schütze war, und hätte nicht einmal sagen können, ob es sich um Johansson handelte.
John kroch viereinhalb Meter weit, um hinter einem Mülleimer aus Plastik in Deckung zu gehen. Während er das tat, wurde er von einer zweiten Kugel getroffen, diesmal in die linke Wade. Pookie schrie auf. Eine Kugel hatte ihn im Oberschenkel erwischt. Er ging zu Boden und konnte John nicht zu Hilfe kommen.
Fünfzehn Minuten lang kauerte sich John Smith hinter dem Mülleimer zusammen, drückte seine Fäuste gegen die Bauchwunde, die ihm qualvolle Schmerzen bereitete, und versuchte, die Blutung zu stoppen. Während der ganzen Zeit wurde auf ihn geschossen. John versuchte, den Schützen zu entdecken, er musterte die Gebäude, die ihn umgaben, die Fenster, die Häuserecken, die Bäume, aber er sah niemanden. Und er musste erfahren, dass Plastik nicht gerade den besten Schutz vor Kugeln bietet.
Bryan Clauser war der Erste, der auf die Meldung Schusswechsel und Beamter verwundet reagiert hatte. Irgendwie gelang es Bryan, den Schützen zu entdecken, sogar sehr schnell, und nach wenigen Sekunden endete dieser neue Schusswechsel mit drei zusätzlichen Löchern in Blake Johansson: Zwei erschienen in seiner Brust und eines in seiner Stirn.
Seit jener Nacht war in Johns Leben nichts mehr wie zuvor. Er konnte nicht mehr nach draußen gehen, ohne in jedes Fenster und jede Tür zu starren; er war überzeugt, dass jeder Fremde eine Waffe mit sich führte, ihn beobachtete und nur darauf wartete, dass John in eine andere Richtung sah.
Die Psychoklempner konnten ihm nicht helfen. Er wusste, dass er verrückt war, aber dieses Wissen und die Fähigkeit, die Situation wieder in Ordnung zu bringen, waren zwei völlig verschiedene Dinge. Die unablässige, lähmende Furcht machte es ihm unmöglich, länger ein Cop zu sein.
Einige Monate später teilte Chief Zou ihn als Graffiti-Experten der Sondereinheit zur Bandenkriminalität zu. Er behielt seinen Rang und bekam dasselbe Gehalt, doch jetzt verbrachte er seine Tage mit der Arbeit am Computer, ohne die Sicherheit hinter den Wänden der Hall of Justice verlassen zu müssen. Chief Zou hatte sich um John in einer Zeit gekümmert, in der ihn viele hätten fallen lassen.
Er sah den Karton durch, der die Fallakten zum Golden Gate Slasher enthielt. Angesichts dessen, was er dabei für jeweils wenige Momente vor Augen hatte, war er erleichtert, dass er nichts mehr mit den Ermittlungen an einem Tatort zu tun hatte. Acht Kinder im Alter von sechs bis neun Jahren waren über einen Zeitraum von zehn Monaten hinweg ermordet worden, doch der Fall hatte nie so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie andere Serienkiller. Medien, die im ganzen Land verbreitet waren, berichteten kaum darüber.
Über die Gründe dieses Mangels an nationalem Interesse wollte John lieber nicht nachdenken, aber eines war offensichtlich: Alle getöteten Kinder hatten Minderheiten angehört. Sechs Schwarze, ein Asiate und ein Latino. Damals beschäftigten sich die Medien nicht mit Niggern, Schlitzaugen und öligen Bohnenfressern.
Nicht dass sich während der letzten dreißig Jahre allzu viel daran geändert hätte. Wenn John an einem beliebigen Wochentag die Kabelnachrichten einschaltete, konnte er sehen, wie diese negative Vorauswahl noch immer funktionierte. Ein hübsches weißes Mädchen war verschwunden? Monatelang Nachrichten in allen Bundesstaaten, die zeigten, wie wütende weiße Frauen mit zu viel Make-up in die Kameras schrien. Ein schwarzes Mädchen war verschwunden? Ein Bericht in einer Regionalzeitung auf Seite fünf, unter einer Anzeige für Doritos, sofern das Kind überhaupt erwähnt wurde.
John überflog die Zusammenfassung der forensischen Berichte.
»Heilige Scheiße«, sagte er leise. »Wie kann jemand nur so sein?«
Der Bericht erwähnte ein Detail, dass die Polizei erfolgreich aus den Zeitungen herausgehalten hatte: Die Leichen der Kinder waren teilweise gegessen worden.
Er dachte an den Ladyfinger-Killer. Sowohl der Slasher als auch Ladyfinger waren tot, zwischen den beiden Fällen lagen ein Jahrzehnt und zweitausend Meilen, und doch war bei beiden dasselbe Symbol aufgetaucht, und bei beiden spielte Kannibalismus eine Rolle.
Die forensischen Berichte im Slasher-Fall erwähnten Messer- und Gabelspuren an den kleinen Knochen der Kinder. Bei einigen Knochen gab es sogar Hinweise darauf, dass sie abgenagt worden waren. Allen acht Kindern hatte die Leber gefehlt. Die meisten Arme und Beine waren abgeschnitten worden, aber einige schienen abgebissen worden zu sein.
Die Bisswunden machten die Identifizierung möglich. Das SFPD hatte nachgewiesen, dass die rechten oberen Backenzähne des Slashers für Abdrücke auf den Knochen von vier Opfern verantwortlich waren. Dieses Detail erinnerte John an das, was Pookie über Oscar Woodys Leiche und die Abdrücke von zu weit auseinander stehenden Schneidezähnen gesagt hatte. John durchsuchte die Schachtel, bis er das Zahnschema des Täters gefunden hatte. Er war zwar kein Zahnarzt, aber die Aufnahmen schienen ein vollkommen normales Gebiss zu zeigen.
John legte den Inhalt der Schachtel zu fein säuberlichen Stapeln geordnet auf dem Tisch: Jeweils einen Stapel pro Kind und zusätzlich einen für den Killer. Der Tatortbericht über das Auffinden des Slashers fehlte, doch John fand die Seite, auf der das Ergebnis der Autopsie zusammengefasst wurde. Dieser Bericht – unterzeichnet von einem viel jüngeren Dr. Baldwin Metz – erklärte, dass der Täter Selbstmord begangen hatte, indem er sich mit einem Messer eine Stichwunde beibrachte, die zu einer Verletzung des Herzens führte. John sah die Schachtel noch einmal durch. Ja, da war nur die Zusammenfassung. Wo war der Rest des Autopsieberichts?
Rasch blätterte er noch einmal die Akten für jedes Opfer durch. Bei jedem Fall fehlten Informationen, besonders was die ursprünglichen Tatortbeschreibungen betraf, in denen sich Darstellungen der seltsamen Zeichnungen oder Symbole hätten befinden müssen. Gewiss, in jeder nur auf Papier existierenden Akte fehlten irgendwelche Informationen – aber dass es hier gerade diese waren?
Das hatte System.
John nahm sich noch einmal den Bericht über den Tod des Täters vor, so wenig es darüber auch gab. Vielleicht würde er die Namen der ermittelnden Beamten entdecken. Wenn sie noch lebten, könnte Pookie sie ausfindig machen und nach weiteren Einzelheiten befragen.
Er fand, was er gesucht hatte. Der Leiter der Spezialeinheit im Slasher-Fall war Francis Parkmeyer. Unmittelbar nachdem Pookie ihn über die Unterhaltung mit dem Wahrsager informiert hatte, hatte John den Namen überprüft. Parkmeyer war vor fünf Jahren gestorben. Hier gab es keine Spur mehr.
John sah die Namen der anderen Mitglieder der Einheit durch. Die meisten waren schon längst in Pension, wenn nicht gar tot.
Dann las er die letzten beiden Namen.
Er musste sie noch einmal lesen. Und ein drittes Mal.
»Hei-li-ge Schei-ße«, sagte er.
John begann, die Akten zusammenzupacken. Er musste dem San Francisco Chronicle einen Besuch abstatten. Angesichts des beklagenswerten Zustands der Polizeiunterlagen war das Zeitungsarchiv möglicherweise der einzige Ort, wo die Informationen zu finden waren, die Bryan und Pookie benötigten.