Blue Balls
Die Leute würden bald anfangen zu reden.
Das war bereits die zweite Nacht hintereinander, in der Pookie Bryan helfen musste, in seine Wohnung zu kommen. Es hatte seinen Partner mehr als nur ein bisschen erwischt. Pookie konnte sich kaum vorstellen, wie Bryan es geschafft hatte, bei den Treffen mit Biz-Nass und Zou den tapferen Soldaten zu spielen, der sich nichts anmerken ließ.
Drei Tage war es her, dass sich Bryan irgendetwas eingefangen hatte, doch Pookie fühlte sich immer noch völlig gesund. Anscheinend war die Grippeschutzimpfung doch zu etwas gut.
»Ich fühle mich beschissen«, sagte Bryan. »Ich möchte nicht schlafen. Ich möchte nicht mehr träumen.«
Aber Träume waren vielleicht ein notwendiges Übel, denn Schlaf war genau das, was Bryan brauchte. Ohne Erholungsphase würde er nicht viel länger durchhalten. Was auch immer er sich eingefangen hatte, es zehrte alle körperlichen Kräfte vollständig auf.
Wie ein zweieinhalb Meter hoher Sprung aus dem Stand, was, Pooks?
Nein, Pookie würde sich nicht schon wieder damit befassen. Was er glaubte gesehen zu haben, konnte nicht sein – und damit hatte es sich. Es war nichts weiter als eine Sinnestäuschung im Eifer des Gefechts gewesen.
Pookie lehnte Bryan an die Wand im Hausflur, während er dessen Wohnungstür öffnete. »Clauser, du bist ein echtes Genie, weißt du das?«
»Warum?«
Pookie half ihm in die Wohnung. »Weil ein dicker Chinese mit Chicagoer Akzent sich um dich kümmert, während du stattdessen eine kleine scharfe brünette Gerichtsmedizinerin haben könntest, die dich ins Bad setzt und deinen Körper mit einem Schwamm abschrubbt.«
»Ist das dein Ernst, Pooks? Du willst mir in so einem Augenblick wegen Robin in den Hintern treten?«
»Du und Robin, ihr beide seid füreinander bestimmt«, sagte Pookie. »Das ist pure Mathematik.«
»Du hasst Mathematik.«
»Dass ich sie hasse, macht sie nicht weniger exakt. Und vergiss nie den Ratschlag meines Großvaters: ›Du kannst deine Mathematiklehrerin befummeln, aber lass die Finger von der Mathematik.‹«
Bryan fiel auf sein Bett. Er blieb einen Moment lang liegen, dann setzte er sich auf. »Ich glaube nicht, dass dein Großvater das gesagt hat.«
»Na schön, aber irgendjemand schon. Vielleicht war ich es selbst.«
»Was für eine Überraschung.«
Bryan schob sich vom Bett. Seine Knie zitterten, und er wäre fast gestürzt.
»Bryan, leg dich hin.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht schlafen werde. Ich kann nicht, Pooks.«
Wenn Bryan nicht ein wenig Ruhe bekam, würden die Träume, Maries Kinder und die Morde keine Bedeutung mehr für ihn haben, denn er würde an Erschöpfung sterben. Pookie musste es schaffen, ihn zu überreden.
»Ich verrate dir etwas«, sagte Pookie. »Die schlimmen Träume kommen üblicherweise erst in den frühen Morgenstunden. Ich wecke dich um Mitternacht auf.«
Bryan starrte ihn aus tief in ihre Höhlen gesunkenen, blutunterlaufenen Augen an. Sein dunkelroter Bart hatte vor drei Tagen gerade eben noch gepflegt ausgesehen. Jetzt glich Bryan mehr und mehr Charles Manson; keine gute Assoziation, wenn man genauer darüber nachdachte.
»Mitternacht? Versprochen?«
»Ja«, sagte Pookie. »Und ich rühre mich nicht von der Stelle. Aber spiel bloß nicht den Schlafwandler, auch wenn wir beide wissen, dass du schon seit Jahren hinter mir her bist.«
Pookie drückte Bryan zurück aufs Bett. Ein verschwitzter Kopf senkte sich auf ein kühles Kissen. Pookie hatte sich auf Bryans Seite geschlagen. Er würde zu ihm halten, bis diese Sache zu Ende war.
»Ich werde auf dich aufpassen, Bruder«, sagte Pookie. »Ich werde dich nicht im Stich lassen.«
Bryan antwortete nicht.
»Bryan?«
Ein Schnarchen. Er war bereits eingeschlafen.
Pookie schaltete das Licht aus, trat in den Flur, in dem die Umzugskisten standen, und schloss die Schlafzimmertür. Eine weitere Nacht auf der Couch seines Freundes. Seit seiner Heirat hatte Pookie nicht mehr so oft auf einer Couch geschlafen.
Er schaltete Bryans Fernseher ein und sah sich die Lokalnachrichten an. Jay Parlars Tod war die Hauptmeldung. Der Nachrichtensprecher wirkte empört. Und die Reporterin vor Jays Haus hatte eine wirklich düstere Miene aufgesetzt. Reporter waren beschissene Vampire, die vom Blut anderer lebten.
Pookie schaltete den Fernseher ab und zog seine Jacke aus. Es wäre sicher kein Schaden, wenn er es sich bequem machte. Er holte sein Notizbuch aus seiner Jackentasche.
Die Situation war verrückt, sein Partner war völlig fertig, und es bestand durchaus die Möglichkeit, dass das San Francisco Police Department in eine mörderische Verschwörung verwickelt war, doch das bedeutete noch lange nicht, dass Pookie seine anderen lebenswichtigen Aufgaben vernachlässigen durfte.
»Blue Balls, Blue Balls, führt mich hinweg. In Hollywood geht es für die Bullen immer gut aus.«
Er begann, sich Notizen für seine Serienbibel zu machen, in der Hoffnung, dass die Arbeit ihn von allem anderen ablenken würde. Wenigstens für eine kurze Zeit.