Das Regelwerk

Robin Hudson überprüfte ihr Aussehen in der Stahltür des Kühlraums, hinter der die Leiche von Oscar Woody lag.

Ihr Spiegelbild war nicht gerade schmeichelhaft.

Big Max hatte recht – sie hatte Ringe unter den Augen. Sie war keine zwanzig mehr. Das Alter und die langen Arbeitsstunden forderten ihren Tribut.

Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr schwarzes Haar und entwirrte die einzelnen Strähnen, so gut sie konnte. Sie hatte seit sechs Monaten nicht mehr mit Bryan gesprochen, und dann würde er sie so zu Gesicht bekommen?

Aber warum kümmerte sie es überhaupt, wie sie in seinen Augen aussah? Er war ausgezogen und hatte seither nicht einmal mehr angerufen. Zwei Jahre lang hatten sie sich ihre Wohnung geteilt, und zuvor waren sie sechs Monate lang regelmäßig miteinander ausgegangen. Sie waren also zweieinhalb Jahre zusammen gewesen. Sie hatte nicht darauf gedrängt, dass er sie heiraten würde, obwohl sie einen Antrag ohne Nachzudenken angenommen hätte. Sie hatte nichts weiter gewollt, als die Worte Ich liebe dich zu hören.

Doch er hatte diese Worte nie gesagt. Während der ganzen Zeit, in der sie zusammen waren, hatte er sie nicht ein einziges Mal ausgesprochen.

Der zweite Jahrestag seines Einzugs bei ihr hatte ihr klargemacht, dass sie diese Worte von ihm hören musste. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Er liebte sie, das wusste sie. Er brauchte nur einen kleinen Schubs, das war alles. Etwas, das ihn dazu brachte, tief in sich selbst zu blicken und zu begreifen, was sie zusammen besaßen. Sie hatte es ihm einfach gemacht: Wenn er nicht sagen konnte, dass er sie liebte, dann liebte er sie nicht, und dann würde er gehen müssen.

Aber sogar angesichts dieses Ultimatums hatte er die Worte nicht ausgesprochen. Erst ganz am Ende begriff sie, dass sie ihre Bedürfnisse auf ihn projiziert hatte. Am liebsten hätte sie den letzten Streit vergessen. Wie sie geschrien und welche Dinge sie gesagt hatte; und wie er einfach ruhig und so gut wie stumm dagestanden und kaum ein Wort auf ihr wütendes Toben erwidert hatte. Bryan mit den kalten Augen. Der Terminator. Er hatte sie nicht geliebt. Verdammt, vielleicht war er nicht einmal fähig zu lieben.

Sie hatte ihm gesagt, dass er gehen sollte, und das hatte er getan. Anders als im Kino war er nicht zurückgekommen.

Wahrscheinlich vögelte er alles, was sich bewegte. Sie hätte dasselbe tun sollen, aber sie wollte einfach nicht. Auch nach sechs Monaten wollte sie nur ihn. Niemand hatte es je geschafft, dass sie sich so fühlte wie in seiner Nähe. Sie hatte Angst, dass das auch in Zukunft bei einem anderen Menschen nie so sein würde.

Die Tür der Gerichtsmedizin öffnete sich. Bryan Clauser und Pookie Chang kamen herein.

»Hey, Robin«, sagte Pookie. »Verdammt, Mädchen, du siehst sexy aus.«

»Klar. Ich hatte kaum vier Stunden Schlaf, aber Schmeichelei bringt einen weiter.«

Pookie grinste. »Ich bitte dich. Wenn ich wirklich in dein Höschen kommen wollte, würde ich dir ein paar dieser Weizenkekse von Bow Wow Meow mitbringen, die Emma so mag.«

»Ja, das würde wahrscheinlich funktionieren.«

Pookie griff in seine Tasche und zog einen wiederverschließbaren Beutel heraus, der mit dicken Keksen gefüllt war. »Ta-daa! Da haben wir sie, Schätzchen, und jetzt zieh schon mal deinen BH aus.«

Sie lachte und nahm den Beutel. »Was? Du trägst die Lieblingsleckereien meiner Hündin mit dir herum?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich wusste, dass ich dich früher oder später sehen würde. Ich hatte sie im Auto.«

»Pookie, wie schaffst du es nur, dich an solche Dinge zu erinnern?«

Er deutete auf seinen Kopf. »Da drin schwimmen jede Menge nutzlose Informationen herum.«

»Na schön. Ich danke dir, und Emma ebenso.« Sie schob den Beutel in ihre Tasche.

Robin wandte sich ihrem früheren Geliebten zu. »Bryan.«

Er nickte knapp. »Robin.«

Das war es also. Kein Mein Gott, tut das gut, dich zu sehen oder Ich hoffe, es geht dir gut, nur ein einfaches Robin. Etwas an seiner Stirn fiel ihr auf.

»Du wurdest genäht? Was ist passiert?«

»Ich bin in der Dusche gestürzt«, sagte Bryan.

Er würde sich den Bart stutzen müssen, und er sah so müde aus. Was ihr auffiel, waren nicht so sehr die Schatten unter seinen Augen als vielmehr seine Blässe. Er wirkte … verloren. Was hatte er nur durchgemacht?

Bryan hatte schon immer etwas ausgestrahlt, das sie nie hatte definieren, aber auch nie hatte ignorieren können, und obwohl er krank aussah, brannte dieses Etwas noch immer heiß in ihm. Sie fühlte sich noch genauso von ihm angezogen wie früher.

Sie starrte ihn an. Er erwiderte ihren Blick mit seinen schönen, distanzierten grünen Augen.

»Jungs und Mädels«, sagte Pookie, »ich weiß, dass da noch vieles im Hintergrund ist, was ihr beide aufarbeiten müsst, aber können wir die schmachtenden Blicke vielleicht auf später verschieben? Wir sind hier nicht in einem Roman von Joan Wilder, wenn ihr versteht, was ich meine.«

Robin wandte den Blick von Bryan ab und drehte sich wieder zu Pookie um. Pookie lächelte entschuldigend, aber er hatte recht. Es war nicht der richtige Augenblick, um mit ihrem Ex Wer leidet heftiger zu spielen.

»Okay«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich die ganzen Informationen Rich und Bobby überlassen sollte, aber es ist verrückt. Es scheint, als sei Rich an dem Fall nicht wirklich interessiert. Bobby schon, glaube ich, aber Rich hat das Sagen. Was ich herausgefunden habe, ist eine ziemlich große Sache. Da ihr beide die Leichen entdeckt habt, wollt ihr vielleicht auch darüber Bescheid wissen, dachte ich. Aber könntet ihr das bitte vertraulich behandeln? Chief Zou hat mich gebeten, mit niemandem über den Fall zu sprechen. Wenn sie herausfindet, dass ich es doch getan habe, könnte das meine Kandidatur als Leitende Gerichtsmedizinerin gefährden.«

Beide Männer nickten. Pookie verriegelte pantomimisch seinen Mund mit einem Schloss und warf den imaginären Schlüssel hinter sich. Vielleicht war Bryan nicht der beste Lebenspartner der Welt, aber er stand zu seinem Wort, und das galt auch für den unkorrigierbaren Mr. Chang.

Robin ging mit den beiden zu ihrem Schreibtisch und rief das Karyogramm auf ihren Computer.

»Wir haben Proben isoliert, die wir an der Leiche von Oscar Woody sichergestellt haben«, sagte sie. »Ich bin zu neunundneunzig Prozent sicher, dass all diese Proben von einer einzigen Person stammen, was bedeutet, dass es in Oscars Fall nur einen Täter gibt. In der DNA des Killers habe ich Hinweise auf ein zusätzliches X-Chromosom gefunden. Deswegen habe ich einen weiteren Test durchgeführt, in der Annahme, ein XXY zu entdecken. Stattdessen habe ich das hier gefunden.«

Sie deutete auf die untere Reihe des Karyogramms.

Bryan beugte sich so weit vor, dass seine Brust ihre rechte Schulter berührte. Er fühlte sich warm an.

Pookie beugte sich über ihre linke Schulter. »Ich erkenne dieses Y-Ding aus dem Biologieunterrricht, aber was ist das daneben?«

Robin zuckte mit den Schultern. »Ich nenne es ein Zett-Chromosom

»Was, zum Teufel, ist ein Zett?«

»Dasselbe wie der Buchstabe Z«, sagte Bryan. »Nur zahlt es höhere Steuern und besitzt eine Krankenversicherung, die alles abdeckt.«

»Ah«, sagte Pookie, »Kanada-Sprech.«

Alle starrten das merkwürdige Ergebnis an. Ein Y und etwas anderes; etwas, das bedeutend größer war. Ein X-Chromosom sah tatsächlich aus wie ein »X« – zwei sich überschneidende Linien, die einem jener Tiere ähnelten, die man aus verknoteten Luftballons bastelte. Das männliche Geschlechtschromosom »Y« zu nennen, erforderte allerdings etwas Fantasie, wenn Name und Form übereinstimmen sollten, denn es bestand aus zwei kurzen, dicken Streifen, die sich an einem Punkt trafen, an dem sich eine winzige Kugel aus demselben Material befand.

Das neue Chromosom sah aus wie eine aus drei Würsten bestehende Kette. Weil diese Kette an den beiden Gelenken scharf abknickte, sah sie irgendwie nach einem »Z« aus. Vielleicht war Robin dieser Buchstabe aber auch nur deshalb zuerst eingefallen, weil sie schon seit Jahren mit X- und Y-Chromosomen arbeitete.

»Von so etwas hat noch nie jemand gehört«, sagte sie. »Zwar gibt es bei Vögeln und einigen Insekten ein Z-Chromosom, doch bei ihnen ist das eine Art kleiner Klecks, der nicht einmal wie ein Z aussieht. Deshalb nenne ich das hier Zett, um es davon zu unterscheiden. Das ist der genetische Code von Oscar Woodys Mörder. Es ist nicht einfach nur Zufall, sondern eine wahrhaftige chromosomale Abweichung.«

Pookie streckte sich und hob die Hand. »Frau Lehrerin, was zählt mehr, ein Zufall oder eine Abweichung? Oder mit anderen Worten: Wie bitte?«

»Ich will damit sagen, dass es sich nicht um einen zufälligen genetischen Schaden handelt«, antwortete Robin. »Es ist in jeder Zelle. Der Mörder wurde damit geboren.«

Pookie verschränkte die Arme. »Soll das heißen, dass wir es mit einem Mutanten mit fleischigem Kopf vom Planeten Sechs zu tun haben oder so?«

»Das vielleicht nicht, aber mit etwas Seltsamem«, erwiderte Robin. »Kommt mit. Es gibt noch etwas, das ich euch zeigen möchte.«

Sie führte die beiden zurück in den Kühlraum, in dem die Leichen lagen, öffnete eines der Fächer und zog die Trage heraus, auf der Oscar Woody lag. Robin zog Handschuhe an und deutete auf die parallelen Vertiefungen in Oscars zerfetztem Schulterblatt. »Die Abdrücke stammen anscheinend von Schneidezähnen, die neun Zentimeter voneinander entfernt sind. Der durchschnittliche Abstand bei einem erwachsenen Menschen beträgt zweieinhalb bis allenfalls fünf Zentimeter.«

Pookie sah auf. »Aber die Abdrücke stammen nicht von einem Menschen. Jimmy und Sammy haben gesagt, dass ein Hund dafür verantwortlich ist. Sie haben überall am Tatort Hundefell gefunden.«

Damit war der Augenblick gekommen, an dem Robin es aussprechen musste. Sie fragte sich, ob es genauso verrückt klingen würde, wenn sie es laut sagte, wie es sich in ihrem Kopf anhörte. »Das Fell war kein Fell. Die Haare stammen von einem Menschen. Ich habe so viele Proben untersucht, um überzeugt zu sein, dass überhaupt kein Tier am Tatort war.«

Pookie starrte sie an. Schließlich sah er wieder zu der Leiche. »Ein Mensch hat das getan?«

Robin holte tief Luft und atmete dann mit einem leisen Seufzen aus. »Ja. Genau das will ich damit sagen.«

»Der Typ müsste verdammt groß sein«, sagte Pookie. »Oder einen wirklich breiten Mund haben.«

»Oder beides«, sagte Bryan.

Pookie nickte. »Oder beides. Wahnsinn. Ich möchte deinen großartigen Intellekt nicht beleidigen, Bo-Bobbin, aber das nehme ich dir nicht ab. Du behauptest, der Killer ist groß, hat weit auseinanderstehende Schneidezähne, verfügt über so viel Kraft, dass er einem Menschen mit seinem Biss den Arm abreißen kann, und trägt ein verdammtes Fell?«

»Stell dir das mal vor«, sagte Bryan. »Da könnte jemand doch glatt behaupten, dass der Typ wie ein Werwolf aussieht.«

Pookie wirkte verstimmt. »Auch große Typen können sich verkleiden, Bri-Bri.«

Ein Schauder lief durch Bryans Körper. Er hustete heftig. Es hörte sich schrecklich an. Schließlich räusperte er sich, hob die Hand über Oscars Schulter und deutete mit Daumen und Zeigefinger den Abstand der parallelen Vertiefungen an. Dann führte Bryan die Hand vor sein eigenes Gesicht. Die Entfernung zwischen seinem Daumen und seinem Zeigefinger entsprach dem Abstand seiner Wangenknochen.

»Eine Verkleidung, bei der große, tödliche Zähne mit dazugehören? Ich bitte dich, Pooks.«

Wollte Bryan ernsthaft behaupten, dass ein Werwolf für die Tat verantwortlich war? Wie hoch war sein Fieber wirklich?

Pookie wandte sich an Robin. »Bist du sicher, dass die Abdrücke von Zähnen stammen? Könnten sie nicht von irgendeiner anderen Waffe herrühren?«

Sie nickte. »Vermutlich schon. Aber es müsste eine Waffe sein, die genauso wie die Kombination von Ober- und Unterkiefer wirkt.«

»Es gibt einen Namen für so eine Waffe«, sagte Pookie. »Sie nennt sich falsche Zähne. Etwas, das gut zu einem Monsterkostüm à la Hollywood passen würde.«

Bryan verdrehte die Augen und lachte. »Jetzt übertreibst du wirklich, Pooks. Außerdem kannst du einem Chromosom kein Kostüm anziehen. Du hast von einem Mutanten mit fleischigem Kopf gesprochen und das als Witz gemeint. Aber vielleicht ist es kein Witz.«

Robin kannte die beiden gut. Bryan war immer stolz darauf gewesen, besonders rational zu sein. Er glaubte nicht an Monster oder übernatürliche Dinge. Die Tatsache, dass sie über dieses Thema stritten, war absolut untypisch für ihn.

»Redet mit mir«, sagte Robin. »Was habt ihr beide gesehen?«

»Nichts«, antworteten Bryan und Pookie gleichzeitig.

So, die beiden würden sich ihr also nicht anvertrauen. Vielleicht waren sie wie Rich Verde der Ansicht, dass Robins Aufgabe darin bestand, Leichen zu untersuchen, und nicht darin, Verbrechen aufzuklären. Sie fragte sich, ob diese geheimen Informationen etwas mit Bryans elendem Aussehen zu tun hatten.

Robin schob Oscar auf seiner Trage zurück in sein Fach und schloss die Tür. Sie ging zurück an ihren Schreibtisch. Bryan und Pookie folgten ihr.

»Genau genommen hat Pookie recht«, sagte sie. »Wir suchen wirklich nach einer Mutation. Der Täter könnte weitere körperliche Deformationen aufweisen. Das kann niemand wissen.«

Sie setzte sich auf ihren Stuhl. Wieder standen die beiden Männer links und rechts neben ihr und betrachteten das merkwürdige Bild eines neuen Chromosoms.

»Hey, Robin«, sagte Bryan. »Warum hat das Zett-Chromosom zwei Gelenkdinger? Das X- und das Y-Chromosom haben nur eins.«

Er deutete auf eine der gelenkartigen Verbindungen zwischen zwei der dickeren Teile des Zett.

»Gelenkdinger?«, sagte sie. »Oh, das ist ein Zentromer. Ein Chromosom kann keine zwei Zentro…«

Plötzlich bemerkte auch sie, was Bryan aufgefallen war.

»Jesus«, sagte sie. »Wie konnte ich das nur übersehen?« Bryan besaß keine wissenschaftliche Ausbildung, aber er war ein ausgezeichneter Beobachter. Ein offensichtlich weitaus besserer Beobachter als sie.

»Was übersehen?«, fragte Pookie. »Na schön, ich gebe zu, dass ich nur deshalb in Biologie eine Eins bekommen habe, weil ich es mit der Lehrerin getrieben habe. Klär mich auf, Bo-Bobbin.«

»Chromosomen bestehen aus zwei paarweise angeordneten Säulen, in denen sich dicht aufgerollt die DNA befindet«, sagte sie. »Jede dieser Säulen wird als Chromatid bezeichnet und stellt eine Kopie des Chromosoms eines Elternteils dar. Das Zentromer ist die Stelle, an der sich die beiden Streifen treffen, wo sie miteinander verschmelzen.«

Pookie deutete auf den Bildschirm. Die Spitze seines Zeigefingers schwebte direkt über dem Zentrum des Y-Chromosoms.

»Also diese Stelle«, sagte er. »Oder der Punkt, an dem sich die beiden Balken des X schneiden. Das ist ein Zentromer?«

Sie nickte. »Genau. Wenn sich die Zelle nicht gerade teilt – und das war bei denen, die ich untersucht habe, nicht der Fall –, dann hat ein Chromosom nur ein Zentromer. Das Zett hat zwei. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Und auch sonst niemand. Nie.«

Sie verstummten. Alle drei starrten auf den Bildschirm.

»Ich mache von meinem Recht Gebrauch«, sagte Pookie schließlich. »Wenn es sich um eine neue Spezies handelt, werde ich ihr einen Namen geben.«

Robin lachte. »So funktioniert das nicht, Pooks.«

»Zu spät«, erwiderte er. »Ich habe schon einen Namen ausgesucht: Kackspechtikus WaszumTeufelistdas.«

Bryan nickte. »Das ist ein guter Name.«

Pookies Handy klingelte. Er zog es aus der Tasche und warf einen Blick auf die Nummer des Anrufers. »Es ist Chief Zou«, sagte er. »Ich bin gleich wieder zurück.« Er nahm das Gespräch an, während er aus dem Gebäude trat und Robin mit Bryan zurückließ.

Sobald Pookie nicht mehr im Raum war, wurde die Situation unbehaglich. Robin hatte Bryan monatelang gehasst, doch als er jetzt vor ihr stand, konnte sie diesen Hass nirgendwo mehr in sich finden.

»Wie geht’s dir so?«, fragte sie.

»Ich bin ziemlich beschäftigt. Der Ablamowicz-Fall. Und die Typen, die versucht haben, Frank Lanza umzubringen.«

Ja, die Schießerei. Bryan hatte ein weiteres Leben ausgelöscht. Sie hätte für ihn da sein, ihm helfen können, damit umzugehen. Aber anscheinend brauchte er ihre Hilfe nicht. Oder genauer: Er brauchte sie ganz allgemein nicht.

»Ja, Ablamowicz«, sagte sie. »Der Fall hat sich – wie lange? – ganze zwei Wochen hingezogen. Aber wie ist es dir in den letzten sechs Monaten ergangen, Bryan?«

Er zuckte mit den Schultern und sah weg. »Du weißt schon. Jede Menge Leichen. Nie ein langweiliger Moment bei der Mordkommission.«

Wollte er ihr auf diese Weise ausweichen? Nun, sie würde ihn nicht so schnell vom Haken lassen. »Bryan, warum hast du nicht angerufen?«

Er starrte sie wieder an. Sie wollte ein Gefühl in diesen Augen entdecken – Schmerz, Verlangen, Begehren, Scham –, doch sein Blick war so ausdruckslos wie immer.

»Du hast mir gesagt, dass ich ausziehen soll«, erwiderte er. »Du hast gesagt, dass ich dich nicht anrufen soll. Du hast dich unmissverständlich ausgedrückt.«

»Okay, aber sechs Monate? Du hättest wenigstens anrufen können, um zu hören, wie es mir geht.«

»Und dein eigenes Telefon ist kaputt? Ich weiß nicht mehr genau, auf welcher Seite des Regelwerks steht, dass Telefone nur funktionieren, wenn Männer sie benutzen.«

Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe. Sie wollte nicht weinen. Sie würde nicht weinen. »Du hast recht. Ich habe dir gesagt, dass du nicht anrufen sollst.«

Bryan zuckte mit den Schultern. »Es ist, wie es ist. Glaub mir oder glaub mir nicht, aber ich bin froh, dich zu sehen.« Er sah zu Boden und fügte leise hinzu: »Ich habe dich vermisst.«

Es tat weh, das zu hören. Wenn er sie eine dumme Schlampe genannt hätte, wäre das weniger schmerzhaft gewesen. Wie konnte er jemanden vermissen, den er nicht liebte? Seine Worte waren nett gemeint, aber sie trafen sie wie ein Stiefel in den Magen – ein Stiefel, von dem sie nicht genug bekommen konnte.

»Sag’s mir noch einmal«, forderte sie ihn auf.

Er sah hoch und zwang sich zu einem Lächeln. »Hör zu, ich bin froh, dich zu sehen. Aber ich mache im Augenblick ziemlich viele unangenehme Dinge durch. Können wir nicht einfach alles auf professioneller Ebene belassen?«

Seine Miene war noch immer so ausdruckslos wie eine geschlossene Muschel. Bryan hatte recht – es war, wie es war. Manche Dinge sollten einfach nicht sein, ganz egal, wie sehr man sie sich wünschte.

Sie nickte. »Klar. Professionell. Darf ich wenigstens erfahren, wie es deinem Dad geht?«

»Es geht ihm gut«, sagte Bryan. »Ich war heute Morgen bei ihm. Seltsam. Er hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich mit dir noch einmal neu anfange.«

»Und hältst du immer deine Versprechen?«

»Professionell, Robin.«

»Richtig. Entschuldige«, sagte sie. Wieder biss sie sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe. »Wenn ich noch irgendetwas herausfinde, soll ich dann Pookie anrufen oder dich?«

Er kniff die Augen zusammen, doch nur für einen kurzen Moment. Die Art, wie dabei auf seiner Haut kleine Fältchen erschienen, war so verdammt sexy. Verriet dieser Blick, dass Bryan verärgert war, oder war er gar verletzt? Nun, vielleicht steckte im Körper dieses Cyborgs ja doch irgendein Gefühl.

»Du kannst mich anrufen«, sagte er.

Pookie kam mit weit aufgerissenen Augen zurück. Er sah empört aus.

»Bist du okay?«, fragte Bryan.

»Ich werde noch mehr Geld in die Hersteller von Windeln investieren«, sagte Pookie. »Ich hoffe, sie haben Unterwäsche für Erwachsene mit mehr als einem Schließmuskel, denn Zou hat mir gerade eine zweite Öffnung in meinen Arsch gerissen. Wir müssen von hier verschwinden, Bri-Bri, und zwar schnell. Verde hat Zou erzählt, dass wir mit Tiffany Hine gesprochen haben. Zou hat den Eindruck, wir hätten ihre Anweisung ignoriert, uns aus dem Fall rauszuhalten.«

»Aber wir haben eine Leiche gefunden«, sagte Bryan. »Was hätten wir ihrer Ansicht nach tun sollen? Einen Schritt über den Toten hinweg machen und uns Donuts und Kaffee holen?«

Pookie nickte. »Vermutlich schon. Sie weiß, dass man uns mitgeteilt hat, Verde sei unterwegs, aber wir haben trotzdem weitergemacht, und jetzt ist sie mächtig sauer. Wenn sie herausfindet, dass wir hier sind, um uns Oscar anzusehen, überzieht sie unsere Eier mit Bronze und stellt sie auf ihren Schreibtisch neben die Bilder ihrer Familie.«

Robin wusste nicht viel über die internen Abläufe bei der Polizei, doch ihr war klar, dass hinter dieser Sache viel mehr stecken musste. Konnte Zou tatsächlich so nachdrücklich dagegen sein, dass Bryan und Pookie etwas mit dem Fall zu tun hatten?

Bryan knirschte mit den Zähnen. Frustration war ein Gefühl, das er sich nie zu verstecken bemühte. »Was jetzt?«, fragte er. »Geben wir den Hinweis auf den Wahrsager an Verde weiter?«

»Nein, verdammt noch mal«, sagte Pookie. »Ehrlich gesagt, ich habe gerade Mister Biz-Nass angerufen, und er erwartet uns in zwanzig Minuten. Hör zu, Robin, wir müssen los. Kein Wort über diesen Besuch, in Ordnung?«

»Natürlich«, antwortete Robin. »Wie ich schon gesagt habe: Ich hätte euch überhaupt nichts erzählen sollen.«

Pookie ging nach draußen. Bryan sah Robin einen langen Moment an, dann folgte er seinem Partner. Robin starrte ihm nach. Sie fing bereits an, alle möglichen Dinge in seine Worte hineinzulesen, und begann gleichzeitig, sich dafür zu hassen.

Die Verborgenen
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