Bryans Dosis Realität
Pookie ließ den Buick ausrollen. Meacham Place sah ruhig und verlassen aus. Hinter dem schwarzen Gittertor am Beginn der Gasse schien alles in Ordnung zu sein. Hier und da lag Müll auf dem rissigen Asphalt. Vier dürre Bäume säumten die rechte Seite der Gasse. Es war, als warteten sie auf die wenigen Stunden, in denen die Sonne genau über ihnen stehen würde, sodass das Licht zwischen den Gebäuden den Grund der Gasse erreichen würde.
Bryan starrte zu dem verlassenen, einstöckigen Gebäude auf der linken Seite hinüber. Farbflecken und Graffiti bedeckten die Bretter vor den drei Bogenfenstern einer ehemaligen Wäscherei. Gegenüber dieser städtischen Ruine befand sich auf der anderen Seite der Gasse ein schmales dreistöckiges Backsteingebäude. Es war gut in Schuss und so sauber, wie man es sich nur wünschen konnte. Verfall auf der einen Straßenseite, Eleganz auf der anderen – in San Francisco fand man so etwas oft.
An der vorderen Ecke des verlassenen Gebäudes, dort, wo der Bürgersteig unter dem schwarzen Gitter hindurch in die Gasse führte, wo er sich versteckt hatte unter
(der Tarndecke eines Jägers)
einer Decke, um Ausschau zu halten nach
(der Beute)
dem Jungen, der vorüberging.
Bryan kurbelte sein Fenster herunter und … roch es.
Von einer Brise getragen, wogte der satte, üppige Geruch aus der Gasse und strömte ihm in die Nase. Es war derselbe Geruch, von dem ihm auf dem Dach mit Paul Maloney und Polyester-Rich schwindlig geworden war.
Derselbe. Und doch einzigartig.
»Pooks, riechst du das?«
Er hörte Pookie neben sich schnüffeln. »Ich bin mir nicht sicher. Könnte es Urin sein?«
Ja, Urin. Aber es war auch noch etwas anderes.
Bryan sah hinüber zu den vier kümmerlichen Bäumen, die sich aus dem schmalen Bürgersteig erhoben. Unten an dem Baum, der am weitesten entfernt war, zwischen dem Stamm und dem Gebäude …
Eine Decke. Dunkel und zusammengeknüllt.
»Bri-Bri?«
Eine Decke, die etwas von der Größe eines Mannes verhüllte.
Eines erwachsenen Mannes oder eines großen Teenagers.
Nein. Es war ein Traum. Nur ein Traum.
Plötzlich hatte er wieder den Geschmack von Blut auf der Zunge. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen.
»Hey, ernsthaft«, sagte Pookie. »Bist du okay?«
Bryan antwortete nicht. Er stieg aus dem Wagen und ging auf das schwarze Gitter zu. Er umklammerte die dicken Stäbe wie ein Gefangener, der sich an seiner Zellentür festhielt. Die scharfen Spitzen der Gitterstäbe befanden sich gut einen Meter über seinem Kopf. Im Traum hatte ihn ein müheloser Sprung aus dem Stand über den Gitterzaun befördert, doch im Wachleben war das unmöglich.
Die dunkle Decke sah … feucht aus. Auf dem Bürgersteig ebenfalls feuchte Streifen. Auch die Backsteinmauer war feucht; sie zeigte Linien und Muster, Symbole und Wörter. Vage konnte er all diese Dinge erkennen, auch wenn er sie nur bruchstückhaft aus den Augenwinkeln sah, denn es gelang ihm nicht, seinen Blick von der Decke zu lösen.
Der Zaun knarrte, als Bryan darüber stieg.
Das Geräusch einer zufallenden Autotür.
»Bryan, antworte mir, Mann.«
Bryan ließ sich auf der anderen Seite zu Boden fallen. Er ging auf die Decke zu.
Hinter ihm knarrte der Zaun ein weiteres Mal. Dann das klatschende Geräusch von großen Schuhen, die auf dem Asphalt landeten.
»Bryan, das ist Blut. Es ist überall.«
Bryan antwortete nicht. Der Geruch war überwältigend.
»Es ist auf der Wand«, sagte Pookie. »Jesus, ich glaube, jemand hat mit Blut ein Bild direkt auf diese beschissene Wand gemalt.«
Bryan griff nach der Decke. Seine Finger schlossen sich um den Stoff. Den feuchten Stoff.
Er zog die Decke weg.
Eine verstümmelte Leiche. Der rechte Arm war ausgerissen worden. Unter dem Hals lag ein Stück des Schlüsselbeins frei. Jemand hatte den Bauch in Stücke geschnitten und die Därme herausgerissen und wieder zurückgestopft, als schaufelte er Erde in ein gerade ausgehobenes Loch. So viel Blut.
Und das Gesicht. Verquollen, aufgebläht. Ein fehlendes Auge. Der Kiefer zerschmettert. Selbst seine Mutter würde den Jungen nicht wiedererkennen.
Doch die Haare. Bryan erkannte die Haare.
Schwarz, gelockt, drahtig.
Links neben der Leiche eine weiße Baseballkappe mit Blutspritzern.
»Bryan.«
Wieder Pookies Stimme. Etwas in seinem Ton zwang Bryan, sich umzudrehen. Pookie starrte die verstümmelte Leiche an. Dann sah er zu Bryan hoch. Seine Miene verriet Fassungslosigkeit. Vielleicht stand er sogar unter Schock.
»Bryan, wie konntest du das wissen?«
Bryan hatte keine Antwort darauf. Der Uringestank war so heftig, dass sich ihm der Kopf drehte.
Pookies rechte Hand bewegte sich ein kleines Stück auf die linke Seite seines Mantels zu. »Bryan, warst du das?«
Bryan schüttelte den Kopf. »Nein. Absolut nicht, Mann. Du weißt, dass ich so etwas nicht tun könnte.«
Pookies Blick war vollkommen kalt. Sahen Kriminelle dieses Gesicht, wenn er sie festnahm? Pookie Chang, der immer so entspannt auftrat – und der schlagartig ernst wurde, wenn man aus beruflichen Gründen in sein Visier geriet.
»Komm raus aus der Gasse«, sagte Pookie. »Langsam. Und halte deine Hände schön weit weg von deiner Waffe.«
»Pooks, ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht …«
»Du hast gewusst, was hier los ist. Wie konntest du das wissen?«
Das war die Eine-Million-Dollar-Frage. Wollte Bryan die Antwort überhaupt wissen – vorausgesetzt, dass es eine gab?
»Ich hab’s dir doch erzählt«, sagte Bryan. »Ich hatte einen Traum.«
Pookie holte tief Luft. Dann nickte er. »Gut. Ein Traum. Wenn du das hier, aus welchem Grund auch immer, bei vollem Bewusstsein angerichtet hättest, dann hättest du mir nichts davon erzählt. Du hättest mich ganz sicher nicht zu dieser Leiche geführt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du gewusst hast, was hier los ist.«
»Pooks, ich …«
»Halt verdammt noch mal die Klappe, Bryan. Die Sache läuft folgendermaßen. Ich werde meinem Instinkt trauen und nicht meinen Augen. Du ziehst dich aus dieser Gasse zurück und bleibst solange draußen, bis ich dir sage, dass du dich wieder rühren kannst. Ich werde die Sache melden. Wir werden die Beweise aufnehmen und klären, ob irgendetwas auf dich deutet. In der Zwischenzeit sagst du niemandem auch nur ein Wort von deinen Träumen oder was auch immer. Ich werde warten und darum beten, dass mein bester Freund und Partner kein verdammter Mörder ist.«
Pookie verdächtigte ihn? Aber Pookie kannte ihn doch, kannte ihn besser als jeder andere.
»Das bin ich nicht«, sagte Bryan. »Ich bin kein Mörder.«
Pookie hob die Augenbrauen. »Ach ja? Bist du dir da so sicher?«
Bryan wollte antworten, doch es kam kein Wort aus seinem Mund.
Denn genau genommen war er überhaupt nicht sicher.