Bryan und Pookie treffen Aggie James
Noch waren sie nicht offiziell wieder im Polizeidienst, doch eine Spur war eine Spur. Von der bedeutungslosen Tatsache, dass er gefeuert worden war, würde sich Bryan nicht abhalten lassen, eine Spur zu verfolgen.
Sie hatten die Nachricht über Polizeifunk gehört: Ein Penner war in der Nähe des Civic Center aufgegriffen worden; ein Penner mit einem Baby. Der Mann war verletzt gewesen. Rettungssanitäter hatten ihn und das Baby ins SFGH gebracht. Als der Beamte, der die Festnahme durchgeführt hatte, Bericht erstattete, hatte er erklärt, die Decke des Babys sei bedeckt mit Kreisen und Zacken und so okkultem Zeug.
Ein Penner mit einem Baby. Mike Clauser hatte dasselbe erzählt.
Die meisten Cops im SFGH waren damit beschäftigt, für Ericksons Sicherheit zu sorgen. Deswegen – und wegen der zahllosen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem neuen Killer, dem Hand-Werker, sowie der Tatsache, dass Zou nicht da war, um alles zu organisieren – hatte im Augenblick niemand Bryan und Pookie besonders deutlich auf dem Radar.
Die beiden traten im zweiten Stock des Hauptgebäudes der Klinik aus dem Aufzug – weit entfernt vom Psychiatrie-Flügel. Hier war der verletzte Obdachlose untergebracht.
Bryan sah sich im Flur um. Es war nicht schwierig, das richtige Zimmer zu finden, denn ein uniformierter Beamter saß auf einem Stuhl davor.
»Scheiße«, sagte Bryan. »Pooks, glaubst du, dass du ihn bequatschen kannst, damit er uns reinlässt, oder ist die Macht nicht mehr mit dir angesichts dieses Mannes?«
Ein verächtliches Schnauben kam über Pookies Lippen. »Ich bitte dich, Alter. Erkennst du ihn nicht? Das ist Stuart Hood.«
Bryan erkannte Hood wieder. Er war der Beamte, der nach Jay Parlars Tod die erste Befragung von Tiffany Hine durchgeführt hatte.
»Komm«, sagte Pookie. »Ich quassle uns den Weg frei. Sehen wir mal, ob Papa seine magischen Fähigkeiten für immer verloren hat, oder ob die Sache mit den SWAT-Jungs einfach nur Pech war.«
Sie gingen los, doch nach nicht einmal zehn Schritten wurde Bryan langsamer und blieb schließlich stehen. Ein neuer Geruch. Ein schwacher, aber eindringlicher Geruch, der die üblichen Klinikgerüche nach Medizin und Desinfektionsmitteln überlagerte.
Bryan kannte diesen Geruch. Er glich dem in Rex Deprovdechuks Wohnung. Ähnlich, und doch auf subtile Weise einzigartig. Das Baby oder der Penner oder beide waren Zetts.
»Bryan«, sagte Pookie, »ist alles in Ordnung? Du wärst fast gestolpert.«
Bryan blinzelte und schüttelte den Kopf. »Ja, alles in Ordnung.« Er musste lernen, seine Reaktion auf diesen Geruch zu kontrollieren. Was würde geschehen, wenn er auf eine der Kellerkreaturen stieß und ihr Geruch seine Konzentration zerstörte? Unkonzentriert einer Gestalt wie dem Bärenwesen gegenüberzutreten, konnte Bryans Tod bedeuten.
Pookie legte Bryan die Hand auf die Schulter. »Bist du sicher?«
Bryan holte tief Luft und schüttelte energisch Kopf und Schultern. »Ja. Mir geht’s gut.«
Er folgte Pookie bis vor das Zimmer.
»Stuart Hood!«, sagte Pookie. »Schön, Sie wiederzusehen.«
Hood sah auf und lächelte Pookie breit an. »Inspektor Chang.«
»Nenn mich einfach Pookie. Hey, hast du gehört, dass Zou uns wieder eingestellt hat?«
Hood sah von Pookie zu Bryan und dann wieder zu Pookie. »Nein, habe ich nicht. Das sind großartige Neuigkeiten. Gratulation.«
»Danke«, sagte Pookie. »Und wir sind wieder an einem Fall dran, der mit dem zu tun hat, was Tiffany Hine gesehen hat. Erinnerst du dich an sie?«
»Die Dame mit dem Werwolf?«
Pookie schnippte mit den Fingern. »Genau.« Er beugte den Kopf in Richtung Tür. »Wissen wir, wer der Penner ist, der das Baby bei sich hatte?«
Hood nickte. »Die Fingerabdrücke wurden schon überprüft. Der Typ heißt Aggie James. Ein paar Anklagen wegen Besitzes einer geringen Menge Drogen, aber keine größeren Vorstrafen. Keine ständige Adresse. Zeugen behaupten, dass er aus einem U-Bahn-Tunnel gekommen ist. Die Ärzte meinen, dass er eine Gehirnerschütterung hat, aber es hört sich nicht nach etwas Größerem an.«
»Was ist mit dem Baby?«, sagte Bryan. »Ist es sein eigenes Kind?«
Hood zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das Baby wurde bis jetzt noch nicht identifiziert. Es liegt auf der Neugeborenenstation.«
Pookie zog seinen Notizblock aus der Tasche und skizzierte dasselbe Symbol aus Dreiecken und Kreisen, das Bryan zuerst gezeichnet hatte. Dann hielt er den Block so, dass Hood ihn sehen konnte.
»War dieses Symbol auf der Decke?«
Stuart Hood sah es sich an und nickte. »Ja. Die Decke hat er noch immer bei sich. Die Sanitäter haben ihn direkt hierhergebracht. Deswegen wurde auch noch keine Liste seiner persönlichen Besitztümer erstellt. Mir hat man gesagt, dass es um Kidnapping gehen könnte, also muss jemand da sein, der ihn im Auge behält.«
»Wir müssen in dieses Zimmer«, sagte Pookie. »Nur für ein paar Minuten. Hast du etwas dagegen?«
Stuart schüttelte den Kopf. Dann stand er auf und öffnete die Tür, sodass Bryan und Pookie hineingehen konnten. Im Zimmer lag ein Schwarzer in einem Klinikbett. Die Bettdecke reichte ihm bis zur Brust. Um den Kopf trug er einen weißen Verband, und seine linke Hand war mit einer Handschelle an den Bettrahmen gefesselt.
Bryan wartete auf das flatternde Gefühl in seiner Brust, doch es kam nicht. Der Mann im Bett war ein ganz gewöhnlicher Mensch.
An der Wand stand ein Rollwagen. Pookie ging hin und hob einen durchsichtigen Beutel hoch, wie er für Beweismittel verwendet wird. In ihm befand sich eine Decke. »Sie ist über und über mit Symbolen bedeckt«, sagte er. »Sieh dir das an.« Er warf sie Bryan zu.
Bryan fing sie auf. Obwohl sich die Decke unter einer Plastikschicht befand, war der Geruch fast überwältigend. Er stieg Bryan in den Kopf. Wie in Rex’ Wohnung löste der Geruch bei Bryan das Bedürfnis aus, irgendetwas zu tun; doch jetzt war dieser Drang hundert-, vielleicht sogar tausendmal stärker. Bryan gab Pookie den Beutel zurück.
Der Geruch kam nicht allein von der Decke. Bryan musterte den Rollwagen. Auf ihm befanden sich noch andere Beutel. Einige enthielten die Kleider des Obdachlosen, und in einem befand sich eine Art Stricktasche. Sie alle strömten diesen mächtigen Geruch aus.
Bryan trat an das Klinikbett und beugte sich herab. Auch der Obdachlose hatte diesen Geruch an sich, doch hier war er nicht so stark.
Der Mann schien ihre Gegenwart zu spüren. Seine Augenlider schoben sich zuckend nach oben, und er wandte den Kopf in Bryans und Pookies Richtung. »Sind Sie beide … Bullen?«
Pookie seufzte. »Ich muss endlich daran denken, das Neonschild über meinem Kopf auszuschalten. Hallo, Mister James. Ich bin Inspektor Chang. Das ist Inspektor Clauser.«
Bryan nickte knapp. »Wie geht es Ihnen, Mister James?«
Der Mann blinzelte langsam, als bereitete es ihm Schmerzen, auch nur die Augenlider zu bewegen. »Ich bin am Leben«, sagte er. »Wo ist mein Baby?«
»Hier in der Klinik«, sagte Pookie. »Dem Jungen geht es gut. Sie behaupten, dass er Ihr Baby ist?«
Aggie starrte zuerst Pookie und dann Bryan an.
»Ja, genau«, sagte Aggie. »Bringen Sie mir meinen Jungen, oder ich werde Sie verklagen.«
Pookie schüttelte den Kopf. »Der Kinderschutzdienst muss erst noch die Identität des Jungen feststellen.«
Aggie versuchte, sich aufzusetzen. Er schien überrascht, dass er seine linke Hand kaum bewegen konnte. Er musterte die Handschelle, die ihn ans Bett fesselte, und zerrte dann mit einem Ruck so heftig daran, dass das gesamte Bettgestell rasselte. »Nein! Ketten Sie mich nicht an, ketten Sie mich nicht an!«
Anketten. Ein merkwürdiges Wort, um eine Handschelle zu beschreiben.
Mit weit aufgerissenen Augen fixierte Aggie sein bewegungsloses Handgelenk. »Lassen Sie mich gehen«, flüsterte er kaum hörbar. »Geben Sie mir meinen Jungen und lassen Sie mich gehen.«
»Das können wir nicht«, sagte Bryan. »Mister James, sagen Sie mir, warum Sie diese Zeichnungen auf der Decke angebracht haben.«
»Das war ich nicht. Ketten Sie mich nicht an, bitte, lassen Sie mich gehen, bevor Hillary herausfindet, dass ich versagt habe.«
Bryan warf Pookie einen Blick zu. Pookie zuckte mit den Schultern.
»Hillary«, sagte Bryan. »Ist Hillary die Mutter des Babys?«
Aggie schüttelte heftig den Kopf. Er atmete immer hektischer. »Mama ist ein Monster.«
Ein Gefühl der Kälte breitete sich in Bryans Brust und seinem Bauch aus. Das Baby, der Penner, Monster – sie alle waren miteinander verbunden, und sie alle waren ein Teil von Bryans Vergangenheit.
»Ein Monster«, sagte Bryan. »Haben Sie deshalb diese Zeichnungen auf der Decke angebracht? Um das Baby vor dem Monster zu schützen?«
»Ich hab’ doch gesagt, dass die Zeichnungen nicht von mir sind! Lassen Sie mich gehen. Lassen Sie nicht zu, dass die mich wieder in die Tunnel bringen. Lassen Sie mich gehen, verdammt noch mal!«
Pookie beugte sich vor. »Tunnel? Welche Tunnel? Erzählen Sie uns mehr darüber.«
Aggie schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich nicht mehr. Bringen Sie mich nicht mehr in den weißen Raum. Lassen Sie mich gehen. Lassen Sie mich gehen.«
Die Tür ging auf, und Stuart Hood beugte sich ins Zimmer. »Leute, ich will euch nur sagen, dass ich verschwinde. Gerade eben kam die Meldung rein, dass Zou die Wachen aus der Klinik abzieht. Ich soll mich sofort auf den Weg machen.«
»Du verschwindest von hier?«, sagte Pookie. »Wer übernimmt deinen Dienst?«
Hood zuckte mit den Schultern. »Vermutlich wird schon bald jemand auftauchen. Ich weiß nicht, Mann. Mir wurde nur gesagt, dass ich losmuss, und zwar sofort. Das SWAT-Team zieht sich ebenfalls zurück. Bis dann.«
Hood schloss die Tür und ließ Bryan und Pookie mit Aggie James allein.
»Da stimmt irgendwas nicht, Pooks.«
»Echt? Wann hast du zuerst Verdacht geschöpft? Als du mitbekommen hast, dass Zou darauf verzichtet hat, einen Kindesentführer strenger bewachen zu lassen? Oder als du gehört hast, dass sie das beschissene SWAT-Team abzieht, das sie zu Ericksons Sicherheit abgestellt hat, und sie anscheinend davon überzeugt ist, dass er ganz gut allein zurechtkommt?«
Pookies Handy klingelte. Er warf einen Blick darauf. Dann hielt er es hoch, damit Bryan die Anruferidentifizierung lesen konnte:
CHIEF AMY ZOU
Bryan nickte.
Pookie meldete sich. »Guten Abend, Chief. Was gibt’s?«
Pookie hörte zu und nickte. »Verstehe.« Er hörte weiter zu. »Klingt ziemlich übel. Nein, ich weiß wirklich nicht, wo Bryan ist. Aber ich finde ihn und bringe ihn dann mit. Ja, Chief. Okay.«
Pookie steckte das Handy weg. »Zou sagt, der Hand-Werker hat zum dritten Mal zugeschlagen. Zwei Leichen im Fort Mason Tunnel.«
»Ich kenne den Ort«, sagte Bryan. Es handelte sich um einen stillgelegten U-Bahn-Tunnel unter Fort Mason. Man hatte ihn abgeriegelt, und er war schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb, doch die Leute kamen immer noch dorthin. Keine Lichter, kein Verkehr. Der perfekte Ort, um ein Opfer beiseitezuschaffen und zu tun, was einem gerade in den Sinn kam. Ein neuer Serienkiller, ein Tatort, der sich plausibel anhörte … Und doch fühlte sich das alles nicht richtig an. »Hat sie gesagt, dass wir wieder offiziell im Dienst sind?«
Pookie schüttelte den Kopf. »Das hat sie nicht erwähnt.«
Zwei Menschen im Gebäudekomplex des SFGH hatten irgendwie mit Maries Kindern zu tun: Jebediah Erickson und Aggie James. Und plötzlich war von Zou die Anweisung gekommen, sie nicht länger zu schützen.
Außerdem war es dunkel draußen. Und es wurde immer dunkler.
»Pooks, ich glaube, dass Zou in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt. Es sei denn, sie hat das alles von langer Hand geplant.«
»Glaubst du, dass Maries Kinder kommen werden?«
Bryan nickte. »Ja. Und zwar bald. Hast du einen Handschellenschlüssel? Wir müssen Aggie von hier wegschaffen.«
Pookie nickte und zog einen Schlüssel aus seiner Tasche. Bryan löste Aggies Handschelle vom Bettrahmen. Ein Funkeln erfüllte Aggies Augen, das jedoch gleich wieder erlosch. Seine Miene drückte aus, dass er sich betrogen fühlte, als Bryan das lose Ende der Handschelle um sein eigenes Handgelenk legte und einrasten ließ.
»Stehen Sie auf, Mister James«, sagte Bryan. »Kommen Sie mit mir, wenn Sie überleben wollen.«
Pookie half dem Mann aus dem Bett. »Wohin willst du ihn bringen?«
»Vorerst werde ich ihn im Wagen der Jessups einschließen«, sagte Bryan. »Ich muss sowieso hin, um etwas zu holen. Kannst du zu Ericksons Zimmer gehen?«
Pookie nickte. »Aber beeil dich. Ich habe gerade eine weitreichende Entscheidung getroffen: Ich überlasse dir den ganzen Monsterscheiß.«
Bryan legte eine Hand um Aggies Hüfte und führte den verwirrten, geschwächten Mann in den Flur hinaus.