Einsamkeit

Robin saß auf ihrer Couch, Emmas schmalen Kopf in ihrem Schoß und ein zur Hälfte geleertes Weinglas in der Hand. Kein Licht. Manchmal muss man einfach im Dunkeln sitzen. Vor dem Wohnzimmerfenster schüttelte eine Windbö einen Baum, sodass die Schatten der Zweige und Blätter zitternde Muster auf ihre Leinenvorhänge warfen.

Nachdem sie einen Tag lang nach Bryan gesucht hatte, wusste sie, dass sie nicht die geringste Ahnung davon hatte, wie man jemanden fand, der nicht gefunden werden wollte. Sie hatte seine Wohnung, die Hall of Justice und die Bigfoot Lodge überprüft – keine Spur von Bryan. Sie war sogar zu Rex Deprovdechuks Haus gegangen und hatte den Tatort aufgesucht, an dem Jay Parlar gestorben war. Auch dort war Bryan nicht gewesen.

Sie hatte ihm mindestens zehn Nachrichten hinterlassen. Er hatte nicht zurückgerufen, nicht einmal, als sie ihm gesagt hatte, dass Ericksons Zustand nicht mehr kritisch, sondern inzwischen als stabil eingeschätzt wurde.

Wie verfahrener konnten die Dinge noch sein? Der arme Bryan, was empfand er wohl im Augenblick? Wie würde sie sich fühlen, wenn sie Trägerin der Mutation wäre? Und als sei das allein nicht schlimm genug, hatte Bryan auch noch erfahren müssen, dass die Familie, die er so sehr geliebt hatte, nicht seine richtige Familie war.

Sie nahm einen Schluck Wein.

Das wenige Licht, das durch die Vorhänge strömte, spiegelte sich in Emmas Augen und verlieh ihnen einen smaragdgrünen Schimmer. Emma spürte immer, wenn Robin beunruhigt war und versuchte dann, sich an sie zu schmiegen. Die Hündin stieß ein leises Winseln aus.

»Es geht mir gut, Süße«, sagte Robin. »Es ist, wie es ist.«

Aber was bedeutete dieses Es? Dieses Es bedeutete, den Rest ihrer Tage ohne den einzigen Mann zu verbringen, den sie haben wollte. Aller Wein der Welt würde es nicht schaffen, diese Erkenntnis zu vertreiben. Das Es bedeutete, nur noch ein halbes Leben zu führen.

Emma riss den Kopf hoch, als es an der Wohnungstür klopfte. Die Hündin erhob sich, wobei sie ihre Krallen achtlos in Robins Oberschenkel bohrte, als sie sich heftig abstieß und in Richtung Diele rannte.

Robin zuckte zusammen, stand auf und stellte das Weinglas auf den kleinen Tisch. Sie folgte Emma zur Tür. Die Hündin drückte ihre Nase auf den Boden. Ihr übergroßer Schwanz zuckte so wild hin und her, dass ihr Hundekörper fast umgerissen wurde.

So verhielt sie sich nur, wenn …

Robin hielt den Atem an, als sie die Tür öffnete.

Emma stürmte in den Hausflur und begann, Bryans Beine zu umkreisen und sich gegen ihn zu werfen. Er beugte sich vor und hob sie hoch, wie es typisch für ihn war: Ihre Hinterbeine hingen locker herab, ihr Schwanz schlug gegen sein Bein, und ihre rosafarbene Zunge leckte ihm wie verrückt über das Gesicht.

»Immer mit der Ruhe, Liebes«, sagte er. Er setzte Emma wieder ab, und seine grünen Augen wandten sich Robin zu.

»Hey«, sagte er.

Er sah aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Er sah … hoffnungslos aus.

»Hey«, sagte sie.

Er wollte etwas sagen, hielt dann aber inne und schaute weg. »Ich wusste nicht, wo ich sonst hätte hingehen sollen.«

Sie machte einen Schritt beiseite und hielt die Tür auf. Bryan kam herein. Emma folgte ihm. Er wirkte wie benommen, als er in das dunkle Wohnzimmer ging und sich auf Robins Couch setzte. Sie nahm unweit von ihm Platz, aber nicht direkt neben ihm. Emma war nicht so vorsichtig. Die schwarz-weiße Hündin legte sich ihm zu Füßen und sah ihn liebevoll an, während ihr Schwanz in regelmäßigem Rhythmus auf den Teppich klopfte.

Robin musterte Bryan einen Augenblick lang, bevor sie zu sprechen begann. »Ich habe dich heute gesucht«, sagte sie. »Ich konnte dich nicht finden.«

»Oh, ich habe geschlafen.«

»Wo?«

»In Pookies Wagen«, sagte er. »Ansonsten bin ich, glaube ich, einfach ziellos umhergewandert.«

Sein Bart war zottelig geworden. Er erinnerte sie daran, dass sie noch immer Bryans Barttrimmer in ihrem Badezimmer liegen hatte. Sie hatte das Gerät eigentlich loswerden wollen, sich am Ende jedoch dagegen entschieden. Sie wollte diesen Bart berühren, sanft darüber streichen und den Schmerz vertreiben, den Bryan empfand.

»Ich habe gerade etwas Wein getrunken. Möchtest du auch ein Glas?«

Er starrte ins Zimmer. Oder ins Nichts. »Hast du auch was Stärkeres?«

»Dein Scotch-Vorrat ist noch immer hier. Talisker mit Eis?«

Sein Nicken verriet, dass er alles getrunken hätte, was sie im Haus hatte. Als sie ihm den Drink machte, war es wie eine Reise zurück in ihre gemeinsame Zeit, denn schon damals hatte sie das gerne für ihn getan. In fast allen Lebensbereichen waren Robin und Bryan gleichberechtigt, doch das Bedürfnis, ihn ein wenig zu bedienen, wurde sie einfach nicht los.

Kurz darauf reichte sie ihm das Glas. Die Eiswürfel klirrten, als er es entgegennahm. Seinen Drink bevorzugte er mit so viel Eis wie möglich. Er leerte das Glas in einem Zug und gab es ihr zurück.

»Noch einen?«

Er nickte.

Emmas Schwanz klopfte im gleichen Rhythmus auf den Boden wie zuvor.

Robin füllte Bryans Glas ein zweites Mal und setzte sich neben ihn. Dann griff sie nach seiner Hand und drückte das Glas vorsichtig hinein.

»Was soll ich nur tun, Robin?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Die Situation ist ein wenig ungewöhnlich, um das Mindeste zu sagen.«

Er nickte und nahm einen kleinen Schluck. Sie griff nach ihrem Weinglas. Dann saßen sie schweigend in der Dunkelheit nebeneinander. Diesmal wartete sie, bis er wieder sprach.

»Was bin ich?«

»Du bist Bryan Clauser.«

»Nein, das bin ich nicht. Dieser Teil meines Lebens ist eine Lüge.«

Darüber würde sie nicht mit ihm streiten. Vielleicht fände sie später eine Gelegenheit, um mit seinem Vater zu sprechen und herauszufinden, ob es irgendetwas gab, was sie tun konnte. Doch jetzt würde sie Bryan keine Plattitüden vorsetzen.

»Du bist ein Cop«, sagte sie. »Ja, ich weiß, dass du gefeuert wurdest, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du ein Mensch bist, der sein Leben der Aufgabe gewidmet hat, einem höheren Gut zu dienen.«

Er nahm noch einen Schluck. »Genauso habe ich das bisher auch gesehen. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.«

»Was meinst du damit?«

Endlich drehte er sich zu ihr um. Die Schatten im Zimmer verbargen sein Gesicht und verschluckten das Licht seiner grünen Augen.

»Ich glaube, ich bin irgendwie an diesen Job geraten, weil ich bin, was ich bin. Ich glaube, ich wurde ein Cop, weil ich die Jagd liebe.«

Robin fragte sich, ob man ihr die Angst ansehen konnte, die sie empfand. Bryan hatte Weil ich die Jagd liebe gesagt, doch was er wirklich gemeint hatte, war: Weil ich die Jagd auf MENSCHEN liebe.

Wieder nahm er einen Schluck. »Manche Cops bringen einen Menschen um, und das macht sie so fertig, dass sie die Truppe verlassen. Ich habe fünf Menschen umgebracht. Fünf. Allesamt im Dienst, allesamt bei einem sogenannten gerechtfertigten Einsatz von Feuerwaffen, und doch – bei keinem Einzigen tut es mir leid.«

Er wandte sich ab und starrte wieder ins Nichts.

Dieser neue Bryan, dieser Mensch, der seine Gefühle kaum im Zaum halten konnte, war beängstigend. Wenn Robin ihn nicht schon gekannt hätte und ihm jetzt in einer dunklen Gasse begegnen würde, würde sie in die andere Richtung davonrennen. Aber sie kannte ihn. Sie sah so viel Schmerz in seinem Gesicht. Sie wollte ihn umarmen, seinen Kopf auf ihre Brust ziehen und ihm langsam über das Haar streichen.

»Bryan, es gibt einen Unterschied zwischen einem Mörder und einem Beschützer. Cops tragen ihre Waffen aus gutem Grund.«

Er drehte sich wieder zu ihr um. »Aber sollte ich nicht wenigstens irgendetwas empfinden? Eine Art Reue oder Schuldgefühl? Oder irgendeine jener verdammten Regungen, nach denen mich die Psychologen jedes Mal fragen, wenn ich jemanden umgebracht habe?«

»Was soll ich deiner Meinung nach darauf antworten? Wenn du nicht getan hättest, was du getan hast, wäre Pookie tot, John wäre tot, und du wärst auch tot. Du hast Leben gerettet. Es ist schließlich nicht so, dass du den Drang verspürst, loszuziehen und Babys zu verspeisen.«

Er schwieg.

»Denn wenn du Babys verspeisen möchtest, Bryan, dann musst du schon mir den Vortritt lassen, und du darfst vorerst keinen weiteren Scotch mehr trinken.«

Er starrte noch immer vor sich hin, doch dann sah sie, wie sein Mund sich ein wenig öffnete. Er kämpfte gegen ein Lächeln an. Sie wartete, denn sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, was als Nächstes passieren würde. Sein Mund zuckte einmal, dann noch einmal, und schließlich verlor er den Kampf gegen das Lächeln.

Er schüttelte den Kopf. »Das kann nicht dein Ernst sein. Witzeleien? Jetzt?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hänge ich zu viel mit Pookie rum.«

Bryans Lächeln verschwand. Die Traurigkeit kehrte in seine Augen zurück, und in diesem Moment war es, als würde ihre Seele zerfallen und vom Wind davongeweht.

Sie drehte ihm den Rücken zu und ließ sich in seinen Schoß gleiten. Er wollte etwas sagen, doch bevor er ein Wort herausbrachte, legte sie ihm eine Hand auf den Hinterkopf und nutzte seine starre Haltung, um sich nach oben zu ziehen und ihn zu küssen. Ihr Mund drückte sich gegen seinen Mund. Sie spürte seinen Bart auf ihrer Oberlippe und ihrem Kinn. Sie atmete seinen Geruch ein und fühlte, wie sich der Duft in ihrer Brust ausbreitete. Bryan wollte ihr ausweichen, doch sie hielt ihn umso fester.

Ihr Weinglas fiel zu Boden. Sie legte auch ihre andere Hand auf seinen Hinterkopf und zog ihn noch näher zu sich heran, wobei sie die Textur seiner Haare zwischen ihren Fingern fühlte. Er widersetzte sich ihr, doch nur für einen kurzen Augenblick. Dann spürte sie, wie sich seine Arme um ihr Kreuz schlossen und er sie ein wenig hochhob und an sich drückte, als wiege sie nichts. Seine Zunge – kühl nach dem eisigen Scotch – fand ihre Zunge.

Sie wusste nicht, wie lange dieser Augenblick anhielt. Er währte eine Sekunde. Er währte eine Ewigkeit. Schließlich glitten seine kräftigen Hände zu ihren Schultern hoch, hielten sie fest und drückten ihren Körper nach hinten, sodass ihre beiden Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.

Sie fühlte die Wärme seines Atems und roch den Talisker darin. »Ich habe dich vermisst, Bryan. Ich habe dich so sehr vermisst.«

Bryan schniefte.

Behutsam küsste sie sein linkes Auge und ließ ihre Lippen in seinem Augenwinkel schweben. »Ich hätte dich nie wegstoßen sollen«, sagte sie.

Er nickte. »Und ich hätte nicht zulassen sollen, dass du das tust.«

Ihre Hände glitten zu seinem Gesicht. Sie fühlte seinen Bart unter ihren Fingern, spürte die Wärme seiner Haut. »Ich werde keine dummen Spielchen mehr spielen«, sagte sie. »Ich liebe dich. Ich glaube, ich habe dich geliebt, seit ich dich das erste Mal gesehen habe. Die Gene ändern nichts daran, dass du ein guter Mensch bist, Bryan. Sie ändern nichts daran, dass du mein Mann bist.«

Er schloss die Augen. »Alles fühlt sich so sehr … fühlt sich einfach nach mehr an. Früher waren alle meine Gefühle irgendwie, ich weiß nicht, gedämpft. Jetzt sind sie sozusagen voll aufgedreht. Es ist schwierig, damit umzugehen.«

Sie küsste seine Nase. »Alles, was ich von dir will, ist ein einziges Gefühl. Nichts anderes zählt. Überhaupt nichts. Sieh in dein Herz und sag mir: Liebst du mich?«

Langsam strichen ihre Daumen auf seinen Wangenknochen vor und zurück. Er starrte sie an. Seine Augen waren noch immer voller Schmerz, aber jetzt waren sie ebenso von Sehnsucht erfüllt.

Er wollte etwas sagen, hielt aber gleich wieder inne. Er schluckte und leckte sich über die Lippen, bevor er sprach.

»Ich liebe dich«, sagte er. »Ich habe dich immer geliebt, aber ich konnte es nicht sagen.«

Sie blinzelte sich die aufsteigenden Tränen aus den Augen. »Aber du kannst es jetzt sagen. Wir werden das alles zusammen durchstehen. Ich werde dich nie verlassen, ganz egal, was passiert.«

»So leicht ist das nicht«, sagte er. »Ich meine, das Zett-Chromosom … die anderen Menschen, die es haben, und die Dinge, die sie tun … ich weiß nicht, was ich vielleicht noch machen werde.«

Wieder küsste sie ihn. Seine Finger lagen fest auf ihrem Rücken.

Robin lehnte sich ein wenig zurück, aber nur so weit, dass sie darauf antworten konnte. Ihre Lippen berührten noch immer die seinen, als sie zu sprechen begann.

»Bleib bei mir«, sagte sie. »Bleib heute Nacht bei mir.«

Wieder sah er sie an, und dann war er es, der sie an sich zog.

Die Verborgenen
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