Mord-Schauplatz

Robin Hudson kniete neben der Leiche. Rechts von ihr spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen in Regenbächen, die in den Gully strömten. Das Wasser rann über ein dickes Eisengitter, das von Blättern und Abfall halb verstopft war. Die Lichter der Einsatzwagen blitzten auf. Ihr roter und blauer Schimmer überzog die Gebäude und den nassen schwarzen Asphalt. Sammy und Jimmy hatten einige Lampen um die Leiche aufgestellt. Sie hatten sogar ein kleines Zelt aufgebaut – vier Stangen ohne Planen für die Wände und darüber ein spitzes Dach, wie man es auf einem Straßenmarkt finden konnte. Eine leichte Brise zerrte am Zeltdach.

Lange bevor das Zelt errichtet worden war, hatte der Regen das Opfer völlig durchnässt. Wassertropfen hingen in seinem dichten Bart. Seine blauen Jeans sahen wegen der Nässe fast schwarz aus. Der Schaft eines Pfeils ragte aus seinem Brustbein. Durch das viele Wasser war der rote Fleck um den Schaft immer mehr verschwommen, bis das Unterhemd des Toten an dieser Stelle blassrosa war.

Robin wollte gerade mit der Untersuchung beginnen, als sie sah, wie Bryan und Pookie auf sie zukamen. Die beiden waren zuerst am Tatort gewesen. Wieder einmal. Inzwischen konnte das kein Zufall mehr sein. Sie musste herausfinden, was wirklich vor sich ging.

»Robin«, sagte Pookie. »Wie offiziell du aussiehst.«

Sie wollte ihn gerade fragen, was er damit meinte, als ihr einfiel, was sie trug. »Oh, die Uniform?«

Pookie nickte. »Wie ich sehe, gibst du dich nicht mit einer billigen Windjacke zufrieden. Genau wie der Silberadler.«

Sie lächelte und wandte sich wieder der Leiche zu. Ja, sie trug die offizielle Jacke der Gerichtsmedizin, obwohl eine einfache Windjacke genauso angemessen gewesen wäre. Doch wenn Metz das Gefühl hatte, die Uniform sei ein wichtiger Teil des Jobs, dann sah sie das genauso. Abgesehen davon mochte sie die Messingknöpfe und die goldene Stickerei an den Ärmeln.

Bryan kniete sich neben die Leiche. Robin musste ihn einfach ansehen – seine grünen Augen, sein dunkelrotes Haar, das so struppig und zerzaust aussah, als ob er mit ihr einen Tag im Bett verbracht hätte. Dann fiel ihr wieder ein, dass auf dem Boden zwischen ihnen eine Leiche lag. Wie gleichgültig war sie geworden? Das war nicht der richtige Augenblick, um über eine Liebesbeziehung nachzudenken.

Pookie beugte sich vor. »Langer Bart, weißes Unterhemd, Beil. Verdes Beschreibung passt perfekt.«

Robin nahm einen dünnen ausziehbaren Stab aus ihrer Tasche. »Laut Verdes Bericht hat Bobby auf seinen Killer geschossen und wenigstens einmal getroffen. Das war vor ein paar Stunden.« Sie schob den Stab unter den oberen linken Träger und hob das Unterhemd an. »Seht euch das an, Leute. Außer dem Pfeil gibt es keine Schusswunden in der Brust. Ich glaube nicht, dass das der Typ ist.«

Bryan starrte die Leiche an. Er wirkte distanziert, viel distanzierter als üblich. Was immer er gegenwärtig durchmachte, war schlimmer geworden. »Vielleicht hat Bobby ihn irgendwo anders getroffen«, sagte er.

»Vielleicht«, sagte Robin. »Das kann ich euch sagen, wenn ich ihn auf dem Autopsietisch habe.«

Vorsichtig griff Bryan nach dem Stab. Er fuhr mit der Spitze leicht über die Federn des Pfeils. Kaum hatte er damit begonnen, begriff Robin, was ihm aufgefallen war.

»Echte Federn«, sagte sie. »Sind die nicht üblicherweise aus Kunststoff?«

Er nickte. »Ich denke schon.« Bryan sah zu Pookie hoch, der sich über ihn und Robin lehnte. »Haben die meisten Pfeile nicht Kunststofffedern?«

Pookie stieß den für ihn typischen pfft-Laut aus. »Was fragst du mich? Sehe ich aus wie ein Pfeilmacher?«

Bryan rümpfte angewidert die Nase. »Ein was?«

»Ein Pfeilmacher«, sagte Pookie. »Jemand, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, dass er Pfeile herstellt.«

Bryan zuckte mit den Schultern. »Nach allem, was ich über dieses Thema weiß, könnten Pfeilmacher durchaus moppelige Chinesen sein.«

Pookie rieb sich den Bauch, der sein weißes Hemd mit Button-down-Kragen spannte. »Nein, von diesen sexy Typen gibt’s nicht besonders viele. Bo-Bobbin, ich wäre schockiert, wenn das nicht Bobbys Killer sein sollte. Was machen die Blutproben, die in Rex Deprovdechuks Wohnung gesichert wurden?«

»Die sind bereits in Arbeit«, sagte Robin. »Sie wurden heute Morgen zusammen mit Bobbys Leiche in die Gerichtsmedizin gebracht. Auch die Untersuchung von Rex’ Spermaprobe läuft bereits, also werden wir bald wissen, ob es sich um sein Blut handelt.«

»Es ist das Blut von jemand anderem«, sagte Pookie. Er deutete in Richtung der bärtigen Leiche. »Es wird sich zeigen, dass es eine Übereinstimmung mit diesem Typen hier gibt. Und ich wette, das gilt auch für die Proben, die an Oscar Woodys Leiche gesichert wurden.«

»Du glaubst, dass dieser Mann Oscar getötet hat?«

»Gut möglich«, sagte Pookie. »Er hat versucht, Alex Panos umzubringen, also besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass auch Oscar und Jay Parlar auf sein Konto gehen.«

Es wirkte offensichtlich, als Robin es laut aussprach. »Ich werde sofort mit den Tests anfangen. Ich habe die entsprechende Maschine in meinem Van. Es dürfte nur eine Stunde dauern, dann bekommt ihr alle drei Ergebnisse.«

Bryan nickte. Dann strich er noch einmal mit dem Stab über die Federn.

Pookie nahm ihm den Stab aus der Hand und tat dasselbe, als wollte er sich selbst von der Sache überzeugen.

»Vielleicht wurde dieser Pfeil speziell angefertigt«, sagte er. »Nach allem, wie der Schütze sich verhalten hat, glaube ich nicht, dass er sich sein Material von der Resterampe in Dick’s Sporting Goods besorgt. Wenn wir herausfinden, wer den Pfeil hergestellt hat, können wir vielleicht auch klären, wer ihn gekauft hat. Robin, wie schnell kannst du ihn aus seiner Brust holen?«

Sie beugte sich vor und schob den Kopf hin und her, um die Wunde genauer zu betrachten. Vorsichtig griff sie nach dem Pfeil an der Einkerbung über den Federn und zog daran. Der Schaft bog sich ein wenig, doch die Pfeilspitze rührte sich nicht von der Stelle.

»Er ist tief eingedrungen«, sagte sie. »Ich kann ihn nur mit einer Knochensäge freilegen.«

»Scheiße«, sagte Bryan. »Wie lange brauchst du dazu?«

Erst hatte Zou sie angetrieben, dann hatte Verde gewollt, dass sie alles überstürzte. Galt das jetzt auch für Bryan und Pookie? Es war Bryans und Pookies Ermittlung, aber es war Robins Aufgabe, die Dinge korrekt und methodisch anzugehen.

»Leute, Sammy hat gesagt, dass es da oben noch eine Leiche gibt, und dazu eine dritte auf dem Dach. Wir müssen alle drei in den Van schaffen und sie dann in die Gerichtsmedizin bringen. Ich werde also noch eine Weile hier sein.«

Pookie kniete sich neben sie. Jetzt kauerten sie alle um die Leiche, als handelte es sich um ein kleines Lagerfeuer in einer eiskalten Nacht.

Pookie sah sich rasch um, weil er sicher sein wollte, dass niemand in der Nähe war. Dann sagte er leise: »Robs, du bist doch für die Abteilung verantwortlich, richtig?«

Sie nickte.

»Wir brauchen deine Hilfe«, sagte er. »Kannst du diesen Unterhemd-Träger sofort in die Gerichtsmedizin schaffen und dafür sorgen, dass sich ein anderer Pathologe um die übrigen Leichen kümmert?«

»Und kein Wort darüber verlieren?«, ergänzte Bryan. »Sag niemandem, dass du den Bärtigen in die Gerichtsmedizin bringst. Schaff ihn einfach in den Wagen und fahr los. Kannst du das für uns tun?«

Sie musterte die beiden Männer. Worum sie sie baten, war für sich genommen noch nicht illegal, aber es wich stark von der üblichen Vorgehensweise ab. Wenn irgendwer begann, ihre Entscheidungen infrage zu stellen und diese Zweifel ihren Weg ins Büro des Bürgermeisters fanden, würde ihr das sicher bei dem Versuch schaden, Metz’ Posten auf Dauer zu übernehmen. Andererseits hatten Pookie und Bryan sie noch nie zuvor um so etwas gebeten. Sie wirkten verzweifelt.

»So läuft das bei uns nicht«, erwiderte sie. »Ich könnte es tun, doch bevor ich vom üblichen Protokoll abweiche, müsst ihr mir sagen, was los ist.«

»Das können wir nicht«, sagte Bryan. »Tu’s einfach. Für uns. Es ist wichtig.«

Es ist wichtig – aber das gilt auch für deine körperliche Verfassung, Bryan, und nicht zu vergessen für deine geistige Gesundheit.

»Ihr Jungs wollt etwas von mir, und ich will etwas von euch. Was ich bisher gehört habe, reicht mir nicht.«

Bryans Blick wurde hart. »Es ist besser, wenn du nicht mehr erfährst, glaub mir.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ihr beide wollt etwas von mir, das meine Karriere gefährden könnte. Also erspart mir diesen Dreck nach dem Motto: Schützen wir die zarte Blume. Überzeugt mich.«

Bryan starrte sie an und sah dann zu Pookie. Pookie zuckte mit den Schultern.

Bryan drehte sich wieder zu Robin um und sah sie über die zwischen ihnen auf dem Boden liegende Leiche hinweg an. »Wir glauben, dass Chief Zou und Rich Verde möglicherweise an einer Vertuschungsaktion beteiligt sind«, sagte er. »Zou schützt jemanden, der in die Morde an Oscar Woody, Jay Parlar und vielleicht sogar Bobby Pigeon verwickelt ist. Sie könnte auch an der Vertuschung der Morde des Golden Gate Slasher beteiligt sein.«

Bryan und Pookie sahen sie konzentriert und eindringlich an; sie machten keine Witze. Aber die Polizeichefin? Die Morde vertuscht? »Warum sollte Zou so etwas tun?«

»Das wissen wir nicht«, sagte Pookie. »Wir haben nichts als Theorien, und uns fehlt die Zeit, jetzt näher darauf einzugehen. Wenn Zou oder Sean Robertson oder Rich Verde hier auftauchen, verlieren wir die Chance, mehr über diese Dinge zu erfahren, denn sie werden uns aus allem raushalten. Wir müssen uns den Pfeil in Ruhe ansehen. Bitte, schaff diesen Kerl in die Gerichtsmedizin und fang sofort mit der Autopsie an.«

Üblicherweise wurden nachts keine Autopsien durchgeführt. Die Leichen, die am Abend angeliefert wurden, wurden so lange eingelagert, bis sich die Pathologen am nächsten Morgen mit ihnen beschäftigten. Noch eine Abweichung von der Norm, weitere mögliche Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit als die nächste Leitende Gerichtsmedizinerin.

Es war noch gar nicht so lange her, da hatte sie Bryan Clauser mehr vertraut als jedem anderen Menschen in ihrem ganzen Leben. Vielleicht war er nicht gerade das gefühlvollste Geschöpf der Welt, aber er war ein Weltklasse-Ermittler. Er würde sie nicht um diese Dinge bitten, wenn er sie nicht für absolut notwendig hielte.

Sie nickte. »In Ordnung. Ich transportiere die Leiche ab, und dann schicke ich jemanden her, der die beiden anderen holt. Wir treffen uns in einer Stunde in der Gerichtsmedizin.«

Bryan lächelte sie an. Es sah ziemlich gezwungen aus, doch es war ein Lächeln. Er und Pookie gingen, sodass Robin ihre Arbeit erledigen konnte.

Die Verborgenen
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