Zugewiesen

Die Kante des Felsenausgangs war abgenutzt, aber trotzdem schürfte ich mir die Handflächen und die Schienbeine daran auf, als ich hindurchkletterte. Ich war so steif, dass mir alles wehtat, als ich mich ruckartig aufrichtete. Mir blieb die Luft weg und mein Kopf begann sich zu drehen, als mir das Blut in die Beine sackte.

Mich interessierte nur eines - wo Jared war, damit ich mich zwischen ihn und seine Angreifer stellen konnte.

Niemand rührte sich und alle starrten mich an. Jared stand mit dem Rücken zur Wand, er hatte die Fäuste geballt und hielt sie gesenkt. Kyle stand vornübergebeugt vor ihm und hielt sich den Magen; etwas dahinter, links und rechts von ihm, sah ich mit vor Schreck offenen Mündern Ian und einen Fremden. Ich nutzte ihre Überraschung aus. Mit zwei großen, schwankenden Schritten war ich zwischen Kyle und Jared.

Kyle reagierte als Erster. Ich stand direkt vor ihm und instinktiv wollte er mich aus dem Weg haben. Seine Hand packte mich an der Schulter und stieß mich zu Boden. Bevor ich aufschlug, griff etwas nach meinem Handgelenk und zerrte mich zurück auf die Füße.

Sobald ihm klarwurde, was er getan hatte, ließ Jared mich wieder los, als würde meine Haut Säure absondern.

»Geh wieder da rein«, brüllte er mich an. Er stieß mich ebenfalls an der Schulter weg, aber nicht so fest wie Kyle. Ich taumelte zwei Schritte rückwärts auf das Loch in der Wand zu.

Das Loch war ein schwarzer Kreis in dem engen Gang, in dem wir standen. Vor meinem kleinen Gefängnis sah die Höhle genauso aus, nur dass der Gang länger und höher war, eher eine Röhre als eine Blase. Eine kleine Lampe - ich konnte nicht erkennen, woher sie ihre Energie bezog - warf vom Boden her ein schwaches Licht. Es zauberte seltsame Schatten auf die Gesichtszüge der Männer und verwandelte sie in verzerrte Monsterfratzen.

Ich wandte mich von Jared ab und ging wieder auf die Männer zu.

»Hier hast du, was du willst«, sagte ich zu Kyle. »Lass ihn in Ruhe.«

Eine ganze Weile lang sagte niemand etwas.

»Gerissenes Miststück«, murmelte Ian schließlich, die Augen vor Erstaunen und Angst weit aufgerissen.

»Ich hab gesagt, du sollst wieder da reingehen«, zischte Jared mir von hinten zu.

Ich drehte mich halb zu ihm um, ohne Kyle aus den Augen zu verlieren. »Du musst mich nicht auf deine Kosten beschützen.« Jared hob eine Hand, um mich erneut zu meiner Zelle zurückzustoßen.

Ich wich ihm aus, wobei ich mich auf die Männer zubewegte, die mich umbringen wollten.

Ian packte meine Arme und drehte sie mir auf den Rücken. Instinktiv versuchte ich mich loszumachen, aber er war stark. Er drehte meine Gelenke viel zu weit nach hinten. Ich keuchte.

»Lass sie los!«, brüllte Jared.

Kyle packte ihn, drehte ihn herum und hielt ihn in einem Ringergriff gefasst. Der andere Mann hielt einen von Jareds rudernden Armen fest.

»Tut ihm nicht weh!«, kreischte ich. Ich zerrte an den Armen, die mich gefangen hielten.

Jared rammte Kyle seinen freien Ellbogen in den Magen. Kyle schnappte nach Luft und lockerte seinen Griff. Jared drehte sich unter seinen Angreifern weg und stürzte sich dann auf sie, wobei seine Faust auf Kyles Nase landete. Dunkelrotes Blut spritzte auf die Wand und die kleine Lampe.

»Mach es kalt, Ian!«, brüllte Kyle. Er senkte den Kopf und stürzte sich auf Jared, der gegen den anderen Mann prallte.

»Nein!«, riefen Jared und ich gleichzeitig.

Ian ließ meine Arme los, fasste mich um den Hals und drückte mir die Luft ab. Mit meinen kurzen, nutzlosen Fingernägeln versuchte ich mich an seinen Händen festzukrallen. Er drückte noch fester zu, bis ich den Boden unter den Füßen verlor.

Es tat weh - der Würgegriff, die plötzliche Panik meiner Lungen. Es war eine Qual. Ich wand mich, allerdings eher, um dem Schmerz auszuweichen als den tödlichen Händen.

Klick, klick.

Ich hatte dieses Geräusch erst einmal gehört, aber ich erkannte es sofort. Alle anderen ebenfalls. Sie erstarrten; Ians Hände weiterhin fest um meinen Hals geschlossen.

»Kyle, Ian, Brandt - zurück!«, bellte Jeb.

Niemand rührte sich - nur meine Hände zerrten immer noch an Ians und meine Füße zuckten in der Luft.

Jared duckte sich plötzlich unter Kyles reglosem Arm hindurch und sprang auf mich zu. Ich sah, wie seine Faust auf mein Gesicht zu schnellte, und schloss die Augen.

Nur Zentimeter neben meinem Kopf war ein lautes Tschack zu hören. Ian heulte auf und ich fiel zu Boden. Keuchend sackte ich vor seinen Füßen zusammen. Jared bedachte mich mit einem wütenden Blick, dann stellte er sich neben Jeb.

»Ihr seid hier nur Gäste, Jungs, vergesst das nicht«, knurrte Jeb. »Ich hab euch gesagt, dass ihr das Mädchen in Ruhe lassen sollt. Sie ist im Moment ebenfalls mein Gast und ich sehe es nicht gern, wenn meine Gäste sich untereinander umbringen.«

»Jeb«, stöhnte Ian über mir. Seine Stimme klang gedämpft, da er sich die Hand vor den Mund hielt. »Jeb. Das ist doch Wahnsinn.«

»Was hast du vor?«, wollte Kyle wissen. Sein Gesicht war blutverschmiert, ein furchtbarer, makabrer Anblick. Aber in seiner Stimme waren keine Anzeichen von Schmerz zu hören, nur unterdrückte, brodelnde Wut. »Wir haben ein Recht darauf, es zu erfahren. Wir müssen entscheiden, ob dieser Ort noch immer sicher ist oder ob es Zeit für uns wird, weiterzuziehen. Also … wie lange willst du dieses Wesen hier als dein Haustier halten? Und was willst du mit ihm machen, wenn du genug davon hast, Gott zu spielen? Du schuldest uns eine Antwort auf diese Fragen.«

Kyles eigenartige Worte hallten in meinem hämmernden Kopf wider. Mich als Haustier halten? Jeb hatte mich seinen Gast genannt … War das ein anderes Wort für Gefangene? War es möglich, dass es zwei Menschen gab, die weder meinen Tod noch mein durch Folter erzwungenes Geständnis wollten? Wenn ja, dann war das ein wahres Wunder.

»Ich habe keine Antwort, Kyle. Das ist nicht meine Entscheidung.«

Ich bezweifelte, dass Jeb irgendetwas hätte sagen können, das sie noch stärker verwirrt hätte. Alle vier - Kyle, Ian, der Mann, den ich nicht kannte, und sogar Jared - starrten ihn fassungslos an. Ich kauerte immer noch zu Ians Füßen und wünschte, ich könnte unbemerkt zurück in mein Loch gelangen.

»Nicht deine Entscheidung?«, wiederholte Kyle schließlich, immer noch ungläubig. »Wessen Entscheidung dann? Wenn du vorhast, darüber abstimmen zu lassen, das ist bereits geschehen. Ian, Brandt und ich sind offiziell bevollmächtigt worden.«

Jeb schüttelte den Kopf - eine knappe Bewegung, ohne den Mann vor ihm aus den Augen zu lassen. »Keine Abstimmung. Das hier ist immer noch mein Haus.«

»Wer entscheidet es dann?«, brüllte Kyle.

Schließlich zuckten Jebs Augen - hin zu einem anderen Gesicht und dann wieder zurück zu Kyle. »Es ist Jareds Entscheidung.«

Alle, ich eingeschlossen, sahen jetzt Jared an.

Jared war genauso überrascht wie alle anderen. Sein Mund stand leicht offen, dann biss er hörbar die Zähne zusammen. Er schoss einen hasserfüllten Blick in meine Richtung ab.

»Jared?«, fragte Kyle und blickte wieder zu Jeb. »Das ergibt doch keinen Sinn!« Er hatte sich jetzt kaum noch unter Kontrolle und kochte vor Wut. »Er ist befangener als alle anderen! Warum ausgerechnet er? Wie soll er eine objektive Entscheidung treffen?«

»Jeb, ich …«, stammelte Jared.

»Du bist für sie verantwortlich, Jared«, sagte Jeb mit fester Stimme. »Ich helfe dir natürlich, wenn es noch mehr solcher Probleme geben sollte, und dabei, sie zu bewachen und all das. Aber wenn es darum geht, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, ist das allein deine Sache.« Er hob eine Hand, als Kyle erneut protestieren wollte. »Sieh es mal so, Kyle. Wenn irgendjemand deine Jodi auf einer Beutetour aufgreifen und hierherbringen würde, würdest du dann wollen, dass ich oder Doc oder irgendeine Abstimmung darüber bestimmt, was wir mit ihr machen?«

»Jodi ist tot«, fuhr Kyle ihn an und ballte die Fäuste noch fester. Er starrte mich mit fast demselben Ausdruck an wie Jared vorhin.

»Wie auch immer, wenn ihr Körper hier auftauchen würde, wäre es trotzdem deine Entscheidung. Würdest du etwas anderes wollen?«

»Die Mehrheit …«

»Mein Haus, meine Regeln«, unterbrach ihn Jeb scharf. »Keine weiteren Diskussionen. Keine weiteren Abstimmungen. Keine Mordversuche. Ihr drei sagt das weiter und so wird es ab jetzt laufen. Neue Regel.«

»Noch eine?«, murmelte Ian vor sich hin.

Jeb beachtete ihn nicht. »Wenn so etwas noch mal passieren sollte - so unwahrscheinlich es auch ist - dann entscheidet derjenige, zu dem der Körper gehört.«

Jeb tippte Kyle mit dem Lauf des Gewehrs an die Brust und deutete dann damit in Richtung des Gangs hinter ihm. »Verschwindet. Ich will euch hier in der Nähe nicht mehr sehen. Ihr könnt allen sagen, dass dieser Gang tabu ist. Niemand außer Jared hat Grund, hier zu sein, und wenn ich irgendjemanden dabei erwische, wie er hier herumschleicht, werde ich nicht erst lang Fragen stellen. Ist das klar? Los jetzt.« Er stieß Kyle wieder mit dem Gewehr an.

Ich war erstaunt, dass die drei Mörder unverzüglich den Rückzug durch den Gang antraten und Jeb oder mir zum Abschied noch nicht einmal einen bösen Blick zuwarfen.

Ich wollte gerne glauben, dass Jeb mit dem Gewehr in seiner Hand nur bluffte.

Seit unserer ersten Begegnung hatte er immer freundlich gewirkt. Er hatte mich kein einziges Mal brutal angefasst; er hatte mich noch nicht einmal feindselig angesehen. Jetzt schien es sogar, als sei er einer von nur zwei Leuten hier, die mir nichts Böses wollten. Jared hatte sich zwar auf einen Kampf eingelassen, um mich zu beschützen, aber es war offensichtlich, dass ihm diese Entscheidung alles andere als leichtgefallen war. Ich spürte, dass er jederzeit seine Meinung ändern konnte. Seine Miene machte deutlich, dass ein Teil von ihm das alles gerne hinter sich gebracht hätte - besonders jetzt, wo Jeb ihm die Entscheidung aufgehalst hatte. Während ich zu diesem Schluss gelangte, starrte mich Jared voller Abscheu an.

Obwohl ich gerne geglaubt hätte, dass Jeb nur bluffte, wurde mir klar, dass das nicht sein konnte, als ich zusah, wie die drei Männer sich von mir abwandten und in der Dunkelheit verschwanden. Unter seiner netten Oberfläche musste Jeb genauso mörderisch und brutal sein wie alle anderen. Wenn er das Gewehr in der Vergangenheit nicht schon benutzt hatte - und zwar zum Töten und nicht nur, um jemanden zu bedrohen -, hätte er sich damit nicht solchen Respekt verschaffen können.

Schlimme Zeiten, flüsterte Melanie. In der Welt, die ihr geschaffen habt, können wir uns nicht zivilisiert verhalten. Wir sind Flüchtlinge, eine bedrohte Spezies. Für uns geht es immer um Leben und Tod.

Psst. Ich habe jetzt keine Zeit für Diskussionen. Ich muss mich konzentrieren.

Jared hatte eine Hand mit der Handfläche nach oben ausgestreckt und sah Jeb an. Jetzt, wo die anderen weg waren, wich die Anspannung aus ihren Körpern. Jeb grinste sogar unter seinem dichten Bart, als hätte er die Auseinandersetzung mit gezücktem Gewehr genossen. Seltsamer Mensch.

»Bitte tu mir das nicht an, Jeb«, sagte Jared. »In einem Punkt hat Kyle Recht - ich kann wirklich keine objektive Entscheidung treffen.«

»Wer sagt denn, dass du dich jetzt schon entscheiden musst? Sie läuft uns ja nicht weg.« Jeb warf mir, immer noch grinsend, einen Blick zu. Das Auge, das mir am nächsten war - und das Jared nicht sehen konnte -, ging blitzschnell zu und wieder auf. Ein Zwinkern. »Nicht nach allem, was sie auf sich genommen hat, um hierherzukommen. Du hast genug Zeit, dir die Sache in Ruhe zu überlegen.«

»Da gibt es nichts zu überlegen. Melanie ist tot. Aber ich kann es nicht … ich kann es nicht … Jeb, ich kann es nicht einfach …« Jared war nicht in der Lage, den Satz zu beenden.

Sag’s ihm.

Ich bin noch nicht bereit zu sterben.

»Dann denk erst mal nicht darüber nach«, sagte Jeb. »Vielleicht fällt dir später was ein. Lass dir Zeit.«

»Aber was machen wir damit? Wir können es doch nicht rund um die Uhr bewachen.«

Jeb schüttelte den Kopf. »Genau das werden wir eine Zeit lang tun müssen. Die Wogen werden sich glätten. Nicht mal Kyle kann seinen mörderischen Zorn wochenlang am Leben erhalten.«

»Wochenlang? Wir können es uns nicht leisten, wochenlang hier unten Wache zu schieben. Wir haben anderes …«

»Ich weiß, ich weiß.« Jeb seufzte. »Mir fällt schon was ein.«

»Und das ist noch nicht alles.« Jared sah mich erneut an; die Ader auf seiner Stirn pochte. »Wo halten wir es gefangen? Wir haben ja schließlich keinen Gefängnistrakt oder so was.«

Jeb lächelte auf mich herunter. »Du machst uns doch keinen Ärger, oder?«

Ich sah ihn stumm an.

»Jeb«, murmelte Jared aufgebracht.

»Mach dir ihretwegen keine Sorgen. Erstens werden wir ein Auge auf sie haben. Zweitens wird sie niemals den Weg nach draußen finden - sie würde herumirren, bis irgendjemand sie aufgreift. Was uns zu drittens bringt: So blöd ist sie nicht.« Er hob eine seiner dichten, weißen Augenbrauen. »Du wirst nicht nach Kyle oder den anderen suchen, hab ich Recht? Ich glaube, sie mögen dich nicht besonders.«

Ich sah ihn bloß an, auf der Hut vor seinem umgänglichen Plauderton.

»Es wäre mir lieber, du würdest nicht so mit diesem Wesen reden«, murmelte Jared.

»Ich bin nun mal in höflicheren Zeiten aufgewachsen, Junge. Ich kann’s nicht ändern.« Jeb legte eine Hand auf Jareds Arm und tätschelte ihn leicht. »Na, komm, du hast eine anstrengende Nacht hinter dir. Lass mich die nächste Wache übernehmen. Geh schlafen.«

Jared sah aus, als wollte er widersprechen, aber dann warf er mir wieder einen Blick zu und seine Miene versteinerte.

»Wie du willst, Jeb. Und … ich will… ich werde die Verantwortung für dieses Wesen nicht übernehmen. Bring es um, wenn du es für richtig hältst.«

Ich zuckte zusammen.

Jared runzelte die Stirn über meine Reaktion, dann drehte er sich unvermittelt um und verschwand auf demselben Weg wie die anderen vorhin. Jeb sah ihm hinterher. Während er abgelenkt war, kroch ich zurück in mein Loch.

Ich hörte, wie Jeb sich langsam neben der Öffnung auf dem Boden niederließ. Er seufzte und streckte sich, wobei er ein paar Gelenke knacken ließ. Nach ein paar Minuten begann er leise zu pfeifen. Es war eine fröhliche Melodie.

Ich umschlang meine Knie und drückte mich in den letzten Winkel der kleinen Zelle. Es lief mir eiskalt den Rücken hoch und runter. Meine Hände zitterten und trotz der feuchten Hitze klapperte ich mit den Zähnen.

»Man könnte sich eigentlich auch hinlegen und ein bisschen schlafen«, sagte Jeb - ich war nicht sicher, ob zu mir oder zu sich selbst. »Morgen wird ein anstrengender Tag.«

Nach einer Weile - vielleicht einer halben Stunde - ließ das Zittern nach. Ich war vollkommen erschöpft und beschloss, Jebs Rat zu folgen. Obwohl der Boden noch unbequemer schien als vorher, war ich bereits nach wenigen Sekunden eingeschlafen.

Der Geruch nach Essen weckte mich. Diesmal war ich wirklich benommen und desorientiert, als ich die Augen öffnete. Ein instinktives Angstgefühl ließ meine Hände schon wieder zittern, noch bevor ich ganz bei Bewusstsein war.

Das gleiche Tablett mit der gleichen Mahlzeit stand neben mir. Ich konnte Jeb sowohl sehen als auch hören. Er saß seitlich vor der Höhle, sah geradeaus den langen gewölbten Gang entlang und pfiff leise vor sich hin.

Von meinem unerträglichen Durst angetrieben, setzte ich mich auf und griff nach der offenen Wasserflasche.

»Morgen«, sagte Jeb und nickte mir zu.

Ich erstarrte, die Hand an der Flasche, bis er den Kopf zur Seite drehte und wieder zu pfeifen begann.

Erst jetzt, als ich nicht mehr ganz so furchtbar durstig war wie gestern, bemerkte ich den eigenartigen, unangenehmen Nachgeschmack des Wassers. Er passte zum beißenden Geruch der Luft, war aber noch ein bisschen stärker und ließ sich nicht wieder aus meinem Mund vertreiben.

Ich aß schnell und bewahrte mir diesmal die Suppe bis zum Schluss auf. Diesmal reagierte mein Magen zufriedener und nahm das Essen bereitwilliger entgegen. Er gluckste kaum.

Mein Körper hatte jedoch noch andere Bedürfnisse, jetzt, wo die vordringlichsten befriedigt worden waren. Ich sah mich in meinem dunklen, engen Loch um. Es gab nicht viele Möglichkeiten. Aber allein bei dem Gedanken, laut eine Frage auszusprechen, und sei es auch nur gegenüber dem schrägen, aber freundlichen Jeb, wurde mir schlecht vor Angst.

Unentschlossen wiegte ich mich vor und zurück. Meine Hüften schmerzten von der gekrümmten Stellung, die ich in der gewölbten Höhle einnehmen musste.

»Äh«, sagte Jeb.

Er sah mich erneut an. Sein Gesicht hatte unter den weißen Haaren eine kräftigere Farbe als gewöhnlich.

»Du sitzt hier ja nun schon eine ganze Weile fest«, sagte er, »Musst du mal … austreten?«

Ich nickte.

»Ein paar Schritte würden mir auch guttun.« Seine Stimme war fröhlich. Überraschend flink sprang er auf.

Ich krabbelte zum Rand meines Lochs und sah vorsichtig zu ihm hinaus.

»Ich zeig dir unser kleines Bad«, fuhr er fort. »Du solltest allerdings wissen, dass wir dazu die … na ja, sozusagen die Haupthöhle durchqueren müssen. Keine Sorge. Ich denke, alle wissen inzwischen Bescheid.« Unbewusst streichelte er über sein Gewehr.

Ich schluckte. Meine Blase war so voll, dass es wehtat und ich sie nicht länger ignorieren konnte. Aber mitten durch die Menge wütender Mörder marschieren? Konnte er mir nicht einfach einen Eimer bringen?

Er musterte die Angst in meinen Augen - beobachtete, wie ich automatisch wieder zurück in das Loch rutschte - und seine Lippen kräuselten sich nachdenklich. Dann drehte er sich um und begann den dunklen Gang entlangzugehen. »Komm mit«, rief er über die Schulter, ohne nachzusehen, ob ich seiner Aufforderung nachkam.

Die Vorstellung, dass Kyle mich hier alleine antreffen könnte, blitzte kurz in meinem Kopf auf, und bevor nur eine Sekunde verstrichen war, folgte ich ihm bereits. Ich krabbelte unbeholfen durch die Öffnung und humpelte dann auf steifen Beinen, so schnell ich konnte, hinter ihm her, um ihn einzuholen. Es fühlte sich gleichzeitig schrecklich und wunderbar an, wieder aufrecht zu stehen - es tat furchtbar weh, aber die Erleichterung war noch größer.

Als wir das Ende des Gangs erreichten, hatte ich ihn eingeholt; hinter dem hohen ovalen Durchbruch, der als Ausgang diente, herrschte vollkommene Dunkelheit. Ich zögerte und blickte zu der kleinen Lampe zurück, die er auf dem Boden stehengelassen hatte. Sie war das einzige Licht in der dunklen Höhle. Sollte ich sie mitnehmen?

Er hörte, dass ich stehen geblieben war, und warf mir über die Schulter einen Blick zu. Ich wies mit dem Kopf auf das Licht hinab und sah dann wieder ihn an.

»Lass es stehen, ich kenne den Weg.« Er streckte mir seine Hand entgegen. »Ich führe dich.«

Ich starrte die Hand eine ganze Weile lang an. Als der Druck in meiner Blase immer stärker wurde, legte ich schließlich meine Hand langsam in seine Handfläche, fast ohne sie zu berühren - so, wie ich eine Schlange anfassen würde, wenn ich aus irgendeinem Grund dazu gezwungen wäre.

Jeb führte mich mit sicheren, schnellen Schritten durch die Dunkelheit. Nachdem wir den langen Gang hinter uns gelassen hatten, bogen wir ständig nach links oder rechts ab. Nach einer weiteren V-förmigen Kurve hatte ich vollständig die Orientierung verloren. Ich war mir sicher, dass das Jebs Absicht gewesen war und der Grund dafür, warum er die Lampe zurückgelassen hatte. Er wollte mir wohl nicht zu viele Anhaltspunkte für einen Ausweg aus diesem Labyrinth geben.

Ich war neugierig, wie dieser Ort wohl entstanden war, wie Jeb ihn gefunden hatte und die anderen hergekommen waren. Aber ich presste die Lippen fest aufeinander. Ich hatte das Gefühl, dass es am besten für mich war, zu schweigen. Ich war nicht sicher, worauf ich hoffte. Darauf, noch ein paar Tage am Leben zu bleiben? Oder einfach auf ein Nachlassen des Schmerzes? Worauf konnte ich sonst noch hoffen? Ich wusste bloß, dass ich noch nicht bereit war zu sterben; mein Überlebenstrieb war genauso gut entwickelt wie der eines Durchschnittsmenschen.

Wir bogen wieder um eine Ecke und der erste Lichtstrahl erreichte uns. Das Licht fiel vor uns durch eine lange, schmale Felsspalte aus einem anderen Raum herein. Es war nicht künstlich wie das der kleinen Lampe neben meiner Höhle. Es war zu weiß, zu rein.

Wir passten nicht nebeneinander durch die schmale Öffnung in der Wand. Jeb ging voraus und zog mich dicht hinter sich her. Als wir hindurch waren - und ich wieder sehen konnte -, befreite ich meine Hand aus seinem lockerem Griff. Er reagierte nicht weiter darauf, sondern legte seine freigewordene Hand einfach wieder auf das Gewehr.

Wir standen in einem kurzen Tunnel und helleres Licht schien durch einen unregelmäßigen, bogenförmigen Durchgang. Die Wände waren aus demselben rötlichen, durchlöcherten Gestein.

Ich konnte jetzt Stimmen hören. Sie waren leiser, weniger aufgeregt als das letzte Mal, als ich das Gemurmel einer Menschenmenge gehört hatte. Heute erwartete uns niemand. Ich konnte nur raten, wie die Reaktion auf mein plötzliches Erscheinen zusammen mit Jeb ausfallen würde. Meine Handflächen wurden kalt und feucht und ich schnappte nach Luft. Ich drängte mich so nah an Jeb, wie ich konnte, ohne ihn zu berühren.

»Ganz ruhig«, brummte er, drehte sich jedoch nicht um. »Sie haben mehr Angst vor dir als du vor ihnen.«

Das bezweifelte ich. Und selbst wenn auch nur die geringste Möglichkeit bestand, dass er Recht hatte - in den menschlichen Herzen verwandelte sich diese Angst in Hass und Gewalt.

»Ich lasse nicht zu, dass irgendjemand dir etwas tut«, murmelte er, als er den gewölbten Durchgang erreichte. »Außerdem kannst du dich sowieso langsam mal daran gewöhnen.«

Ich wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber er betrat bereits den nächsten Raum. Ich huschte hinterher, einen halben Schritt hinter ihm, und versuchte mich so gut es ging hinter seinem Rücken zu verstecken. Das Einzige, was mir schlimmer erschien, als diesen Raum zu betreten, war der Gedanke, hinzufallen und allein hinter Jeb zurückzubleiben.

Plötzliches Schweigen schlug uns entgegen, als wir eintraten. Wir waren jetzt wieder in der gewaltigen, hellen Höhle, in die ich bei meiner Ankunft gebracht worden war. Wie lange war das her? Ich hatte keine Ahnung. Die Decke war immer noch zu hell für mich, um herausfinden zu können, wie genau sie beleuchtet wurde. Ich hatte es beim letzten Mal nicht bemerkt, aber auch hier waren die Wände durchlöchert, von Dutzenden von angrenzenden Höhlen, die in alle Richtungen führten. Einige der Öffnungen waren riesig, andere kaum hoch genug, dass ein Mensch hindurchpasste, auch wenn er sich bückte; einige waren natürliche Felsspalten, andere waren zumindest von Hand vergrößert worden, wenn nicht ganz menschengemacht.

Mehrere Leute starrten uns von diesen Ausgängen her an, im Ankommen oder Weggehen wie versteinert. Die meisten befanden sich jedoch im Inneren der großen Halle und ihre Körper waren mitten in der Bewegung erstarrt, in der sie durch unsere Ankunft unterbrochen worden waren. Eine Frau stand halb vornübergebeugt und hatte die Hände nach ihren Schnürsenkeln ausgestreckt. Der Arm eines Mannes hing bewegungslos in der Luft, nachdem er ihn gehoben hatte, um etwas zu unterstreichen, was er seinen Begleitern gerade erklärte. Ein anderer Mann schwankte - vom plötzlichen Stocken aus dem Gleichgewicht gebracht. Er setzte den Fuß auf, um nicht hinzufallen; sein dumpfes Auftreffen war das einzige Geräusch in dem weitläufigen Raum. Es hallte durch die ganze Halle.

Es war absolut falsch von mir, dankbar für die schreckliche Waffe in Jebs Hand zu sein … aber das war ich. Ich wusste, dass wir ohne sie wahrscheinlich angegriffen worden wären. Diese Menschen würden nicht davor zurückschrecken, Jeb zu verletzen, wenn sie dadurch an mich herankämen. Allerdings war es auch möglich, dass wir trotz des Gewehrs angegriffen wurden. Jeb konnte nicht auf mehr als einen gleichzeitig schießen …

Das Bild in meinem Kopf war so grässlich, dass ich es nicht ertragen konnte. Ich versuchte mich auf meine unmittelbare Umgebung zu konzentrieren, was schlimm genug war.

Jeb hielt einen Moment mit gezücktem Gewehr inne. Er sah sich in der Halle um und schien jeden Einzelnen nacheinander mit seinem Blick festzunageln. Es waren nicht mehr als zwanzig Leute, daher dauerte es nicht lange. Als er seine Musterung abgeschlossen hatte, ging er weiter an der linken Wand der Höhle entlang. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich ihm folgte.

Er ging nicht geradewegs durch die Höhle, sondern hielt sich dicht an der Wand. Ich wunderte mich darüber, bis mir ein großes dunkles Rechteck auffiel, das die Mitte des Fußbodens bedeckte - ein ziemlich großes Rechteck. Niemand stand auf diesem dunkleren Untergrund. Ich hatte so viel Angst, dass ich das Ungewöhnliche daran einfach nur registrierte; ich versuchte noch nicht einmal über eine Erklärung nachzudenken.

Während wir den schweigenden Raum umrundeten, waren kleine Bewegungen wahrzunehmen. Die vornübergebeugte Frau richtete sich auf und drehte den Oberkörper, um uns nachzublicken. Der gestikulierende Mann verschränkte die Arme vor der Brust. Alle Augen verengten sich und alle Gesichter bekamen einen grimmigen Ausdruck. Aber niemand bewegte sich auf uns zu und niemand sagte etwas. Was auch immer Kyle und die anderen diesen Leuten über ihre Auseinandersetzung mit Jeb erzählt hatten, es schien den Effekt zu haben, den Jeb sich erhoffte.

Als wir die Ansammlung menschlicher Statuen durchquerten, erkannte ich Sharon und Maggie, die uns von der weiten Mündung einer Höhle her beobachteten. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, ihr Blick kalt. Sie sahen nicht mich an, nur Jeb. Er ignorierte sie.

Es kam mir vor, als seien Jahre vergangen, als wir endlich das andere Ende der Höhle erreichten. Jeb ging auf eine mittelgroße Öffnung zu, die sich in der Helligkeit des Raums schwarz abzeichnete. Die Blicke, die mir folgten, verursachten ein Kribbeln auf meiner Kopfhaut, aber ich wagte nicht mich umzusehen. Der Raum lag immer noch schweigend da, aber ich fürchtete, jemand könnte uns folgen. Ich war erleichtert, als ich in die Dunkelheit des neuen Gangs eintauchen konnte. Jeb fasste mich am Ellbogen, um mich zu führen, und ich zuckte nicht zurück. Das Stimmengewirr hinter uns setzte nicht wieder ein.

»Na, das lief ja besser als erwartet«, murmelte Jeb, als er mich durch den Gang schob. Seine Worte überraschten mich und ich war froh, dass ich nicht wusste, was genau er erwartet hatte.

Der Boden unter meinen Füßen wurde abschüssig. Gedämpftes Licht vor uns sorgte dafür, dass ich nicht vollständig blind war.

»Ich wette, so was wie mein Zuhause hier hast du noch nicht gesehen, hm?« Jebs Stimme war jetzt lauter und hatte wieder den Plauderton von vorhin angenommen. »Hat was, stimmt’s?«

Er machte eine kurze Pause, falls ich etwas antworten wollte, und fuhr dann fort.

»Ich hab’s in den Siebzigern gefunden. Besser gesagt hat es mich gefunden. Ich bin durch das Dach der großen Höhle gefallen - jeder andere wäre dabei draufgegangen, aber ich halte mehr aus, als gut für mich ist. Hab eine Weile gebraucht, bis ich den Weg hier raus gefunden habe. Als ich’s endlich geschafft hatte, hatte ich solchen Hunger, dass ich sogar Steine gefressen hätte.

Ich war damals schon der Letzte auf der Ranch, also konnte ich es niemandem zeigen. Nachdem ich jeden Winkel und jeden Spalt untersucht hatte, war mir klar, was für Möglichkeiten hier drinsteckten. Ich habe beschlossen, dieses Ass im Ärmel zu behalten, nur für den Notfall. So sind wir Stryders - wir sind gerne vorbereitet.«

Wir gingen an dem gedämpften Licht vorbei - es stammte von einem faustgroßen Loch in der Decke, das einen kleinen Lichtkreis auf den Boden warf. Als wir es hinter uns gelassen hatten, konnte ich weit vor uns einen weiteren Lichtpunkt erkennen.

»Du bist bestimmt neugierig, wie all das hier entstanden ist.« Wieder eine Pause, aber schon kürzer als die letzte. »Ich war es zumindest. Deshalb habe ich ein bisschen nachgeforscht. Das hier sind Lavaröhren, stell dir vor! Das war mal ein Vulkan. Oder besser gesagt, es ist immer noch einer. Noch nicht vollständig erloschen, wie du gleich sehen wirst. All diese Höhlen und Löcher sind Gasblasen, die von der erstarrenden Lava eingeschlossen wurden. Ich habe hier in den letzten paar Jahrzehnten eine ganze Menge Arbeit reingesteckt. Einiges davon war leicht - um die Röhren miteinander zu verbinden, war nur ein bisschen Muskelkraft nötig. Für andere Sachen brauchte es etwas mehr Einfallsreichtum. Ist dir die Decke in der großen Halle aufgefallen? Es hat mich Jahre gekostet, das richtig hinzukriegen.«

Ich wollte ihn fragen, wie er das gemacht hatte, aber ich konnte mich nicht überwinden zu sprechen. Am sichersten war es zu schweigen.

Der Boden begann plötzlich steiler abzufallen. In den Untergrund waren grobe Treppenstufen gehauen, die jedoch ziemlich trittsicher zu sein schienen; Jeb führte mich unbekümmert hinunter. Je tiefer wir kamen, desto heißer und feuchter wurde es. Ich verkrampfte mich, als ich erneut Gemurmel vernahm, diesmal von vorne. Jeb tätschelte sacht meine Hand.

»Das wird dir gefallen - das finden alle am besten«, versprach er. Durch einen großen, offenen Bogen hindurch schimmerte flackerndes Licht. Es hatte dieselbe Farbe wie das in der großen Halle, fein und weiß, aber es zuckte und tanzte auf eigenartige Weise umher. Wie alles in diesem Höhlensystem, das ich nicht verstand, machte mir dieses Licht Angst.

»Hier ist es«, sagte Jeb begeistert und zog mich durch den Torbogen. »Was hältst du davon?«