Verschwunden

Ian saß drei Tage mit mir in der Dunkelheit.

Er ging nur ein paarmal kurz weg, um uns Essen und Wasser zu holen. Zuerst aß und trank Ian, obwohl ich es nicht tat. Dann verstand er, dass es nicht Appetitlosigkeit war, die mein Tablett voll zurückließ, und hörte ebenfalls auf zu essen.

Ich nutzte seine kurzen Abwesenheiten immer dazu, meine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen, die ich nicht ignorieren konnte, und war dankbar für die Nähe des stinkenden Stroms. Mit anhaltendem Fasten verschwanden diese Bedürfnisse.

Ich konnte nicht verhindern, dass ich einschlief, aber ich machte es mir nicht bequem. Am ersten Tag stellte ich beim Aufwachen fest, dass mein Kopf und meine Schultern in seinem Schoß lagen. Ich fuhr von ihm zurück und zitterte so heftig, dass er das nicht wiederholte. Von da an sackte ich dort, wo ich war, auf den Steinen zusammen, und wenn ich aufwachte, rollte ich mich sofort wieder zu einer stummen Kugel zusammen.

»Bitte«, flüsterte Ian am dritten Tag - zumindest glaubte ich, dass es der dritte Tag war; es gab keine Möglichkeit, festzustellen, wie viel Zeit an diesem dunklen, stillen Ort verstrich. Es war das erste Mal, dass er etwas sagte.

Ich wusste, dass ein Tablett mit Essen vor mir stand. Er schob es näher, bis es an mein Bein stieß. Ich zuckte zurück.

»Bitte, Wanda. Bitte iss etwas.«

Er legte mir die Hand auf den Arm, nahm sie aber schnell wieder weg, als ich mich ihm entzog.

»Bitte hass mich nicht. Es tut mir so leid. Wenn ich das gewusst hätte … hätte ich sie davon abgehalten. Ich werde nicht zulassen, dass das noch einmal passiert.«

Er würde sie nie davon abhalten. Er war nur einer unter vielen. Und er hatte vorher auch nichts dagegen gehabt, genau wie Jared gesagt hatte. Ich war der Feind. Sogar bei denjenigen, die am meisten Mitgefühl zeigten, war die begrenzte menschliche Fähigkeit zur Gnade für ihre eigene Spezies reserviert.

Ich wusste, dass Doc keinem Menschen absichtlich Schmerzen zufügen konnte. Ich bezweifelte sogar, dass er in der Lage war, dabei auch nur zuzusehen, so zartbesaitet war er. Aber ein Wurm, ein Tausendfüßler? Warum sollten ihn die Qualen eines fremden außerirdischen Wesens kümmern? Warum sollte es ihm etwas ausmachen, ein Baby zu ermorden - indem er es langsam Stück für Stück auseinanderschnitt -, wenn es keinen menschlichen Mund zum Schreien hatte?

»Ich hätte es dir sagen sollen«, flüsterte Ian.

Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn ich es einfach gesagt bekommen hätte, anstatt die misshandelten Überreste selbst zu sehen?, fragte ich mich. Wäre der Schmerz weniger heftig gewesen?

»Bitte iss.«

Es kehrte wieder Stille ein. Wir saßen eine Weile so da, vielleicht noch eine Stunde lang.

Ian stand auf und ging leise davon.

Ich war mir über meine Gefühle absolut nicht im Klaren. In diesem Moment hasste ich den Körper, mit dem ich verbunden war. Wieso machte mich Ians Weggehen also traurig? Warum kam mir die Einsamkeit, die ich doch gesucht hatte, plötzlich schmerzlich vor? Ich wollte das Monster zurückhaben und das war vollkommen verkehrt.

Ich blieb nicht lange allein. Ich wusste nicht, ob Ian ihn holen gegangen war oder ob er darauf gewartet hatte, dass Ian wegging, aber ich erkannte Jeb an seinem nachdenklichen Pfeifen, das sich in der Dunkelheit näherte.

Das Pfeifen brach ein paar Fuß vor mir ab und ein lautes Klicken war zu hören. Ein gelber Lichtstrahl blendete mich. Ich blinzelte dagegen an.

Jeb stellte die Taschenlampe aufrecht hin, so dass sie einen Lichtkreis auf die niedrige Decke warf und uns in ein weitreichendes, diffuses Licht tauchte.

Jeb ließ sich neben mir an der Wand nieder.

»Du willst dich also zu Tode hungern? Ist das dein Plan?«

Ich sah auf den Steinboden hinunter.

Wenn ich ehrlich mir gegenüber war, musste ich mir eingestehen, dass meine Trauerzeit vorbei war. Ich hatte getrauert. Ich hatte weder das Kind noch die andere Seele in der Höhle des Schreckens gekannt. Ich konnte nicht ewig den Tod von Fremden beklagen. Nein, jetzt war ich wütend.

»Wenn du sterben willst, gibt es einfachere und schnellere Methoden.«

Als ob ich das nicht gewusst hätte.

»Dann liefer mich Doc aus«, krächzte ich.

Jeb war nicht überrascht, mich sprechen zu hören. Er nickte vor sich hin, als hätte er genau gewusst, dass ich das sagen würde.

»Hast du erwartet, wir würden einfach aufgeben, Wanderer?« Jebs Stimme war hart und ernster als je zuvor. »Wir haben einen stärkeren Selbsterhaltungstrieb. Natürlich wollen wir einen Weg finden, unser Bewusstsein wiederzubekommen. Jeden Moment könnte es irgendeinen von uns treffen. Wir haben bereits so viele Leute, die wir lieben, verloren.

Es ist nicht leicht. Es bringt Doc jedes Mal fast um, wenn er versagt - das hast du ja gesehen. Aber dies ist unsere Realität, Wanda. Dies ist unsere Welt. Wir haben einen Krieg verloren. Wir sind kurz davor, ausgerottet zu werden. Wir versuchen, einen Weg zu finden, uns selbst zu retten.«

Zum ersten Mal sprach Jeb mit mir wie mit einer Seele und nicht wie mit einem Menschen. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass ihm der Unterschied immer bewusst gewesen war. Er war einfach bloß ein höfliches Monster.

Ich konnte nicht leugnen, dass an dem, was er sagte, etwas Wahres dran war, dass es irgendwie einen Sinn ergab. Mein erstes Entsetzen war abgeklungen und ich war wieder ich selbst. Es lag in meiner Natur, fair zu sein.

Einige wenige dieser Menschen konnten sich in meine Lage versetzen; zumindest Ian. Dann konnte ich mich auch in ihre Lage versetzen. Sie waren Monster, aber vielleicht Monster, deren Tun gerechtfertigt war.

Natürlich mussten sie glauben, dass Gewalt der richtige Weg war. Sie waren nicht fähig, sich andere Lösungen auszudenken. Konnte ich ihnen vorwerfen, dass ihr genetisches Programm ihre Problemlösungsmöglichkeiten derart beschränkt hatte?

Ich räusperte mich, aber meine Stimme war immer noch rau vom mangelnden Gebrauch. »Babys aufzuschlitzen wird niemanden retten, Jeb. Jetzt sind sie alle tot.«

Er schwieg einen Moment. »Wir können eure Jungen nicht von den Alten unterscheiden.«

»Nein, ich weiß.«

»Ihr habt unsere Babys genauso wenig verschont.«

»Wir haben sie aber auch nicht gequält. Wir fügen niemandem absichtlich Schmerzen zu.«

»Ihr tut etwas noch viel Schlimmeres. Ihr löscht sie aus.«

»Ihr tut beides.«

»Stimmt - weil wir es versuchen müssen. Wir müssen weiterkämpfen. Es ist unsere einzige Möglichkeit. Entweder wir versuchen es weiter oder wir drehen das Gesicht zur Wand und gehen zugrunde.« Er sah mich an und hob eine Augenbraue.

Genauso musste das, was ich hier tat, auf ihn wirken.

Ich seufzte und griff nach der Wasserflasche, die Ian dicht neben meinen Fuß gestellt hatte. Ich leerte sie in einem langen Zug und räusperte mich erneut.

»Es wird niemals funktionieren, Jeb. Ihr könnt uns weiterhin in Stücke schneiden, aber ihr werdet bloß immer mehr fühlende Wesen ermorden, Seelen und Menschen. Wir sind keine Folterer, wir töten nicht willentlich, aber unsere Körper sind auch nicht schwach. Unsere Fortsätze mögen aussehen wie weiches, silbernes Haar, aber sie sind stärker als eure Organe. Das ist es doch, was passiert, oder? Doc schlitzt meine Verwandten auf und ihre Gliedmaßen zerhacken die Gehirne von euren

»Wie Hüttenkäse«, pflichtete er mir bei.

Ich würgte und schauderte bei der Vorstellung.

»Mir wird auch übel davon«, gab er zu. »Doc lässt sich total volllaufen. Jedes Mal, wenn er glaubt, er hat es raus, geht es wieder schief. Er hat alles Erdenkliche versucht, aber er kann sie nicht davor bewahren, zu Hafergrütze zerhackt zu werden. Eure Seelen reagieren nicht auf Narkose … oder Gift.«

Meine Stimme war erneut rau vor Entsetzen. »Natürlich nicht. Unsere chemische Struktur ist eine völlig andere.«

»Einmal hat einer von deinen Leuten offenbar gemerkt, was passieren würde. Bevor Doc den Menschen betäuben konnte, zerfetzte das Silberding sein Gehirn von innen. Das haben wir natürlich erst festgestellt, als Doc ihn aufgemacht hat. Der Kerl ist einfach kollabiert.«

Ich war überrascht, seltsam beeindruckt. Diese Seele musste sehr mutig gewesen sein. Ich hätte nicht den Mut gehabt, diesen Schritt zu wagen, nicht mal zu Anfang, als ich dachte, sie würden genau das aus mir herauskriegen wollen - und sei es durch Folter. Ich hätte nie gedacht, dass sie einfach versuchen würden, sich die Antwort selbst herauszuschneiden; das war so offensichtlich zum Scheitern verurteilt, dass es mir nie in den Sinn gekommen war.

»Jeb, wir sind ziemlich kleine Wesen und vollkommen abhängig von unwilligen Wirtskörpern. Wir hätten es nicht besonders weit gebracht, wenn wir nicht unsere Verteidigungsmöglichkeiten hätten.«

»Ich leugne nicht, dass ihr ein Recht auf diese Verteidigung habt. Ich sage nur, dass wir uns weiter wehren werden, so gut wir nur können. Wir fügen niemandem absichtlich Leid zu. Das ist nur ein unerfreulicher Nebeneffekt. Aber wir werden auf jeden Fall weiterkämpfen.«

Wir sahen uns an.

»Dann hättest du mich vielleicht wirklich von Doc aufschlitzen lassen sollen. Wozu bin ich sonst gut?«

»Jetzt komm schon, Wanda. Sei nicht albern. Wir Menschen sind nicht nur der Logik verpflichtet. Wir haben eine größere Spanne von Gut und Böse in uns als ihr. Okay, vielleicht mehr Böses …«

Ich nickte dazu, aber er ging nicht darauf ein und sprach weiter.

»Das Individuum hat bei uns einen hohen Stellenwert. Letzten Endes wahrscheinlich sogar einen zu hohen. Wie viele Leute, abstrakt gesprochen, würde … sagen wir Paige … wie viele Leute würde sie opfern, um ihren Andy am Leben zu erhalten? Die Antwort wäre ziemlich unsinnig, wenn man die Gleichheit aller Menschen zugrunde legt.

Und wie du hier geschätzt wirst … na ja, das ergibt auch nicht viel Sinn, wenn man es aus der Menschenperspektive betrachtet. Aber es gibt einige, die dich höher schätzen würden als manchen Menschen. Ich muss zugeben, dass ich mich zu dieser Gruppe zähle. Ich sehe dich als Freundin, Wanda. Obwohl das natürlich nicht funktioniert, wenn du mich hasst.«

»Ich hasse dich nicht, Jeb. Aber …«

»Ja?«

»Ich sehe einfach keine Möglichkeit, weiter hier zu leben. Nicht, wenn ihr nebenan meine Familie abschlachtet. Und ich kann hier natürlich auch nicht weg. Verstehst du, was ich meine? Was bleibt da noch für mich außer Docs sinnlosem Geschnippel?« Ich schauderte.

Er nickte ernsthaft. »Damit hast du natürlich Recht. Es wäre nicht fair, von dir zu verlangen, damit zu leben.«

Mein Magen machte einen Satz. »Wenn ich es mir aussuchen kann, wäre mir ehrlich gesagt lieber, ihr würdet mich erschießen«, flüsterte ich.

Jeb lachte. »Immer mit der Ruhe, Kleines. Niemand erschießt meine Freunde oder schlitzt sie auf. Ich weiß, dass du nicht lügst, Wanda. Wenn du sagst, auf unsere Art wird es nicht funktionieren, dann müssen wir die Dinge neu überdenken. Ich werde den Jungs sagen, sie sollen erst mal keine weiteren Geiseln mehr mitbringen. Im Übrigen glaube ich, dass Doc völlig mit den Nerven fertig ist. Er würde das sowieso nicht mehr lange mitmachen.«

»Du könntest mich anlügen«, sagte ich. »Ich würde es wahrscheinlich nicht merken.«

»Dann wirst du mir wohl vertrauen müssen. Denn ich werde dich nicht erschießen. Und ich werde auch nicht zulassen, dass du dich zu Tode hungerst. Iss was, Mädchen. Das ist ein Befehl.«

Ich holte tief Luft und versuchte zu denken. Ich war mir nicht sicher, ob wir eine Einigung erzielt hatten oder nicht. In diesem Körper ergab nichts einen Sinn. Ich mochte die Leute hier zu sehr. Sie waren Freunde. Monströse Freunde, die ich nicht nüchtern betrachten konnte, solange ich dermaßen in Emotionen verstrickt war.

Jeb nahm eine dicke Scheibe Maisbrot, die von geschmuggeltem Honig durchtränkt war, vom Tablett und schob sie mir in die Hand.

Das Brot machte eine Riesensauerei und zerbröselte in schmierige Krümel, die mir an den Fingern kleben blieben. Ich seufzte wieder und begann sie abzulecken.

»Na also! Wir kriegen das schon hin. Du wirst sehen, dass sich alles finden wird. Versuch, positiv zu denken.«

»Positiv zu denken«, murmelte ich mit vollem Mund und schüttelte ungläubig den Kopf. Nur Jeb …

Da kam Ian zurück. Als er in unseren Lichtkegel trat und das Essen in meiner Hand sah, erfüllte mich der Ausdruck, der auf sein Gesicht trat, mit Schuldgefühlen. Es war ein Ausdruck freudiger Erleichterung.

Nein, ich hatte nie jemandem absichtlich körperliche Schmerzen zugefügt, aber ich hatte Ian tief verletzt, indem ich mich selbst verletzte. Menschliche Leben waren so unglaublich eng miteinander verwoben. Was für ein Durcheinander.

»Hier bist du also, Jeb«, sagte er mit leiser Stimme, als er sich gegenübersetzte, wobei er Jeb nur wenig näher war als mir. »Jared hat vermutet, dass du hier bist.«

Ich rutschte ein Stück dichter an ihn heran. Meine Arme schmerzten von der langen Bewegungslosigkeit. Ich legte meine Hand auf seine.

»Entschuldigung«, flüsterte ich.

Er drehte die Hand um und schloss seine Finger um meine. »Du musst dich nicht bei mir entschuldigen.«

»Ich hätte es wissen müssen. Jeb hat Recht. Natürlich wehrt ihr euch. Wie könnte ich euch das vorwerfen?«

»Jetzt, wo du hier bist, ist es anders. Wir hätten damit aufhören müssen.«

Aber meine Anwesenheit hatte die Lösung des Problems nur umso dringlicher gemacht. Wie konnte man mich herausreißen und Melanie behalten? Wie konnte man mich auslöschen, um sie zurückzuholen?

»Im Krieg ist alles erlaubt«, murmelte ich und versuchte zu lächeln.

Er grinste schwach zurück. »Und in der Liebe. Den Teil hast du vergessen.«

»Okay, Schluss jetzt«, grummelte Jeb. »Ich bin noch nicht fertig.«

Ich sah ihn neugierig an. Was kam jetzt noch?

»Also.« Er holte tief Luft. »Versuch nicht gleich wieder auszurasten, okay?«, sagte er und sah mich an.

Ich erstarrte und umklammerte Ians Hand.

Ian warf Jeb einen erschrockenen Blick zu.

»Du willst es ihr sagen?«, fragte er.

»Was?«, keuchte ich. »Was ist denn jetzt schon wieder?«

Jeb hatte sein Pokerface aufgesetzt. »Es geht um Jamie.«

Diese vier Wörter stellten die Welt erneut auf den Kopf.

Drei ganze Tage lang war ich Wanderer gewesen, eine Seele unter Menschen. Jetzt war ich plötzlich wieder Wanda, eine sehr verstörte Seele mit menschlichen Gefühlen, die zu stark waren, um sie unter Kontrolle zu bekommen.

Ich sprang auf - wobei ich Ian mitriss, da meine Hand die seine wie einen Schraubstock umklammert hielt - und schwankte. Mein Kopf drehte sich.

»Schsch. Ich habe gesagt, du sollst nicht gleich ausrasten, Wanda. Jamie geht es gut. Er macht sich nur Gedanken um dich. Er hat gehört, was passiert ist, und fragt ständig nach dir. Der Junge ist außer sich vor Sorge und ich glaube nicht, dass das gut für ihn ist. Ich bin hergekommen, um dich zu bitten, zu ihm zu gehen. Aber nicht so. Du siehst furchtbar aus. Es wird ihn nur unnötig aufregen. Setz dich hin und iss noch was.«

»Wie geht es seinem Bein?«, wollte ich wissen.

»Es hat sich etwas entzündet«, murmelte Ian. »Doc will, dass er im Bett bleibt, sonst wäre er schon längst hier. Wenn Jared ihn nicht schon fast festhalten würde, wäre er trotzdem gekommen.«

Jeb nickte. »Jared wollte schon beinahe herkommen und dich hintragen, aber ich habe ihm gesagt, er soll mich erst mit dir sprechen lassen. Es würde dem Jungen auch nicht guttun, dich katatonisch zu sehen.«

Mein Blut fühlte sich an, als wäre es zu Eiswasser geworden, aber das war sicher nur Einbildung.

»Was habt ihr gegen die Entzündung gemacht?«

Jeb zuckte mit den Achseln. »Da können wir nichts machen. Der Junge ist stark, er wird schon damit fertigwerden.«

»Ihr könnt nichts machen? Was soll das heißen?«

»Es ist eine bakterielle Infektion«, sagte Ian. »Wir haben keine Antibiotika mehr .«

»Die funktionieren sowieso nicht - Bakterien sind schlauer als eure Medikamente. Es muss etwas Besseres geben, etwas anderes.«

»Tja, wir haben hier nichts anderes«, sagte Jeb. »Er ist ein gesunder Junge. Es muss einfach seinen Gang gehen.«

»Seinen … Gang … gehen«, murmelte ich benommen.

»Iss was«, drängte Ian. »Er macht sich sonst bloß Sorgen, wenn er dich so sieht.«

Ich rieb mir die Augen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen.

Jamie war krank. Es gab hier nichts, um ihn zu behandeln. Keine Möglichkeit, außer abzuwarten, ob sein Körper sich selbst heilen konnte. Und wenn nicht…

»Nein«, keuchte ich.

Es kam mir vor, als stünde ich wieder am Rand von Walters Grab und hörte Sand in die Dunkelheit fallen.

»Nein«, stöhnte ich und kämpfte gegen die Erinnerung an.

Mechanisch drehte ich mich um und begann mit steifen Schritten auf den Ausgang zuzugehen.

»Warte«, sagte Ian, aber er zog nicht an der Hand, die er immer noch hielt. Er hielt mit mir Schritt.

Jeb holte mich ein und ging auf der anderen Seite neben mir her. Er schob mir noch mehr Brot in meine freie Hand.

»Iss, dem Jungen zuliebe«, sagte er.

Ich biss hinein, ohne zu schmecken, kaute, ohne zu denken, schluckte, ohne zu spüren, wie das Essen hinunterrutschte.

»Ich wusste, sie würde überreagieren«, knurrte Jeb.

»Warum hast du es ihr dann gesagt?«, fragte Ian frustriert.

Jeb antwortete nicht. Ich fragte mich, warum. War es etwa noch schlimmer, als ich dachte?

»Ist er im Krankenflügel?«, fragte ich mit emotionsloser, unbewegter Stimme.

»Nein, nein«, versicherte mir Ian schnell. »Er ist in deinem Zimmer.«

Ich verspürte noch nicht mal Erleichterung. Ich war zu benommen.

Für Jamie hätte ich jenen Raum noch mal betreten, auch wenn er immer noch nach Blut roch.

Ich nahm die vertrauten Höhlen, durch die ich schritt, nicht wahr. Ich bemerkte kaum, dass es Tag war. Ich konnte keinem der Menschen, die anhielten, um mich anzustarren, in die Augen blicken. Ich konnte nur einen Fuß vor den anderen setzen, bis ich schließlich den Gang mit den Schlafzimmern erreichte.

Ein paar Leute hatten sich vor der siebten Höhle versammelt. Der Seidenparavent war ganz zur Seite geschoben und sie reckten die Hälse, um in Jareds Zimmer zu schauen. Sie waren mir alle vertraut, Menschen, die ich als Freunde betrachtete. Auch Jamies Freunde. Warum waren sie hier? War sein Zustand so instabil, dass sie ständig nach ihm sehen mussten?

»Wanda«, sagte jemand. Heidi. »Da kommt Wanda.«

»Lasst sie durch«, sagte Wes. Er klopfte Jeb auf den Rücken. »Gute Arbeit.«

Ich ging durch die kleine Gruppe Menschen hindurch, ohne sie anzusehen. Sie traten zur Seite, sonst hätte ich sie umgerannt. Ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als auf meine eigenen Schritte.

In dem Raum mit der hohen Decke war es hell. Es war nicht voll; Doc oder Jared hatten alle draußen gehalten. Ich war mir Jareds Anwesenheit undeutlich bewusst. Er lehnte an der hinteren Wand hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt – eine Haltung, die er nur einnahm, wenn er sich große Sorgen machte. Doc kniete neben dem breiten Bett, auf dem Jamie lag, genau so wie ich ihn verlassen hatte.

Warum hatte ich ihn verlassen?

Jamies Gesicht war rot und verschwitzt. Das rechte Hosenbein seiner Jeans war abgeschnitten und der Verband von seiner Wunde entfernt worden. Sie war nicht so groß und schrecklich, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Nur eine etwa fünf Zentimeter lange Schnittwunde mit glatten Kanten. Aber die Kanten waren von einem unheimlichen Rotton und die Haut um den Schnitt war geschwollen und glänzte.

»Wanda«, hauchte Jamie, als er mich sah. »Ein Glück, es geht dir gut. Oh.« Er holte tief Luft.

Ich stolperte und fiel neben ihm auf die Knie, wobei ich Ian mitzog. Ich berührte Jamies Gesicht und konnte spüren, wie die Haut unter meiner Hand glühte. Mein Ellbogen stieß an Docs, aber ich bemerkte es kaum. Er zuckte zurück, doch ich blickte nicht auf, um zu sehen, welche Gefühle sich in seiner Miene spiegelten, ob es Abscheu war oder Schuldbewusstsein.

»Jamie, Kleiner, wie geht es dir?«

»Das ist idiotisch«, sagte er grinsend. »Einfach vollkommen idiotisch. Kannst du das glauben?« Er zeigte auf sein Bein. »Ausgerechnet.«

Ich fand ein feuchtes Tuch auf seinem Kissen und wischte ihm damit über die Stirn.

»Du kommst bald wieder in Ordnung«, versprach ich ihm. Ich war überrascht, wie überzeugend meine Stimme klang.

»Klar. Das ist nicht so schlimm. Aber Jared wollte mich nicht zu dir lassen, um mit dir zu reden.« Sein Gesicht war plötzlich beunruhigt. »Ich habe gehört, dass … Wanda, weißt du, ich …«

»Psst. Denk nicht darüber nach. Wenn ich gewusst hätte, dass du krank bist, wäre ich früher gekommen.«

»Ich bin nicht richtig krank. Nur eine dämliche Infektion. Aber ich bin trotzdem froh, dass du hier bist. Es war furchtbar, nicht zu wissen, wo du steckst.«

Es gelang mir nicht, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken. Ein Monster? Mein Jamie? Niemals.

»Ich habe gehört, du hast es Wes gezeigt an dem Tag, als wir zurückgekommen sind«, sagte Jamie und wechselte breit grinsend das Thema. »Mann, ich wünschte, ich hätte das sehen können! Ich wette, Melanie war begeistert.«

»Ja, das stimmt.«

»Ist alles okay mit ihr? Ich hoffe, sie ist nicht zu besorgt.«

»Natürlich ist sie besorgt«, murmelte ich und betrachtete das Tuch, das über seine Stirn wischte, als wäre es die Hand eines anderen, die es bewegte.

Melanie.

Wo war sie?

Ich durchforstete meinen Kopf und suchte nach ihrer vertrauten Stimme. Aber da war nichts als Schweigen. Warum war sie nicht da? Jamies Haut glühte, als ich mit den Fingern darüberstrich. Dieses Gefühl - diese ungesunde Hitze - hätte sie in dieselbe Panik versetzen müssen wie mich.

»Ist alles okay mit dir?«, fragte Jamie. »Wanda?«

»Ich bin … müde, Jamie, tut mir leid. Ich bin einfach … nicht ganz da.«

Er sah mich aufmerksam an. »Du siehst nicht besonders gut aus.«

Was hatte ich getan?

»Ich … habe mich länger nicht gewaschen.«

»Mir geht es gut, weißt du. Du solltest etwas essen oder so. Du bist ganz blass.«

»Mach dir keine Sorgen um mich.«

»Ich bringe dir was zu essen«, sagte Ian. »Hast du auch Hunger, Junge?«

»Äh … nein, eigentlich nicht.«

Mein Blick huschte zu Jamie zurück. Jamie hatte immer Hunger.

»Schick jemand anderen«, bat ich Ian und fasste seine Hand fester.

»Sicher.« Sein Gesicht war entspannt, aber ich konnte sowohl Überraschung als auch Besorgnis spüren. »Wes, könntest du etwas zu essen holen? Auch für Jamie. Ich bin sicher, sobald du zurück bist, wird er auch wieder Appetit haben.«

Ich musterte Jamies Gesicht. Es war ganz rot, aber seine Augen leuchteten immer noch. Er konnte ein paar Minuten ohne mich auskommen.

»Jamie, macht es dir etwas aus, wenn ich mir das Gesicht waschen gehe? Ich fühle mich irgendwie … schmierig.«

Er runzelte die Stirn über den falschen Unterton in meiner Stimme. »Natürlich nicht.«

Ich zog Ian mit hoch, als ich aufstand. »Ich bin gleich zurück. Diesmal wirklich.«

Er lächelte über meinen lahmen Witz.

Ich spürte, dass jemand mir nachsah, als ich mit Ian den Raum verließ. Jared oder Doc, ich wusste es nicht. Es war mir egal.

Nur Jeb stand jetzt noch im Gang; die anderen waren weg, vielleicht beruhigt, dass es Jamie gutging. Jeb hielt neugierig den Kopf schief und versuchte herauszufinden, was ich vorhatte. Dass ich Jamie so schnell und so plötzlich wieder verließ, überraschte ihn. Auch er hatte meine Ausrede als solche erkannt.

Ich ignorierte seinen durchdringenden Blick und zog Ian hinter mir her.

Ich zerrte ihn bis zu der Stelle, wo all die Gänge mit den Zimmern in einem großen Gewirr von Höhlenausgängen zusammentrafen. Anstatt weiter in Richtung der großen Höhle zu gehen, zog ich ihn in irgendeinen anderen der dunklen Flure. Er war leer.

»Wanda, was …«

»Du musst mir helfen, Ian.« Meine Stimme war angespannt, verzweifelt.

»Was immer du willst. Das weißt du.«

Ich nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und blickte ihm in die Augen. In der Dunkelheit war kaum ein Schimmer ihres Blaus zu sehen.

»Du musst mich küssen, Ian. Jetzt sofort. Bitte.«