Geglaubt
Die Versammlung entspannte sich, und angeregtes Gemurmel durchlief den Halbkreis.
Ich sah Jamie an. Er kräuselte die Lippen und zuckte mit den Schultern. »Jeb versucht bloß, wieder etwas Normalität einkehren zu lassen. Wir haben ein paar schlechte Tage hinter uns. Walters Beerdigung …«
Ich sah, dass Jeb Jared angrinste. Nachdem er seinem Blick einen Moment lang standgehalten hatte, seufzte Jared und verdrehte die Augen über den seltsamen alten Mann. Er wandte sich um und verließ schnell die Höhle.
»Hat Jared einen neuen Ball mitgebracht?«, fragte jemand.
»Cool«, sagte Wes neben mir.
»Ballspiele«, murmelte Trudy und schüttelte den Kopf.
»Wenn es die Anspannung löst«, erwiderte Lily ruhig und zuckte mit den Achseln.
Sie unterhielten sich leise direkt neben mir, aber ich konnte auch andere, lautere Stimmen hören.
»Sei diesmal vorsichtig mit dem Ball«, sagte Aaron zu Kyle. Er stand über ihm und reichte ihm die Hand.
Kyle nahm die angebotene Hand und kam langsam auf die Beine. Im Stehen stieß er beinahe mit dem Kopf an die Lampen, die von der Decke hingen.
»Der letzte Ball war morsch«, sagte Kyle und grinste den älteren Mann an. »Eine Fehlkonstruktion.«
»Ich ernenne Andy zum Kapitän«, rief jemand.
»Und ich Lily«, rief Wes, der aufstand und Dehnübungen machte.
»Andy und Lily.«
»Ja, Andy und Lily.«
»Ich will Kyle«, sagte Andy schnell.
»Dann kriege ich Ian«, konterte Lily.
»Jared.«
»Brandt.«
Jamie stand auf und stellte sich auf die Zehenspitzen, um größer zu wirken.
»Paige.«
»Heidi.«
»Aaron.«
»Wes.«
Das Aufrufen ging weiter. Jamie strahlte, als Lily ihn auswählte, noch bevor die Hälfte der Erwachsenen verteilt war. Sogar Maggie und Jeb wurden in die Mannschaften gewählt. Die Anzahl der Spieler war gerade, bis Jared mit Lucina und ihren zwei kleinen Jungen zurückkam, die aufgeregt umherhüpften. Jared hatte einen brandneuen Fußball in der Hand; er hielt ihn ausgestreckt von sich weg und Isaiah, der ältere Junge, sprang immer wieder hoch und versuchte, ihn Jared aus der Hand zu schlagen.
»Wanda?«, fragte Lily.
Ich schüttelte den Kopf und zeigte auf mein Bein.
»Stimmt. Entschuldige.«
Ich bin eine gute Fußballspielerin, grummelte Mel. War ich zumindest mal.
Ich kann kaum laufen, erinnerte ich sie.
»Ich glaube, ich setze erst mal aus«, sagte Ian.
»Nein«, beklagte sich Wes. »Die anderen haben Kyle und Jared. Ohne dich sind wir verloren.«
»Spiel ruhig«, erklärte ich ihm. »Ich … ich zähle die Tore.«
Er sah mich mit zusammengekniffenen Lippen an. »Ich bin nicht gerade in der Stimmung für ein Spiel.«
»Sie brauchen dich.«
Er schnaubte.
»Komm schon, Ian«, drängte Jamie.
»Ich schaue gerne zu«, sagte ich. »Aber es ist … langweilig, wenn eine Mannschaft viel besser ist als die andere.«
»Wanda«, sagte Ian und seufzte. »Du bist wirklich die schlechteste Lügnerin, die ich je getroffen habe.«
Aber er stand auf und begann gemeinsam mit Wes Dehnübungen zu machen.
Paige stellte vier weitere Lampen als Torpfosten auf.
Ich versuchte aufzustehen - ich saß mitten auf dem Spielfeld. Niemand bemerkte mich in dem dämmrigen Licht. Überall um mich herum war die Stimmung plötzlich beschwingt, voller Vorfreude. Jeb hatte Recht gehabt. Sie brauchten das hier, so komisch es mir auch vorkam.
Es gelang mir, auf alle viere zu kommen und dann mein heiles Bein vorzuziehen, so dass ich auf dem verletzten kniete. Es tat weh. Ich versuchte mich aus dieser Position auf mein heiles Bein hochzustemmen. Aber mein verletztes Bein zog mich nach unten und brachte mich wieder aus dem Gleichgewicht.
Starke Hände fingen mich auf, bevor ich hinfallen konnte. Ich sah kleinlaut auf, um mich bei Ian zu bedanken.
Die Worte blieben mir im Hals stecken, als ich sah, dass es Jared war, dessen Arme mich festhielten.
»Du hättest einfach um Hilfe bitten können«, sagte er beiläufig.
»Das …« Ich räusperte mich. »Das hätte ich auch tun sollen. Aber ich wollte …«
»Keine Aufmerksamkeit erregen?« Er sagte das ganz ohne Anklage, als wäre er wirklich neugierig. Dann half er mir dabei, zum Höhleneingang zu humpeln.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich wollte nicht, dass … irgendjemand nur aus Höflichkeit etwas macht, was er nicht will.« Das erklärte die Sache nicht so richtig, aber er schien zu verstehen, was ich meinte.
»Ich glaube nicht, dass Jamie oder Ian Probleme damit hätten, dir zu helfen.«
Ich warf einen Blick über die Schulter. In dem trüben Licht hatte keiner von beiden bisher bemerkt, dass ich nicht mehr da war. Sie köpften sich gegenseitig den Ball zu und lachten, als Wes ihn ins Gesicht bekam.
»Aber sie haben gerade so viel Spaß. Dabei hätte ich sie ungern unterbrochen.«
Jared musterte mein Gesicht. Ich bemerkte, dass ich liebevoll lächelte.
»Du hast den Jungen ziemlich gern«, sagte er.
»Ja.«
Er nickte. »Und den Mann?«
»Ian ist … Ian glaubt mir. Er wacht über mich. Er kann so mitfühlend sein … für einen Menschen.« Fast wie eine Seele, hatte ich sagen wollen. Aber das hätte er wohl nicht als das Kompliment aufgefasst, als das es gemeint war.
Jared schnaubte. »Für einen Menschen. Es war mir nicht bewusst, dass das so einen großen Unterschied macht.«
Er setzte mich auf der Schwelle ab, die eine schmale Bank bildete und auf der man bequemer saß als auf dem Boden.
»Danke«, sagte ich. »Jebs Entscheidung war richtig, weißt du.«
»Das sehe ich anders.« Jareds Stimme war sanfter als der Inhalt seiner Worte.
»Danke auch - für eben. Du hättest nicht zu meinen Gunsten aussagen müssen.«
»Jedes einzelne Wort entsprach der Wahrheit.«
Ich sah zu Boden. »Es stimmt, dass ich nie etwas tun würde, dass irgendjemandem hier wehtut. Zumindest nicht mit Absicht. Es tut mir leid, dass ich dich durch meine Ankunft hier verletzt habe. Und Jamie. So unendlich leid.«
Er setzte sich mit nachdenklichem Gesicht neben mich. »Ehrlich gesagt …« Er zögerte. »Dem Jungen geht es besser, seit du hier bist. Ich hatte schon fast vergessen, wie sein Lachen klingt.«
Wir hörten jetzt beide, wie es über das tiefere Erwachsenengelächter hinwegschallte.
»Danke, dass du mir das sagst. Das war meine … größte Sorge. Ich hatte gehofft, dass ich ihm keine bleibenden Schäden zugefügt habe.«
»Warum?«
Ich sah ihn verwirrt an.
»Warum liebst du ihn?«, fragte er immer noch mit neugieriger Stimme, aber ohne mich zu bedrängen.
Ich biss mir auf die Lippe.
»Du kannst es mir ruhig sagen. Ich bin … ich habe …« Er fand die Worte nicht. »Du kannst es mir ruhig sagen«, wiederholte er.
Ich sah auf meine Schuhe, als ich ihm antwortete. »Zum Teil, weil Melanie ihn liebt.« Ich sah nicht auf, um zu schauen, ob er beim Klang ihres Namens zusammenzuckte. »Ihre Erinnerungen an ihn … sind sehr intensiv. Und als ich ihn dann persönlich kennengelernt habe …« Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist unmöglich, ihn nicht zu lieben. Es ist … schon in diesen Zellen angelegt, ihn zu lieben. Mir war bisher nicht klar, wie viel Einfluss ein Wirt auf mich haben kann. Vielleicht ist das nur bei menschlichen Körpern so. Vielleicht auch nur bei Melanie.«
»Spricht sie mit dir?« Er versuchte ruhig zu klingen, aber ich konnte jetzt seine Anspannung heraushören.
»Ja.«
»Wie oft?«
»Wenn sie es will. Wenn sie ein Interesse daran hat.«
»Und heute?«
»Wenig. Sie ist… irgendwie sauer auf mich.«
Er lachte überrascht auf. »Sie ist sauer? Warum?«
»Weil …« Konnte man hier zweimal wegen desselben Verbrechens belangt werden? »Nichts.«
Er hörte erneut die Lüge heraus und zog seine eigenen Schlüsse.
»Oh. Kyle. Sie wollte seinen Tod.« Er lachte wieder. »Das kann ich mir vorstellen.«
»Sie kann … ganz schön brutal sein«, stimmte ich zu. Ich lächelte, um die Beleidigung abzuschwächen.
Er fasste es nicht als Beleidigung auf. »Wirklich? Inwiefern?«
»Sie will, dass ich mich wehre. Aber ich … ich kann das nicht. Ich bin keine Kämpfernatur.«
»Das sehe ich.« Mit der Spitze eines Fingers berührte er mein zerschundenes Gesicht. »Entschuldigung.«
»Nein. Jeder an deiner Stelle hätte das Gleiche getan. Ich weiß, wie du dich gefühlt haben musst.«
»Du hättest das nicht getan.«
»Wenn ich ein Mensch wäre, schon. Im Übrigen habe ich das gar nicht gemeint … Ich habe eher an die Sucherin gedacht.«
Er erstarrte.
Ich lächelte wieder und er entspannte sich ein wenig. »Mel wollte, dass ich sie erwürge. Sie hasst diese Sucherin wirklich. Und ich kann es ihr nicht verübeln.«
»Sie sucht immer noch nach dir. Sieht aber so aus, als hätte sie immerhin den Hubschrauber zurückgeben müssen.«
Ich schloss die Augen, ballte die Fäuste und konzentrierte mich einige Sekunden lang auf meine Atmung.
»Ich habe mich früher nie vor ihr gefürchtet«, flüsterte ich. »Ich weiß nicht, warum mir das jetzt so viel Angst einjagt. Wo ist sie?«
»Keine Sorge. Gestern ist sie nur den Highway auf und ab gefahren. Sie wird dich nicht finden.«
Ich nickte und zwang mich selbst, daran zu glauben.
»Kannst du … kannst du Mel jetzt hören?«, murmelte er.
Ich hielt meine Augen geschlossen. »Ich bin … mir ihrer bewusst. Sie hört ganz genau zu.«
»Was denkt sie?« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
Das ist deine Chance, erklärte ich ihr. Was willst du ihm sagen?
Sie war ausnahmsweise vorsichtig. Die Aufforderung verunsicherte sie. Warum? Warum glaubt er dir jetzt?
Ich öffnete die Augen und sah, wie er mich mit angehaltenem Atem anblickte.
»Sie will wissen, was dazu geführt hat, dass du jetzt … anders bist. Warum glaubst du uns plötzlich?«
Er dachte einen Moment nach. »Das … hat verschiedene Gründe. Du warst so … nett zu Walter. Ich habe noch nie jemanden außer Doc mit so viel Mitgefühl gesehen. Und du hast Kyles Leben gerettet - die meisten von uns hätten ihn abstürzen lassen, mal ganz abgesehen von seinem Mordversuch. Und außerdem bist du eine miserable Lügnerin.« Er lachte auf. »Ich habe immer wieder versucht, all diese Dinge als Teile einer Riesenverschwörung zu interpretieren. Vielleicht wache ich morgen auf und habe wieder dasselbe Gefühl.«
Mel und ich zuckten zusammen.
»Aber als sie dich heute während der Sitzung so angegriffen haben … also, da hat es irgendwie klick gemacht. Ich habe all das in Ihnen gesehen, was ich nicht in mir haben will. Ich habe gemerkt, dass ich dir längst glaube und einfach nur stur bin. Grausam. Ich schätze, ich glaube dir schon seit … tja, eigentlich schon ein bisschen seit jener ersten Nacht, als du dich vor mich gestellt hast, um mich vor Kyle zu beschützen.« Er lachte, als hielte er Kyle nicht für gefährlich. »Aber ich bin ein besserer Lügner als du. Ich kann mich sogar selbst belügen.«
»Sie hofft, dass du es dir nicht noch mal anders überlegst. Davor hat sie Angst.«
Er schloss die Augen. »Mel.«
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Es war ihre Freude, die es antrieb, nicht meine. Er musste mittlerweile ahnen, wie sehr ich ihn liebte. Nach seinen Fragen über Jamie musste ihm das klar sein.
»Sag ihr … dass sie davor keine Angst haben muss.«
»Sie hört dich.«
»Wie … unmittelbar ist die Verbindung?«
»Sie hört, was ich höre, sieht, was ich sehe.«
»Fühlt, was du fühlst?«
»Ja.«
Er zog die Nase kraus. Dann berührte er erneut mein Gesicht, sanft, eine Liebkosung. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie leid es mir tut.«
Meine Haut glühte dort, wo er mich angefasst hatte; es war ein angenehmes Glühen, aber seine Worte brannten stärker als seine Berührung. Natürlich tat es ihm mehr leid, ihr wehgetan zu haben. Natürlich. Und es sollte mir eigentlich nichts ausmachen.
»Komm schon, Jared! Lass uns anfangen!«
Wir sahen auf. Kyle rief nach Jared. Er schien seltsamerweise blendender Laune zu sein, als hätte heute nicht sein Leben auf dem Spiel gestanden. Vielleicht hatte er gewusst, dass es so kommen würde. Vielleicht kam er über alles schnell hinweg. Er schien mich neben Jared nicht zu bemerken.
Erst jetzt fiel mir auf, dass andere uns sehr wohl bemerkt hatten.
Jamie beobachtete uns mit einem zufriedenen Lächeln. Er hielt das, was er sah, offenbar für etwas Positives. War es das denn?
Was meinst du damit?, fragte Melanie.
Was sieht er, wenn er uns betrachtet? Seine Familie, erneut vereint?
Ist das nicht so? In gewisser Weise?
Mit einem unerwünschten Zugang.
Aber besser als gestern.
Das schon …
Ich weiß, räumte sie ein. Ich bin froh, dass Jared weiß, dass ich hier bin … aber ich mag es immer noch nicht, wenn er dich berührt.
Und ich mag es umso mehr. Mein Gesicht prickelte an der Stelle, über die er mit seinen Fingern gestrichen hatte. Tut mir leid.
Ich werfe dir das nicht vor. Oder zumindest ist mir bewusst, dass ich es nicht tun sollte.
Danke.
Jamie war nicht der Einzige, der uns zusah.
Jeb war neugierig und sein übliches kleines Lächeln hob die Ränder seines Barts an.
Sharon und Maggie beobachteten uns mit blitzenden Augen. Ihr Gesichtsausdruck war so ähnlich, dass Sharon trotz ihrer jugendlichen Haut und ihres leuchtenden Haars nicht jünger aussah als ihrer ergraute Mutter.
Ian war beunruhigt. Er hatte die Augen zusammengekniffen und schien kurz davor, herüberzukommen, um mich mal wieder zu beschützen. Um sicherzugehen, dass Jared mich nicht aufregte. Ich lächelte ihn beruhigend an. Er lächelte nicht zurück, atmete aber tief durch.
Ich glaube nicht, dass das der Grund für seine Beunruhigung ist, sagte Mel.
»Hörst du ihr jetzt zu?« Jared war aufgestanden, betrachtete aber immer noch mein Gesicht.
Seine Frage lenkte mich ab, bevor ich Mel fragen konnte, was sie damit meinte. »Ja.«
»Was sagt sie?«
»Wir registrieren, was die anderen von deinem … Sinneswandel halten.« Mit einem Kopfnicken wies ich ihn auf Melanies Tante und Cousine hin. Sie kehrten mir beide gleichzeitig den Rücken zu.
»Harte Nüsse«, gab er zu.
»Na gut«, brüllte Kyle und drehte sich zu dem Ball um, der an der hellsten Stelle lag. »Dann gewinnen wir eben ohne dich.«
»Ich komm ja schon!« Jared warf mir - uns - einen sehnsüchtigen Blick zu und lief aufs Spielfeld.
Ich war nicht gerade toll im Tore zählen. Es war zu dunkel, um den Ball von dort, wo ich saß, sehen zu können. Es war sogar zu dunkel, um die Spieler richtig zu sehen, wenn sie nicht direkt unter den Lampen standen. Ich begann mich beim Zählen nach Jamies Reaktion zu richten. Seinem Siegesgebrüll, wenn seine Mannschaft ein Tor schoss, und seinem Stöhnen, wenn die andere traf. Er stöhnte öfter, als er brüllte.
Alle spielten mit. Maggie stand für Andys Mannschaft im Tor und Jeb für Lilys. Sie waren beide erstaunlich gut. Ich konnte sehen, wie sich ihre Silhouetten im Schein der Lampen, die als Torpfosten dienten, so geschmeidig bewegten, als wären sie Jahrzehnte jünger. Jeb schreckte nicht davor zurück, sich auf den Boden zu werfen, um den Ball zu halten, aber Maggie hatte mehr Erfolg, ohne zu solchen Extremen greifen zu müssen. Sie zog den unsichtbaren Ball wie ein Magnet an. Jedes Mal, wenn Ian oder Wes einen Schuss abgaben, landete er - zack! - in ihren Händen.
Trudy und Paige hörten nach etwa einer halben Stunde auf und kamen auf dem Weg nach draußen aufgeregt plaudernd an mir vorbei. Ich konnte kaum glauben, dass wir den Morgen mit einem Prozess begonnen hatten, aber ich war erleichtert darüber, dass sich die Dinge so drastisch verändert hatten.
Die beiden Frauen blieben nicht lange weg. Sie kamen mit Kartons beladen zurück. Müsliriegel - die mit Fruchtfüllung. Das Spiel wurde beendet: Jeb rief zur Halbzeitpause und alle eilten zum Frühstücken herbei.
Die Riegel wurden an der Mittellinie verteilt. Alle stürzten sich wie wild darauf.
»Hier, Wanda«, sagte Jamie und zwängte sich zwischen den anderen hindurch aus der Menschenmenge. Er hatte die Hände voller Müsliriegel und Wasserflaschen unter die Arme geklemmt.
»Danke. Macht es Spaß?«
»Und wie! Schade, dass du nicht mitspielen kannst.«
»Ein andermal«, sagte ich.
»Hier, für dich …« Auch Ian hatte die Hände voller Müsliriegel.
»Ätsch, ich war schneller«, erklärte Jamie.
»Oh«, sagte Jared, der an Jamies anderer Seite auftauchte. Er hatte ebenfalls zu viele Riegel für eine Person in der Hand.
Ian und Jared wechselten einen langen Blick.
»Wo ist das ganze Essen geblieben?«, wollte Kyle wissen. Er stand und über den leeren Karton gebeugt und sah sich auf der Suche nach dem Schuldigen im Raum um.
»Fang«, sagte Jared und feuerte die Müsliriegel einen nach dem anderen wie Messer auf ihn ab.
Kyle fing sie mühelos auf und kam dann herüber, um zu sehen, ob Jared ihm noch mehr vorenthielt.
»Hier«, sagte Ian und streckte seinem Bruder die Hälfte seiner Ladung entgegen, ohne ihn dabei anzusehen. »Und jetzt verschwinde.«
Kyle ignorierte ihn. Zum ersten Mal an diesem Tag sah er mich an. Er starrte auf mich herunter.
Ich rutschte weg und hielt den Atem an, als meine Rippen protestierten. Seine Augen wirkten schwarz im Gegenlicht. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.
Jared und Ian schlossen wie ein Bühnenvorhang die Reihe vor mir.
»Du hast gehört, was er gesagt hat«, sagte Jared.
»Kann ich noch was loswerden?«, fragte Kyle. Er lugte durch die Lücke zwischen ihnen zu mir herunter.
Sie antworteten nicht.
»Es tut mir nicht leid«, erklärte mir Kyle. »Ich glaube immer noch, dass ich das Richtige getan habe.«
Ian gab seinem Bruder einen Schubs. Kyle taumelte zurück, machte aber dann wieder einen Schritt nach vorn.
»Einen Moment, ich bin noch nicht fertig.«
»Doch, bist du«, sagte Jared. Er hatte die Fäuste geballt, die Haut über seinen Fingerknöcheln war weiß.
Alle hatten jetzt die Unruhe bemerkt. Der Raum war verstummt, die Fröhlichkeit des Spiels verpufft.
»Nein, bin ich nicht.« Kyle hob die Hände in einer Geste der Kapitulation. »Ich glaube nicht, dass ich etwas falsch gemacht habe, aber du hast mir das Leben gerettet. Ich weiß nicht, warum, aber du hast es getan. Also würde ich sagen, Leben gegen Leben. Ich werde dich nicht umbringen. So begleiche ich meine Schuld.«
»Du blödes Arschloch«, sagte Ian.
»Wer ist hier in einen Wurm verknallt, Mann? Und du nennst mich blöd?«
Ian hob die Fäuste und beugte sich vor.
»Ich werde dir sagen, warum«, sagte ich lauter als beabsichtigt. Aber es hatte den gewünschten Effekt. Ian, Jared und Kyle drehten sich zu mir um und vergaßen für den Moment ihren Kampf.
Das machte mich nervös. Ich räusperte mich. »Ich habe dich nicht abstürzen lassen, weil … weil ich nicht bin wie du. Damit will ich nicht sagen, dass ich nicht … wie ein Mensch bin. Denn es gibt hier noch andere, die genauso gehandelt hätten. Es gibt freundliche und gute Menschen hier. Menschen wie deinen Bruder und Jeb und Trudy … Ich sage nur, dass ich nicht so bin wie du ganz persönlich.«
Kyle starrte mich einen Moment lang an und prustete dann los. Er wandte sich von uns ab, da er seine Botschaft losgeworden war und ging weg, um sich Wasser zu holen. »Leben gegen Leben«, rief er über die Schulter zurück.
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm glauben konnte. Ganz und gar nicht sicher. Menschen waren gute Lügner.