Befreit
Jeb ließ mich ausheulen, ohne mich zu unterbrechen. Auch während des folgenden Geschniefes sagte er nichts. Erst nachdem ich eine gute halbe Stunde lang vollkommen still gewesen war, begann er zu sprechen.
»Bist du da drin noch wach?«
Ich antwortete nicht. Ich hatte mich zu sehr ans Schweigen gewöhnt.
»Willst du rauskommen und dich ein bisschen strecken?«, bot er an. »Mein Rücken tut ja schon weh, wenn ich nur an dieses blöde Loch denke.«
Merkwürdigerweise war ich nach dieser Woche unerträglicher Stille nicht in der Stimmung für Gesellschaft. Aber dieses Angebot konnte ich nicht ablehnen. Noch bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, zogen mich meine Hände schon durch den Ausgang.
Jeb saß im Schneidersitz auf der Matte. Ich beobachtete ihn, während ich meine Arme und Beine ausschüttelte und die Schultern kreisen ließ, um zu sehen, wie er reagierte, aber er hatte die Augen wieder geschlossen. Genau wie bei Jamies Besuch neulich sah er aus, als würde er schlafen.
Wie lange war es her, seit ich Jamie gesehen hatte? Und wie ging es ihm jetzt? Mein sowieso schon wundes Herz machte einen schmerzhaften kleinen Satz.
»Besser?«, fragte Jeb und öffnete die Augen.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Das wird schon, hör mal.« Er grinste über beide Ohren. »Was ich da zu Jared gesagt habe … na ja, ich habe nicht direkt gelogen, denn es ist alles wahr, wenn man es von einem bestimmten Blickwinkel aus betrachtet, aber von einem anderen Blickwinkel aus war es nicht so sehr die Wahrheit, sondern eher das, was er gerade brauchte.«
Ich starrte ihn bloß an; ich verstand kein Wort von dem, was er sagte.
»Wie auch immer. Jared muss mal etwas Abstand haben. Nicht von dir, Mädchen«, fügte er schnell hinzu, »aber von der ganzen Situation. Es wird ihm helfen, die Dinge mit anderen Augen zu sehen, wenn er eine Weile weg ist.«
Ich fragte mich, woher er so genau zu wissen schien, welche Wörter und Sätze mich treffen würden. Und selbst wenn, warum sollte es ihm etwas ausmachen, ob seine Worte mich verletzten, oder auch, ob mein Rücken schmerzte? Seine Freundlichkeit mir gegenüber war auf ihre ganz eigene Art angsteinflößend, weil sie mir unverständlich war. Jareds Verhalten ergab immerhin einen Sinn. Kyles und Ians Mordversuche, Docs fröhlicher Eifer, mir wehzutun - all das war ebenfalls logisch. Freundlichkeit nicht. Was wollte Jeb von mir?
»Mach nicht so ein finsteres Gesicht«, drängte er. »Sieh es doch mal positiv. Jared war verdammt stur, was dich angeht, und dass er jetzt zeitweise aus dem Weg ist, wird die Dinge hier sicher etwas angenehmer machen.«
Ich runzelte die Stirn, während ich versuchte zu verstehen, was er meinte.
»Das hier zum Beispiel«, fuhr er fort, »nutzen wir normalerweise als Lagerraum. Wenn Jared und die Jungs zurückkommen, werden wir Platz brauchen, um das ganze Zeugs zu verstauen, das sie mitbringen. Also können wir genauso gut jetzt schon ein neues Plätzchen für dich suchen. Vielleicht eins, das ein bisschen größer ist? Und wo es ein Bett gibt?« Er lächelte wieder, als er mir den Köder vor die Nase hielt.
Ich wartete darauf, dass er ihn wieder wegzog, dass er mir sagte, er mache nur Spaß.
Stattdessen sahen mich seine Augen - die die Farbe von verwaschenen Jeans hatten - überaus sanft an. Etwas in ihrem Ausdruck schnürte mir erneut die Kehle zu.
»Du musst nicht zurück in das Loch da, Kleines. Das Schlimmste hast du überstanden.«
Ich stellte fest, dass ich seinen ernsthaften Gesichtsausdruck nicht länger anzweifeln konnte. Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde legte ich die Hände vors Gesicht und weinte.
Er stand auf und tätschelte unbeholfen meine Schulter. Er schien sich angesichts meiner Tränen unwohl zu fühlen. »Ist ja gut«, murmelte er.
Diesmal fing ich mich schneller wieder. Als ich mir die Feuchtigkeit aus den Augen wischte und ihn schief anlächelte, nickte er wohlwollend.
»Braves Mädchen«, sagte er und tätschelte mich wieder. »Wir müssen allerdings noch hierbleiben, bis wir sicher sind, dass Jared wirklich weg ist und uns nicht erwischen kann.« Er grinste verschwörerisch. »Und dann werden wir Spaß haben!«
Mir fiel ein, dass seine Vorstellung von Spaß normalerweise solche Dinge wie bewaffnete Auseinandersetzungen umfasste.
Er schmunzelte über meinen Gesichtsausdruck. »Keine Sorge. Komm, während wir warten, kannst du genauso gut versuchen, dich ein bisschen auszuruhen. Ich wette, dass dir im Moment sogar diese dünne Matte verdammt bequem vorkommen wird.«
Ich sah von seinem Gesicht zu der Matte auf dem Boden und zurück.
»Na los«, sagte er. »Du siehst aus, als müsstest du dich mal richtig ausschlafen. Ich halte Wache.«
Gerührt und mit feuchten Augen legte ich mich auf die Matte und bettete meinen Kopf auf das Kissen. Es war himmlisch, obwohl die Matte wirklich dünn war. Ich dehnte mich mit ausgestreckten Zehen und Armen und hörte, wie meine Gelenke knackten. Dann kuschelte ich mich in die Matte. Es fühlte sich an, als umarmte sie mich und tilgte all die wunden Stellen. Ich seufzte.
»Tut gut, das zu sehen«, murmelte Jeb. »Wenn du weißt, dass jemand unter deinem Dach leidet - das fühlt sich an, wie wenn es dich juckt und du dich nicht kratzen kannst.«
Er ließ sich ein Stück von mir entfernt auf dem Boden nieder und begann leise zu summen. Bevor er den ersten Takt beendet hatte, war ich bereits eingeschlafen.
Als ich aufwachte, wusste ich, dass ich eine lange Zeit fest geschlafen hatte - länger als je zuvor, seit ich hier war. Ohne Schmerzen, ohne angsteinflößende Unterbrechungen. Ich hätte mich ziemlich gut gefühlt, wenn mich das Aufwachen auf dem Kissen nicht daran erinnert hätte, dass Jared weg war. Es roch immer noch nach ihm. Und zwar gut; nicht so, wie ich roch.
Und wieder bleiben uns nur die Träume. Melanie seufzte kläglich. Ich konnte mich nur undeutlich an meinen Traum erinnern, aber ich wusste, dass Jared darin vorgekommen war - wie immer, wenn ich tief genug schlafen konnte, um zu träumen.
»Morgen, Kleines«, sagte Jeb munter.
Ich öffnete die Augen einen Spaltbreit, um ihn anzusehen. Hatte er die ganze Nacht so gegen die Wand gelehnt dagesessen? Er sah nicht müde aus, aber ich bekam plötzlich Schuldgefühle, weil ich das bequemere Lager für mich gehabt hatte.
»Die Jungs sind inzwischen schon lange weg«, sagte er vergnügt. »Wie wär’s mit einer Führung?« Mit einer unbewussten Geste streichelte er das Gewehr, das er durch einen Gurt um seine Taille gesteckt hatte.
Ich öffnete die Augen ganz und starrte ihn ungläubig an. Eine Führung?
»Jetzt stell dich bloß nicht an. Kein Mensch wird dir etwas tun. Und du musst dich hier schließlich irgendwann selbst zurecht finden.«
Er streckte mir eine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.
Ich griff mechanisch danach, während mein Kopf sich drehte und ich zu verarbeiten versuchte, was er da sagte. Ich würde mich selbst zurechtfinden müssen? Warum? Und was meinte er mit irgendwann? Was glaubte er, wie lange ich noch am Leben bleiben würde?
Er zog mich auf die Füße und führte mich.
Ich hatte schon vergessen, wie es war, die dunklen Gänge an einer führenden Hand zu durchqueren. Es war so einfach - ich musste mich praktisch überhaupt nicht auf das Gehen konzentrieren.
»Mal sehen«, murmelte Jeb. »Vielleicht erst der linke Flügel. Da habe ich ein anständiges Plätzchen für dich vorbereitet. Dann die Küche …« Er plante weiter seine Führung, auch noch, als wir uns durch den schmalen Spalt in den hellen Tunnel schoben, der zu dem noch helleren großen Raum führte. Als das Geräusch von Stimmen an mein Ohr drang, spürte ich, wie mein Mund trocken wurde. Jeb plauderte weiter auf mich ein; entweder bemerkte er meine Angst nicht oder er ignorierte sie schlichtweg.
»Ich wette, die Möhren sprießen inzwischen«, sagte er, als er mich in die Haupthöhle führte. Das Licht blendete mich und ich konnte nicht erkennen, wer alles dort war, aber ich konnte ihre Blicke spüren. Die plötzliche Stille war so bedrohlich wie immer.
»Jawoll«, sagte Jeb zu sich selbst. »Ich finde jedes Mal wieder, dass es unheimlich schön aussieht. So ein leuchtendes Frühlingsgrün hat schon was.«
Er blieb stehen und forderte mich mit ausgestreckter Hand auf, es mir anzusehen. Ich blinzelte kurz in die Richtung, in die er zeigte; aber dann irrte mein Blick weiter durch den Raum, während ich darauf wartete, dass meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnten. Daher dauerte es einen Moment, bis ich sah, wovon er sprach. Ich hatte auch gesehen, dass heute vielleicht fünfzehn Leute hier waren, die mich alle feindselig anstarrten. Aber sie waren eigentlich mit etwas anderem beschäftigt.
Das große dunkle Rechteck, das die Mitte der großen Höhle einnahm, war nicht mehr dunkel. Die Hälfte davon war mit einem frühlingsgrünen Flaum überzogen, genau wie Jeb gesagt hatte. Es war wirklich schön. Und erstaunlich.
Kein Wunder, dass nie jemand auf diesem Rechteck stand. Es war ein Beet.
»Möhren?«, flüsterte ich.
Er antwortete in normaler Lautstärke. »Die Hälfte, die da jetzt zu sprießen beginnt. Auf der anderen Hälfte wächst Spinat. Der müsste in ein paar Tagen so weit sein.«
Die anderen Leute im Raum hatten begonnen weiterzuarbeiten. Sie warfen mir ab und zu einen verstohlenen Blick zu, konzentrierten sich aber hauptsächlich auf ihre Arbeit. Es war unverkennbar, was sie da taten und wozu das große Fass auf Rädern und die Schläuche dienten - jetzt, wo ich realisiert hatte, dass es sich um ein Beet handelte.
»Sie gießen?«, flüsterte ich wieder.
»Genau. Trocknet alles ganz schön aus in dieser Hitze.«
Ich nickte zustimmend. Es war noch früh, nahm ich an, aber ich war bereits völlig verschwitzt. Die Hitze, die von der intensiven Strahlung über unseren Köpfen stammte, war hier unten in der Höhle erdrückend. Ich versuchte erneut, mir die Decke anzusehen, aber sie war zu hell.
Ich zog Jeb am Ärmel und blinzelte in das blendende Licht. »Wie?«
Jeb lächelte, meine Neugier schien ihn zu freuen. »Genau wie bei den Zauberern - mit Spiegeln, Mädchen. Hunderte davon. Habe verdammt lange gebraucht, die alle da hochzukriegen. Wenn sie geputzt werden müssen, ist jede Hilfe willkommen. Weißt du, in der Decke sind nur vier kleine Öffnungen und die gaben nicht genug Licht für das, was ich im Kopf hatte. Was hältst du davon?«
Stolz drückte er die Brust raus.
»Brillant«, flüsterte ich. »Wirklich erstaunlich.«
Jeb grinste und nickte. Er genoss meine Reaktion.
»Lass uns weitergehen«, schlug er vor. »Ich habe heute noch eine Menge zu tun.«
Er führte mich zu einem anderen Tunnel, einer breiten, natürlich geformten Röhre, die von der großen Höhle aus nach rechts abbog. Das hier war Neuland für mich. Meine Muskeln verkrampften sich; ich bewegte mich mit steifen Beinen und durchgedrückten Knien vorwärts.
Jeb tätschelte mir die Hand, aber ansonsten ignorierte er meine Nervosität. »Hier befinden sich vor allem Schlafzimmer und ein paar Lagerräume. In diesem Bereich liegen die Röhren näher an der Oberfläche, daher war es leichter, hier Licht reinzubringen.«
Er zeigte auf einen hellen schmalen Spalt in der Tunneldecke über uns, der einen weißen Fleck von der Größe einer Hand auf den Boden warf.
Wir kamen an eine große Gabelung - die eigentlich nicht wie eine Gabel aussah, dafür hatte sie zu viele Zinken. Es war eher eine krakenartige Verzweigung von Gängen.
»Der Dritte von links«, sagte er und sah mich erwartungsvoll an.
»Der Dritte von links?«, wiederholte ich.
»Genau. Vergiss das nicht. Man kann sich hier leicht verirren und das ist gefährlich für dich. Es kann gut sein, dass die Leute hier dir eher ein Messer in den Rücken rammen, als dir den richtigen Weg zu zeigen.«
Ich schauderte. »Na toll«, murmelte ich mit leisem Sarkasmus. Er lachte, als hätte ihm meine Antwort gefallen. »Es bringt nichts, die Tatsachen zu leugnen. Dass man die Dinge laut ausspricht, macht sie nicht schlimmer.«
Es machte sie auch nicht besser, aber das behielt ich für mich. Ich fing gerade an, mich ein bisschen wohl zu fühlen. Es war so schön, dass wieder jemand mit mir sprach. Jeb war zumindest ein interessanter Gesprächspartner.
»Eins, zwei, drei«, zählte er ab und führte mich in den dritten Gang von links. Jetzt kamen wir an runden Eingängen vorbei, die auf unterschiedliche Arten behelfsmäßig verschlossen waren. Manche waren mit gemusterten Stoffbahnen verhängt, vor anderen waren große Stücke aus Pappe mit Paketband zusammengeklebt. Vor einem Loch lehnten zwei richtige Türen - eine aus rotgestrichenem Holz und eine aus grauem Metall.
»Sieben«, zählte Jeb und blieb vor einer runden Öffnung stehen, deren höchster Punkt meinen Kopf nur um wenige Zentimeter überragte. Hier sorgte ein hübscher, jadegrüner Seidenparavent für die Privatsphäre, der in einem eleganten Wohnzimmer als Raumteiler hätte dienen können. Die Seide war mit einem Muster aus Kirschblüten bestickt.
»Das ist der einzige Raum, der mir im Moment einfällt. Zumindest der einzige, der anständig genug hergerichtet ist, um eine menschenwürdige Unterkunft abzugeben. Er steht jetzt ein paar Wochen lang leer und bis er wieder gebraucht wird, fällt uns schon noch was Besseres für dich ein.«
Er faltete den Paravent zur Seite und helles Licht strahlte uns entgegen.
Der Raum, der zum Vorschein kam, hatte etwas Schwindelerregendes an sich - wahrscheinlich weil er so viel höher als breit war. Man hatte das Gefühl, in einem Turm oder einem Silo zu stehen. Nicht, dass ich jemals an solchen Orten gewesen war, aber das waren die Vergleiche, die Melanie zog. Die Decke, die doppelt so hoch war wie der Durchmesser des runden Raums, war ein Labyrinth aus Rissen. Wie Weinreben aus Licht rankten sich die Risse umeinander und verbanden sich beinahe. Das kam mir gefährlich vor, instabil. Aber Jeb hatte offenbar keine Angst davor, dass die Decke einbrechen könnte, als er mich hineinführte.
Auf dem Boden lag eine Doppelmatratze, die auf drei Seiten jeweils einen knappen Meter von der Wand entfernt war. Die zwei Kissen und zwei Decken, die auf beiden Hälften der Matratze lagen, schienen darauf hinzudeuten, dass dieser Raum ein Paar beherbergte. Ein dicker Holzstab - so etwas wie ein Rechenstiel - klemmte am anderen Ende des Zimmers in Schulterhöhe zwischen den Wänden, wobei die beiden Enden in je einem der Schweizer-Käse-Löcher im Fels steckten. Eine Handvoll T-Shirts und zwei Paar Jeans hingen darüber. Neben dem behelfsmäßigen Kleiderständer stand ein Holzstuhl an der Wand und auf dem Fußboden daneben lag ein kleiner Stapel zerlesener Taschenbücher.
»Wer?«, fragte ich, wobei ich wieder flüsterte. Es war so offensichtlich, dass dieser Raum jemandem gehörte, dass ich nicht länger das Gefühl hatte, allein zu sein.
»Einer der Jungs, die auf Beutetour sind. Der ist jetzt erst mal eine Weile weg. Und wenn er zurückkommt, finden wir was anderes für dich.«
Mir gefiel das nicht - der Raum schon, aber die Vorstellung, hier zu wohnen, nicht. Trotz der wenigen Habseligkeiten war die Präsenz des Bewohners sehr stark. Wer es auch sein mochte, er wäre nicht glücklich darüber, dass ich hier war. Er würde es verabscheuen.
Jeb schien meine Gedanken zu lesen - oder mein Gesichtsausdruck war so deutlich, dass das gar nicht nötig war.
»Komm schon«, sagte er. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Das hier ist mein Haus und dies nur eins meiner vielen Gästezimmer. Ich entscheide, wer mein Gast ist und wer nicht. Und jetzt bist du mein Gast und ich biete dir dieses Zimmer an.«
Es gefiel mir immer noch nicht, aber ich wollte Jeb auch nicht verärgern. Ich schwor mir, dass ich nichts anfassen würde, selbst wenn das bedeutete, dass ich auf dem Boden schlafen musste. »Na komm, gehen wir weiter. Nicht vergessen: dritter Gang von links, siebte Tür.«
»Grüner Paravent«, fügte ich hinzu.
»Genau.«
Jeb brachte mich zurück zu dem großen Gartenraum, wo wir das Beet umrundeten und unseren Weg durch den größten Tunnelausgang fortsetzten. Als wir an den Leuten vorbeikamen, die mit Gießen beschäftigt waren, verkrampften sie sich und drehten sich um aus Angst, mir den Rücken zuzukehren.
Dieser Tunnel war gut beleuchtet. Dafür sorgten helle Spalten in zu regelmäßigen Abständen, um natürlichen Ursprungs zu sein.
»Wir nähern uns jetzt noch weiter der Oberfläche. Es wird trockener, aber auch heißer.«
Ich bemerkte es fast augenblicklich. Anstatt zu zerfließen, wurden wir plötzlich gegrillt. Die Luft war weniger stickig und verbraucht. Ich konnte den Wüstenstaub riechen.
Auch vor uns waren jetzt Stimmen zu hören. Ich versuchte mich gegen die unvermeidliche Reaktion der Leute zu wappnen. Wenn Jeb darauf bestand, mich wie einen … wie einen Menschen zu behandeln, wie einen willkommenen Gast, würde ich mich daran gewöhnen müssen. Kein Grund, mich jedes Mal elend zu fühlen. Trotzdem hatte ich einen Knoten im Bauch.
»Hier ist die Küche«, erklärte mir Jeb.
Ich dachte erst, wir befänden uns in einem weiteren Tunnel, einem, der voller Menschen war. Ich drückte mich gegen die Wand und versuchte auf Distanz zu bleiben.
Die Küche war ein langer Gang mit einer hohen Decke, sie war höher als breit, so wie mein neues Quartier. Das Licht war hell und heiß - statt schmaler Spalten in dickem Fels hatte dieser Raum riesige offene Löcher.
»Wir können tagsüber natürlich nicht kochen. Wegen dem Rauch, weißt du? Also benutzen wir das hier bis zum Einbruch der Dunkelheit hauptsächlich als Speisesaal.«
Alle Gespräche waren auf einmal verstummt, so dass Jebs Worte deutlich zu verstehen waren. Ich versuchte mich hinter ihm zu verstecken, aber er ging weiter in den Raum hinein.
Wir hatten das Frühstück unterbrochen oder vielleicht war es auch das Mittagessen.
Die Menschen - fast zwanzig, überschlug ich schnell - waren hier sehr nah. Es war nicht wie in der großen Höhle. Am liebsten hätte ich meinen Blick starr auf den Boden gerichtet, aber ich konnte nicht vermeiden, dass er immer wieder durch den Raum huschte. Nur zur Sicherheit. Ich spürte, wie mein Körper sich anspannte, um wegzulaufen, nur wohin ich laufen würde, wusste ich nicht.
An beiden Wänden des Gangs erstreckten sich langgezogene Steinhaufen. Vor allem rohes, rötliches Vulkangestein, von einer helleren Substanz - Zement? - durchzogen, die Fugen bildete und die Steine zusammenhielt. Auf diesen Haufen lagen andere Steine, die eher braun und flach waren. Sie waren ebenfalls mit dem hellgrauen Mörtel zusammengeklebt. Das Ergebnis waren relativ ebene Flächen wie Tresen oder Tische. Es war offensichtlich, dass sie als beides genutzt wurden.
Die Menschen saßen oder lehnten daran, ungläubig erstarrt, als sie Jebs Privatführung bemerkten. Ich erkannte die Brötchen in ihren Händen, die zwischen den Tischen und ihren Mündern schwebten.
Ein paar von ihnen kannte ich bereits. Sharon, Maggie und der Doktor standen mir am nächsten. Melanies Cousine und Tante starrten Jeb wütend an - ich hatte das komische Gefühl, dass sie mich noch nicht einmal ansehen würden, wenn ich mich auf den Kopf stellen und mit voller Kraft Lieder aus Melanies Erinnerung grölen würde -, aber der Doktor beäugte mich mit unverhohlener und fast freundlicher Neugier, die mich frieren ließ.
Am anderen Ende des langgestreckten Raums erkannte ich den großen Mann mit dem pechschwarzen Haar und mein Herz begann zu rasen. Ich hatte gedacht, Jared würde die Brüder mitnehmen, um Jeb seinen Job, mich am Leben zu erhalten, etwas zu erleichtern. Wenigstens war es der Jüngere, Ian, der mit Verspätung so etwas wie ein Gewissen entwickelt hatte - nicht ganz so schlimm, als wenn Kyle hiergeblieben wäre. Allerdings vermochte dieser schwache Trost meinen Herzschlag nicht zu verlangsamen.
»Alle schon satt?«, fragte Jeb laut und ironisch.
»Uns ist der Appetit vergangen«, murmelte Maggie.
»Wie sieht’s mit dir aus?«, fragte er und wandte sich mir zu. »Hunger?«
Ein leises Murren ging durch unsere Zuhörerschaft.
Ich schüttelte den Kopf mit einer kleinen, aber hektischen Bewegung. Ich wusste noch nicht einmal, ob ich Hunger hatte oder nicht. Aber ich wusste, dass ich nicht vor den Augen dieser Menge essen konnte, deren größte Freude es gewesen wäre, mich zu verspeisen.
»Also ich schon«, knurrte Jeb. Er ging durch den Gang zwischen den Tresen, aber ich folgte ihm nicht. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, in die Reichweite der anderen zu geraten. Ich blieb, wo ich war, und presste mich weiterhin an die Wand. Nur Sharon und Maggie sahen ihm zu, wie er zu einer großen Plastikwanne ging, die auf einem der Tresen stand, und sich ein Brötchen nahm. Alle anderen sahen mich an. Ich war mir sicher, dass sie bei der kleinsten Bewegung über mich herfallen würden. Ich versuchte, nicht zu atmen.
»Schätze, wir gehen mal weiter«, schlug Jeb mit vollem Mund vor, als er zu mir zurückgeschlendert kam. »Offenbar kann sich kein Mensch hier auf sein Mittagessen konzentrieren. Ganz schön leicht abzulenken, die Bande.«
Ich war hauptsächlich auf der Hut vor schnellen, brüsken Bewegungen der Menschen, ohne groß auf ihre Gesichter zu achten, nachdem ich am Anfang die paar erkannt hatte, die ich benennen konnte. Deshalb bemerkte ich Jamie erst, als er aufstand.
Er war einen Kopf kleiner als die Erwachsenen neben ihm, aber größer als die zwei jüngeren Kinder, die auf der anderen Seite neben ihm auf dem Tresen saßen. Er sprang leichtfüßig auf den Boden und ging hinter Jeb her. Sein Gesichtsausdruck war starr und angespannt, als versuche er, eine schwierige Gleichung im Kopf zu lösen. Er fixierte mich aus schmalen Augen, als er sich mir in Jebs Windschatten näherte. Jetzt war ich nicht mehr die Einzige im Raum, die den Atem anhielt. Die Blicke der anderen wanderten zwischen mir und Melanies Bruder hin und her.
Oh, Jamie, dachte Melanie. Sie war entsetzt über den traurigen, erwachsenen Ausdruck auf seinem Gesicht und ich vermutlich sogar noch mehr. Sie fühlte sich nicht so schuldig daran wie ich.
Wenn wir das nur wieder rückgängig machen könnten, sagte sie und seufzte.
Dafür ist es zu spät. Aber was können wir jetzt noch tun, um es besser zu machen?
Es war nur eine rhetorische Frage, aber ich stellte fest, dass ich trotzdem nach einer Antwort suchte und Melanie ebenfalls. In dem winzigen Augenblick, der uns zum Nachdenken blieb, fanden wir keine. Ich war sicher, es gab auch keine. Aber wir wussten beide, dass wir weiter danach suchen würden, sobald diese dämliche Führung vorbei war und wir Gelegenheit zum Nachdenken hatten. Falls wir so lange am Leben blieben.
»Was gibt’s, Junge?«, fragte Jeb, ohne ihn anzusehen.
»Ich wollte bloß wissen, was ihr hier macht«, antwortete Jamie. Er bemühte sich, es beiläufig klingen zu lassen, was ihm auch fast gelang.
Jeb blieb stehen, als er bei mir angelangt war, und drehte sich zu Jamie um. »Ich mache eine Führung für sie. So wie für jeden Neuankömmling.«
Erneut war ein Murren zu vernehmen.
»Kann ich mitkommen?«, fragte Jamie.
Ich sah, wie Sharon mit wütendem Gesichtsausdruck heftig den Kopf schüttelte. Jeb ignorierte sie.
»Ich hab nichts dagegen … wenn du dich zu benehmen weißt.«
Jamie zuckte mit den Schultern. »Kein Problem.«
Jetzt konnte ich nicht länger stillhalten - und krallte die Hände vor meinem Körper ineinander. Ich hätte ihm so gern das strubbelige Haar aus der Stirn gestrichen und dann meinen Arm um seinen Nacken gelegt. Etwas, das sicher nicht besonders gut angekommen wäre.
»Na dann los«, sagte Jeb zu uns beiden. Er führte uns denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Jeb ging auf der einen Seite neben mir her und Jamie auf der anderen. Jamie schien zu versuchen, den Blick auf den Boden gerichtet zu halten, aber er sah immer wieder zu meinem Gesicht hoch - genau wie ich es nicht vermeiden konnte, zu seinem hinunterzuschauen. Immer wenn unsere Blicke sich trafen, sahen wir schnell weg.
Wir waren ungefähr in der Mitte des breiten Gangs, als ich leise Schritte hinter uns hörte. Ich reagierte blitzschnell und ohne nachzudenken, sprang zur Seite und schob Jamie mit einem Arm hinter mich, so dass ich zwischen ihm und wem auch immer, der es diesmal auf mich abgesehen hatte, zu stehen kam.
»He!«, protestierte er, aber er stieß meinen Arm nicht weg. Jeb war genauso schnell. Das Gewehr wirbelte in rasender Geschwindigkeit herum.
Ian und der Doktor hoben beide die Hände über den Kopf.
»Wir wissen uns auch zu benehmen«, sagte der Doktor. Es war schwer zu glauben, dass dieser Mann mit der sanften Stimme und dem freundlichen Gesicht der örtliche Folterer sein sollte; gerade weil sein Äußeres so gutmütig wirkte, hatte ich nur noch mehr Angst vor ihm. In einer dunklen und unheilvollen Nacht wäre man wachsam und vorbereitet. Aber an einem hellen, sonnigen Tag? Woher sollte man wissen, dass man fliehen musste, wenn man keinen Grund zur Flucht erkennen konnte?
Jeb sah Ian an, der Gewehrlauf folgte seinem Blick.
»Ich mache keinen Ärger, Jeb. Ich werde mich genauso gut benehmen wie Doc.«
»Gut«, sagte Jeb kurz angebunden und nahm das Gewehr herunter. »Aber provoziert mich bloß nicht. Ich habe schon verdammt lange keinen mehr erschossen und vermisse irgendwie den Kick.«
Ich keuchte. Alle hörten es und bemerkten meinen entsetzten Gesichtsausdruck. Der Doktor lachte als Erster, aber dann fiel sogar Jamie kurz ein.
»Das ist nur ein Witz«, flüsterte er mir zu. Seine Hand zuckte kurz, fast so, als wollte er sie nach meiner ausstrecken, aber er schob sie schnell in die Tasche seiner Shorts. Ich ließ meinen Arm - den ich schützend vor seinem Körper ausgestreckt hatte - ebenfalls sinken.
»Also dann, wir verplempern unsere Zeit«, sagte Jeb immer noch leicht mürrisch. »Seht zu, dass ihr hinterherkommt, ich habe nicht vor, auf euch zu warten.« Noch bevor er ausgeredet hatte, marschierte er weiter.