Fortgesetzt - Epilog

Das Leben und die Liebe gingen weiter im letzten menschlichen Stützpunkt auf dem Planeten Erde, aber es blieb nicht alles beim Alten.

Ich war nicht die Alte.

Dies war meine erste Wiedergeburt in einem Körper derselben Spezies. Ich fand den Wechsel viel schwieriger, als auf einem anderen Planeten neu anzufangen, weil ich bereits so viele konkrete Erwartungen an das Menschsein hatte. Außerdem hatte mir Petals Open to the Moon vieles vererbt, und nicht alles davon war angenehm.

Ich hatte eine Menge Trauer um Cloud Spinner geerbt. Ich vermisste die Mutter, die ich nie kennengelernt hatte, und trauerte, weil sie jetzt leiden musste. Vielleicht gab es auf diesem Planeten keine Freude, ohne dass einem zum Ausgleich anhand irgendeiner unbekannten Skala die entsprechende Menge an Schmerz zugewiesen wurde.

Ich hatte unerwartete Beschränkungen geerbt. Ich war einen starken, schnellen und großen Körper gewohnt - einen Körper, der meilenweit rennen, ohne Essen und Wasser auskommen, schwere Lasten heben und hohe Regalbretter erreichen konnte. Dieser Körper war schwach - und nicht nur in physischer Hinsicht; dieser Körper hatte aufgrund lähmender Schüchternheit Aussetzer, sobald ich mich unsicher fühlte, was dieser Tage häufig vorzukommen schien.

Ich hatte eine neue Rolle in der menschlichen Gemeinschaft. Die Leute trugen jetzt Sachen für mich und ließen mich vorangehen. Sie gaben mir die leichtesten Aufgaben und nahmen mir dann trotzdem meistens die Arbeit ab. Das Schlimmste war, dass ich die Hilfe brauchte. Meine Muskeln waren schwach und nicht ans Arbeiten gewöhnt. Ich ermüdete schnell und von meinen Versuchen, das zu verbergen, ließ sich niemand täuschen. Wahrscheinlich wäre ich noch nicht einmal in der Lage, einen Kilometer am Stück zu rennen.

Der Grund für diese Vorzugsbehandlung war allerdings nicht nur meine körperliche Schwäche. Ich hatte auch vorher schon ein hübsches Gesicht gehabt, aber eins, dem die Leute auch ängstliche, misstrauische oder sogar hasserfüllte Blicke zuwarfen. Mein neues Gesicht machte solche Gefühle unmöglich.

Die Leute streichelten oft meine Wange oder legten ihre Finger unter mein Kinn und hoben es an, um mich besser sehen zu können. Sie tätschelten mir häufig den Kopf (der leicht erreichbar war, da ich kleiner war als alle anderen außer den Kindern) und strichen mir so häufig übers Haar, dass ich es schon gar nicht mehr wahrnahm. Diejenigen, die mich früher nie akzeptiert hatten, taten das jetzt genauso oft wie meine Freunde. Sogar Lucina leistete nur symbolischen Widerstand, als ihre Kinder mir wie zwei treue Welpen zu folgen begannen. Besonders Freedom kletterte bei jeder Gelegenheit auf meinen Schoß und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. Isaiah war zu groß für solche Liebesbeweise, aber er hielt gern meine Hand - die genauso groß war wie seine -, während er sich aufgeregt mit mir über Spinnen und Drachen, Fußball und Beutetouren unterhielt. In Melanies Nähe wagten sich die Kinder dagegen immer noch nicht; ihre Mutter hatte sie früher zu gründlich verängstigt, als dass ihre gegenteiligen Beteuerungen daran jetzt noch etwas ändern konnten.

Sogar Maggie und Sharon konnten ihre frühere Unbeugsamkeit in meiner Gegenwart nicht aufrechterhalten, obwohl sie sich weiterhin Mühe gaben, mich nicht anzusehen.

Mein Körper war nicht die einzige Veränderung. Die späte Regenzeit brach an und darüber war ich froh.

Zum einen hatte ich noch nie den Regen auf den Kreosotbüschen gerochen - ich konnte mich nur undeutlich an meine Erinnerungen an Melanies Erinnerungen erinnern, was allerdings eine sehr schwache Verbindung war - und jetzt durchströmte der Geruch die muffigen Höhlen und ließ sie frisch und beinahe würzig duftend zurück. Der Geruch hing in meinen Haaren und folgte mir überallhin. Ich nahm ihn sogar mit in meine Träume.

Außerdem hatte Petals Open to the Moon ihr ganzes Leben in Seattle verbracht und die ununterbrochene Folge von blauem Himmel und brütender Hitze war genauso befremdlich - fast schon lähmend - für meinen Organismus, wie der niedrige Wolkenhimmel es für jeden dieser Wüstenbewohner gewesen wäre. Die Wolken waren aufregend, eine Abwechslung vom faden, immer gleichen Blassblau. Sie waren plastisch und bewegten sich. Sie malten Bilder an den Himmel.

Es war einiges neu zu organisieren in Jebs Höhlen, und der Umzug in die große Sporthalle - jetzt der Gemeinschaftsschlafsaal - war eine gute Vorbereitung für die neue Platzverteilung.

Jeder Platz wurde gebraucht, also durften keine Zimmer leer stehen. Allerdings konnte es auch jetzt noch niemand außer den beiden Neuankömmlingen ertragen, Wes’ altes Zimmer zu übernehmen: Candy - die sich endlich an ihren richtigen Namen erinnert hatte - und Lacey. Ich bemitleidete Candy wegen ihrer künftigen Zimmergenossin, aber die Heilerin ließ keine Unzufriedenheit über diese Aussichten erkennen.

Nach dem Ende der Regenzeit würde Jamie in eine Ecke von Brandts und Aarons Höhle ziehen. Melanie und Jared hatten Jamie hinausgeworfen und zu Ian geschickt, noch bevor ich in Pets Körper wiedergeboren worden war; Jamie war nicht mehr so klein, dass sie sich dafür irgendeine Entschuldigung ausdenken mussten.

Kyle war dabei, die schmale Spalte zu vergrößern, in der Walter geschlafen hatte, um fertig zu werden, bis die Wüste wieder trocken war. Mehr als einer hatte dort wirklich nicht hineingepasst und Kyle würde dort nicht allein wohnen.

Nachts in der Sporthalle schlief Sunny zusammengerollt an Kyles Brust, wie ein Kätzchen, das sich mit einem großen Hund angefreundet hatte - einem Rottweiler, dem es bedingungslos vertraute. Sunny war ununterbrochen mit Kyle zusammen. Ich konnte mich nicht erinnern, sie einmal getrennt gesehen zu haben, seit ich diese silbergrauen Augen zum ersten Mal geöffnet hatte.

Kyle wirkte ständig gedankenverloren, zu abgelenkt von dieser unmöglichen Beziehung, als dass er sich um irgendwas anderes kümmern konnte. Er gab Jodi nicht auf, aber wenn Sunny sich an ihn klammerte, hielt er sie sanft im Arm.

Vor dem Regen waren alle Plätze belegt, deshalb blieb ich bei Doc im Krankenflügel, der mir keine Angst mehr einjagte. Die Feldbetten waren nicht besonders bequem, aber es war ein interessanter Aufenthaltsort. Candy erinnerte sich an die Einzelheiten aus dem Leben von Summer Song besser als an ihr eigenes; im Krankenflügel wurden jetzt Wunder vollbracht.

Nach dem Regen würde Doc nicht mehr im Krankenflügel schlafen. In der ersten Nacht in der Sporthalle hatte Sharon ohne ein Wort der Erklärung ihre Matratze direkt neben Docs gezogen. Vielleicht war es Docs Interesse an der Heilerin, das Sharon dazu gebracht hatte, obwohl ich bezweifelte, dass Doc überhaupt aufgefallen war, wie hübsch die ältere Frau war; sein Interesse galt ihrem phänomenalen Wissen. Oder vielleicht war Sharon auch einfach bereit zu vergessen und zu vergeben. Ich hoffte, dass das der Fall war. Es wäre schön zu glauben, dass sogar Sharon und Maggie mit der Zeit besänftigt werden könnten.

Ich würde auch nicht länger im Krankenflügel bleiben.

Das entscheidende Gespräch mit Ian hätte vielleicht niemals stattgefunden, wenn Jamie nicht gewesen wäre. Immer wenn ich daran dachte, es anzusprechen, wurde mein Mund ganz trocken und meine Handflächen begannen zu schwitzen. Was, wenn diese Gefühle im Krankenflügel, diese wenigen perfekten Augenblicke der Sicherheit, nachdem ich in diesem Körper aufgewacht war, Einbildung gewesen waren? Was, wenn ich sie falsch in Erinnerung hatte? Ich wusste, dass sich für mich nichts geändert hatte, aber wie konnte ich sicher sein, dass Ian dasselbe fühlte? Der Körper, in den er sich verliebt hatte, war immer noch hier!

Ich ging davon aus, dass er ein bisschen durcheinander war - das waren wir alle. Wenn es schon für mich schwierig war - eine Seele, die an solche Veränderungen gewöhnt war - wie schwer musste es erst für die Menschen sein?

Ich gab mir große Mühe, die letzten Überbleibsel der Eifersucht und des irritierenden Nachhalls der Liebe, die ich immer noch für Jared empfand, hinter mir zu lassen. Ich brauchte und wollte sie nicht. Ian war der Richtige für mich. Aber manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich Jared anstarrte, und war verwirrt. Ich sah, wie Melanie Ians Hand oder Arm berührte und dann zurückzuckte, als fiele ihr plötzlich wieder ein, wer sie war. Sogar Jared, der am wenigsten Grund dazu hatte, unsicher zu sein, begegnete gelegentlich meinen verwirrten Augen mit einem suchenden Blick. Und Ian … Für ihn musste es natürlich am schwersten sein. Das konnte ich verstehen.

Wir waren fast so viel zusammen wie Kyle und Sunny. Ian berührte ständig mein Gesicht und meine Haare, hielt meine Hand. Aber wer reagierte auf diesen Körper nicht so? Und war es nicht auch für alle anderen rein platonisch? Warum küsste er mich nicht mehr, so wie am ersten Tag?

Vielleicht würde er mich in diesem Körper nie lieben können, egal, wie attraktiv er den anderen Menschen hier vorkam.

Diese Sorge lastete schwer auf mir, als Ian in jener Nacht mein Feldbett - weil es mir zu schwer war - in die große, dunkle Sporthalle getragen hatte.

Zum ersten Mal seit über sechs Monaten regnete es. Die Leute lachten und meckerten, als sie ihr feuchtes Bettzeug ausschüttelten und sich häuslich einrichteten.

»Hier rüber, Wanda«, rief Jamie und winkte mich zu sich. Er hatte gerade seine Matratze neben Ians gelegt. »Hier passen wir jetzt alle drei hin.«

Jamie war der Einzige, der mich fast genauso behandelte wie vorher. Mein zierliches Äußeres machte einen gewissen Unterschied, aber er schien nie überrascht, wenn ich einen Raum betrat, oder erschrocken, wenn Wanderers Worte über diese Lippen kamen.

»Du willst nicht im Ernst auf diesem Feldbett schlafen, oder, Wanda? Ich bin sicher, wir passen alle bequem auf die beiden Matratzen, wenn wir sie zusammenschieben.« Jamie grinste mich an, während er die eine Matratze mit dem Fuß an die andere kickte, ohne auf meine Zustimmung zu warten. »Du nimmst ja nicht so viel Platz weg.«

Er nahm Ian das Feldbett ab und stellte es zur Seite. Dann streckte er sich ganz am Rand der hinteren Matratze aus und kehrte uns den Rücken zu.

»Oh, übrigens, Ian«, fügte er hinzu, ohne sich umzudrehen. »Ich habe mit Brandt und Aaron gesprochen und ich glaube, ich werde bei ihnen einziehen. Okay, ich bin völlig fertig. Nacht, Leute.«

Ich starrte Jamies regungslose Gestalt eine ganze Weile lang an. Ian rührte sich genauso wenig. Er hatte wohl kaum ebenfalls eine Panikattacke. Überlegte er, wie er sich aus der Affäre ziehen konnte?

»Licht aus«, bellte Jeb vom anderen Ende des Raumes her. »Haltet endlich mal die Klappe, damit ich die Augen zuklappen kann und ‘ne Mütze voll Schlaf kriege.«

Die Leute lachten, aber nahmen ihn wie immer ernst. Nach und nach gingen die vier Lampen aus, bis der Raum im Dunkeln lag.

Ians Hand tastete nach meiner; sie fühlte sich warm an. Merkte er, wie kalt und verschwitzt meine Haut war?

Er kniete sich auf die Matratze und zog mich sachte mit sich. Ich folgte ihm und legte mich in die Ritze zwischen den beiden Matratzen. Er hielt weiter meine Hand.

»Ist das okay so?«, wisperte Ian. Um uns herum wurden noch andere Gespräche im Flüsterton geführt, von denen man beim Rauschen der Schwefelquelle allerdings nichts verstehen konnte.

»Ja, danke«, antwortete ich.

Jamie rollte sich herum, wobei die Matratze wackelte, und stieß gegen mich. »Ups, ‘tschuldigung, Wanda«, murmelte er und dann hörte ich ihn gähnen.

Automatisch machte ich ihm Platz. Ian lag näher, als ich gedacht hatte; ich keuchte leise, als ich gegen ihn stieß, und versuchte wieder von ihm abzurücken. Plötzlich hatte er seinen Arm um mich gelegt und mich an sich gezogen.

Es war ein überaus seltsames Gefühl - von Ian auf diese völlig unplatonische Art umarmt zu werden, erinnerte mich komischerweise an meine erste Erfahrung mit dem Schmerzlos. Als hätte ich, ohne es zu wissen, Qualen ausgestanden und seine Berührung hätte all meinen Schmerz gelindert.

Dieses Gefühl vertrieb meine Schüchternheit. Ich drehte mich zu ihm um und er zog mich noch fester an sich.

»Ist das okay so?«, flüsterte ich und wiederholte damit seine Frage.

Er küsste mich auf die Stirn. »Mehr als nur okay.«

Wir schwiegen ein paar Minuten lang. Die meisten anderen Gespräche waren verstummt.

Er neigte den Kopf zu mir, so dass seine Lippen direkt neben meinem Ohr waren, und flüsterte leiser als vorher. »Wanda, glaubst du …?« Er verstummte.

»Ja?«

»Na ja, es sieht so aus, als hätte ich jetzt ein Zimmer für mich allein. Das ist nicht in Ordnung.«

»Nein. Es ist nicht genug Platz in den Höhlen, dass du allein bleiben könntest.«

»Ich will auch nicht allein bleiben. Aber …«

Warum fragte er nicht? »Aber was?«

»Hattest du inzwischen genug Zeit, um die Dinge für dich zu klären? Ich will dich nicht drängen. Ich weiß, dass das alles verwirrend für dich ist … mit Jared …«

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, was er da sagte, aber dann kicherte ich leise. Melanie hatte nie viel gekichert, aber Pet schon und ihr Körper überrumpelte mich in diesem höchst unpassenden Augenblick.

»Was?«, wollte er wissen.

»Ich habe dir Zeit gelassen, um die Dinge für dich zu klären«, erklärte ich ihm flüsternd. Ich wollte dich nicht drängen - weil ich weiß, dass das alles verwirrend für dich ist. Mit Melanie.«

Er fuhr vor Überraschung zusammen. »Du dachtest …? Aber Melanie ist nicht du. Ich war überhaupt nicht verwirrt.«

Jetzt lächelte ich im Dunkeln. »Und Jared ist nicht du.«

Er antwortete mit belegter Stimme. »Aber er ist immer noch Jared. Und du liebst ihn.«

War Ian wieder eifersüchtig? Ich sollte mich nicht über negative Gefühle freuen, aber ich musste zugeben, dass mir das Mut machte.

»Jared ist meine Vergangenheit, ein anderes Leben. Du bist die Gegenwart.«

Er schwieg einen Moment. Als er wieder sprach, war seine Stimme ganz heiser, so bewegt war er. »Und deine Zukunft, wenn du willst.«

»Ja, das will ich.«

Und dann küsste er mich auf die unplatonischste Weise, die umgeben von so vielen Menschen nur möglich war, und ich war überglücklich, dass ich klug genug gewesen war, ein falsches Alter anzugeben.

Der Regen würde irgendwann aufhören und dann würden Ian und ich zusammen sein, ein echtes Paar. Das war ein Versprechen und eine Verpflichtung, die ich in all meinen Leben noch nicht eingegangen war. Beim Gedanken daran war ich glücklich und ängstlich und schüchtern und unwahrscheinlich ungeduldig gleichzeitig - wie ein Mensch

Nachdem all das geklärt war, waren Ian und ich noch unzertrennlicher als vorher. Und als es Zeit wurde, dass ich mein neues Gesicht an den anderen Seelen ausprobierte, kam er natürlich mit.

Diese Beutetour würde eine Erleichterung für mich sein nach all den Wochen der Frustration. Es war schlimm genug, dass mein neuer Körper schwach und in den Höhlen beinahe nutzlos war; aber ich konnte es kaum glauben, als die anderen nicht zulassen wollten, dass ich meinen Körper für die einzige Sache, für die er perfekt geeignet war, einsetzte.

Jared hatte Jamies Wahl explizit gutgeheißen, und zwar gerade wegen dieses unschuldigen, verletzlichen Gesichts, das niemand je anzweifeln konnte, und dieser fragilen Statur, die jeder versuchen würde zu beschützen - aber selbst er hatte Probleme damit, seine Theorie in die Praxis umzusetzen. Ich war sicher, dass mir eine Tour genauso leichtfallen würde wie vorher, aber Jared, Jeb, Ian und die anderen - alle außer Jamie und Mel - debattierten tagelang darüber und versuchten einen Weg zu finden, um mich davon auszuschließen. Es war lächerlich.

Ich sah, wie sie Sunny beäugten, aber sie hatte sich noch nicht bewiesen, sie konnten ihr nicht bedingungslos vertrauen. Außerdem hatte Sunny nicht die geringste Absicht, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Schon allein beim Wort Beutetour duckte sie sich entsetzt. Kyle würde uns nicht begleiten; als er einmal auch nur davon gesprochen hatte, war Sunny total hysterisch geworden.

Am Ende siegten praktische Gründe. Ich wurde gebraucht. Es war gut, gebraucht zu werden.

Die Vorräte waren deutlich geschrumpft; es würde ein langer Trip werden. Jared führte die Tour wie üblich an, daher war klar, dass auch Melanie mit von der Partie war. Aaron und Brandt meldeten sich freiwillig. Nicht, dass sie wirklich gebraucht wurden, aber sie waren es leid, eingesperrt zu sein.

Wie würden weit nach Norden fahren und ich war ganz aufgeregt bei dem Gedanken, so viel Neues zu sehen - und wieder Kälte zu spüren.

Wenn ich aufgeregt war, geriet dieser Körper leicht außer Kontrolle. Ich war ganz aufgekratzt und hibbelig, als wir durch die Nacht zum Steinschlag fuhren, wo der Lieferwagen und der Umzugslaster versteckt waren. Ian lachte über mich, weil ich kaum stillhalten konnte, als wir die Kleider und alles, was wir sonst brauchen würden, in den Lieferwagen packten. Er hielt meine Hand, um mich an der Erdoberfläche zu verankern, wie er sagte.

War ich zu laut gewesen? Hatte ich zu wenig auf die Umgebung geachtet? Nein, das war es natürlich nicht. Ich hätte nichts tun können. Das hier war eine Falle und in dem Moment, als wir hier eintrafen, war es bereits zu spät für uns.

Wir erstarrten, als die schmalen Lichtkegel aus der Dunkelheit hervorschossen und Jared und Melanie ins Gesicht leuchteten. Mein Gesicht, meine Augen, die uns vielleicht hätten helfen können, blieben im Dunkeln, verborgen in dem Schatten, den Ians breiter Rücken warf.

Ich wurde von dem Strahl nicht geblendet und der Mond schien hell genug, dass ich die Sucher, die in der Überzahl waren - acht gegen uns sechs -, deutlich sehen konnte. Hell genug, dass ich ihre Hände sehen konnte, in denen Waffen glitzerten, die sie auf uns gerichtet hatten. Auf Jared und Mel, auf Brandt und Aaron - der unser einziges Gewehr noch gar nicht gezückt hatte - und einer zielte mitten auf Ians Brust.

Warum hatte ich ihn mitkommen lassen? Warum musste auch er sterben? Lilys fassungslose Frage hallte in meinem Kopf wider: Warum gingen das Leben und die Liebe weiter? Was hatte das für einen Sinn?

Mein zerbrechliches kleines Herz zersprang in eine Million Stücke und ich tastete nach der Kapsel in meiner Tasche.

»Ganz ruhig, Leute, keine Panik«, rief der Mann in der Mitte der Suchergruppe. »Wartet, wartet, schluckt bloß nichts! Verdammt, jetzt wartet doch! Seht mich an!«

Der Mann richtete die Taschenlampe auf sein eigenes Gesicht.

Es war sonnengebräunt und zerfurcht, wie ein zerklüfteter Felsen. Sein Haar war dunkel mit weißen Schläfen und lockte sich in einem buschigen Durcheinander über seinen Ohren. Und seine Augen - seine Augen waren dunkelbraun. Einfach nur dunkelbraun, sonst nichts.

»Seht ihr?«, sagte er. »Also, ihr erschießt uns nicht und wir erschießen euch nicht, okay?« Er legte die Waffe, die er in der Hand hielt, auf den Boden. »Los, Leute«, sagte er und die anderen steckten ihre Waffen zurück in die Halfter - an ihren Hüften, ihren Knöcheln, ihren Rücken … so viele Waffen.

»Als wir euer Versteck hier entdeckt haben - verdammt gerissen, es war nicht leicht zu finden - haben wir beschlossen, auf euch zu warten, um eure Bekanntschaft zu machen. Man trifft schließlich nicht jeden Tag auf eine andere Widerstandszelle.« Er stieß ein fröhliches Lachen aus, das tief aus seinem Bauch kam. »Ihr solltet mal eure Gesichter sehen! Was ist? Dachtet ihr etwa, ihr wärt die Einzigen, die hier noch herumspringen?« Er lachte erneut.

Niemand von uns hatte sich von der Stelle gerührt.

»Ich glaube, sie stehen unter Schock, Nate«, sagte ein anderer Mann.

»Was erwartet ihr?«, fragte eine Frau. »Wir haben sie schließlich halb zu Tode erschreckt.«

Sie warteten, traten von einem Fuß auf den anderen, während wir stocksteif dastanden.

Jared war der Erste, der sich von dem Schreck erholt hatte. »Wer zum Teufel seid ihr?«, flüsterte er.

Der Anführer lachte wieder. »Ich bin Nate - schön, euch zu treffen, auch wenn ihr vielleicht gerade noch nicht dasselbe empfindet. Das hier sind Rob, Evan, Blake, Tom, Kim und Rachel.« Er wies auf die Mitglieder seiner Gruppe und die Menschen nickten jeweils, wenn ihr Name genannt wurde. Ich bemerkte einen Mann, der etwas weiter hinten stand und den Nate nicht vorstellte. Er hatte einen rötlichen Krauskopf, der auffiel - vor allem, da er der Größte der Gruppe war -, und er war der Einzige, der unbewaffnet zu sein schien. Er starrte mich ebenfalls durchdringend an, so dass ich den Blick abwandte. »Insgesamt sind wir allerdings dreiundzwanzig«, fuhr Nate fort.

Er streckte die Hand aus.

Jared holte tief Luft und machte dann einen Schritt nach vorn. Bei seiner Bewegung atmeten wir anderen alle gleichzeitig leise aus.

»Ich bin Jared.« Er schüttelte Nate die Hand und lächelte. »Das hier sind Melanie, Aaron, Brandt, Ian und Wanda. Wir sind insgesamt siebenunddreißig.«

Als Jared meinen Namen nannte, verlagerte Ian sein Gewicht und versuchte mich komplett vor den anderen Menschen zu verbergen. Erst da wurde mir bewusst, dass ich immer noch genauso in Gefahr war, wie die anderen es gewesen wären, wenn es sich bei der Gruppe wirklich um Sucher gehandelt hätte. Genau wie am Anfang. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen.

Bei Jareds Worten blinzelte Nate, dann wurden seine Augen groß. »Donnerwetter. Das ist das erste Mal, dass ich in dieser Hinsicht übertroffen werde.«

Jetzt blinzelte Jared. »Ihr seid schon anderen begegnet?«, stieß er hervor.

»Wir wissen von drei weiteren unabhängigen Zellen. Elf bei Gail, sieben bei Russell und achtzehn bei Max. Wir halten Kontakt. Treiben gelegentlich sogar Handel.« Wieder das Bauchgelächter. »Gails kleine Ellen hat beschlossen, dass sie gern meinem Evan hier Gesellschaft leisten würde, und Carlos hat sich mit Russells Cindy zusammengetan. Und natürlich brauchen alle ab und zu Burns …« Er hielt abrupt inne und sah sich unbehaglich um, als hätte er das nicht sagen sollen. Sein Blick blieb kurz an dem großen Rotschopf im Hintergrund hängen, der mich immer noch ansah.

»Kannst es genauso gut auch gleich loswerden«, sagte der kleine dunkle Mann direkt neben Nate.

Nate ließ einen misstrauischen Blick über unsere kleine Gruppe schweifen. »Okay. Rob hat Recht. Raus damit.« Er holte tief Luft. »Also, jetzt bleibt bitte ganz entspannt und lasst uns ausreden. Ganz ruhig, bitte. Das hier macht die Leute manchmal ein bisschen nervös.«

»Immer«, murmelte der Mann namens Rob. Er griff an das Halfter an seiner Hüfte.

»Was?«, fragte Jared ausdruckslos.

Nate seufzte und zeigte dann auf den großen Mann mit den roten Haaren. Der Mann trat vor, ein gequältes Lächeln im Gesicht. Er hatte Sommersprossen wie ich, aber Tausende davon. Sie bedeckten sein Gesicht so vollständig, dass er gebräunt aussah, obwohl er ganz blass war. Seine Augen waren dunkel - dunkelblau vielleicht.

»Das ist Burns. Er gehört zu uns, also dreht nicht durch. Er ist mein bester Freund - hat mir schon hundertmal das Leben gerettet. Er gehört zur Familie und wir haben es nicht gern, wenn jemand versucht, ihn umzubringen.«

Eine der Frauen zog langsam ihre Waffe und hielt sie auf den Boden gerichtet.

Der Rotschopf erhob zum ersten Mal seine ausgesprochen freundliche Tenorstimme: »Es ist alles in Ordnung, Nate. Siehst du? Sie haben selber eine.« Er zeigte direkt auf mich und Ian verkrampfte sich. »Scheint so, als wäre ich nicht der Einzige, der mit den Einheimischen zusammenlebt.«

Burns grinste mich an und kam dann mit ausgestreckter Hand durch den leeren Raum - das Niemandsland zwischen den beiden Stämmen - auf mich zu.

Ich trat hinter Ian hervor und ignorierte seine gemurmelte Warnung. Plötzlich fühlte ich mich wohl und sicher.

Mir gefiel, wie Burns es ausgedrückt hatte. Mit den Einheimischen zusammenleben.

Burns blieb vor mir stehen und senkte die Hand ein bisschen, um den enormen Größenunterschied zwischen uns auszugleichen. Ich ergriff seine Hand - sie fühlte sich auf meiner zarten Haut hart und schwielig an - und schüttelte sie.

»Burns Living Flowers«, stellte er sich vor.

Beim Klang seines Namens bekam ich große Augen. Die Feuerwelt - wie unerwartet.

»Wanderer«, sagte ich.

»Wie … außergewöhnlich, dich zu treffen, Wanderer. Und da dachte ich, ich wäre der Einzige meiner Art.«

»Nicht annähernd«, sagte ich, wobei ich an Sunny zu Hause in den Höhlen dachte. Vielleicht war keiner von uns so einzigartig, wie er gedacht hatte.

Fasziniert hob er eine Augenbraue.

»Wirklich?«, fragte er. »Na, vielleicht besteht dann ja doch noch Hoffnung für diesen Planeten.«

»Seltsame Welt«, murmelte ich, mehr an mich gerichtet als an die andere Seele.

»Die seltsamste von allen«, pflichtete er mir bei.