Gelangweilt

Den Rest des Tages verbrachte ich in fast völligem Schweigen.

Die einzige Ausnahme war Jeb, der Jared und mir ein paar Stunden später etwas zu essen brachte. Als er das Tablett im Eingang meiner winzigen Höhle absetzte, lächelte er mich entschuldigend an.

»Danke«, flüsterte ich.

»Gern geschehen«, erwiderte er.

Ich hörte, wie Jared knurrte. Unser kurzer Wortwechsel ärgerte ihn offenbar.

Das war das einzige Geräusch, das Jared während des ganzen Tages von sich gab. Ich war sicher, dass er da draußen war, hörte aber noch nicht einmal einen Atemzug, der diese Vermutung bestätigen konnte.

Es war ein furchtbar langer Tag - furchtbar beengt und furchtbar eintönig. Ich probierte jede nur erdenkliche Stellung aus, aber es gelang mir nie, mich komplett auszustrecken. Mir tat ständig der Rücken weh.

Melanie und ich dachten viel über Jamie nach. Wir fürchteten, ihm durch unser Herkommen geschadet zu haben, ihn zu verletzen. Was zählte verglichen damit schon ein gehaltenes Versprechen?

Zeit hatte jede Bedeutung verloren. Ob die Sonne gerade unterging oder der Morgen dämmerte - hier unter der Erde bekam ich davon nicht das Geringste mit. Melanie und mir ging der Gesprächsstoff aus. Teilnahmslos zappten wir durch unsere gemeinsamen Erinnerungen wie durch Fernsehprogramme, ohne uns irgendetwas genauer anzusehen. Ich döste ein bisschen, schlief aber nicht richtig ein, weil es so unbequem war.

Als Jeb endlich zurückkam, hätte ich sein ledriges Gesicht küssen können. Er steckte den Kopf durch den Eingang und grinste über beide Ohren.

»Zeit für den nächsten Gang?«, fragte er mich. Ich nickte eifrig.

»Ich mach das schon«, knurrte Jared. »Gib mir das Gewehr.«

Ich zögerte, verrenkt im Durchschlupf zu meiner Höhle kauernd, bis Jeb mir zunickte.

»Auf geht’s«, sagte er.

Steif und schwankend kletterte ich hinaus. Ich nahm die Hand, die Jeb mir entgegenstreckte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jared machte ein angewidertes Geräusch und sah weg. Er hielt das Gewehr so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Der Anblick der Waffe in seiner Hand gefiel mir nicht. Er beunruhigte mich stärker als bei Jeb.

Jared machte keine Zugeständnisse, so wie Jeb. Ohne auf mich zu warten, stapfte er los in den dunklen Tunnel hinein.

Es war schwierig, ihm zu folgen. Er machte kaum Geräusche und er führte mich nicht, deshalb hielt ich beim Gehen eine Hand vor meinem Gesicht ausgestreckt und die andere legte ich an die Wand, damit ich nicht gegen den Fels lief. Ich stürzte auf dem unebenen Boden zweimal. Er half mir zwar nicht beim Aufstehen, wartete aber, bis er hören konnte, dass ich wieder auf die Füße gekommen war. Als wir durch einen geraderen Abschnitt des Gangs liefen, kam ich ihm einmal zu nah und berührte mit meiner suchend ausgestreckten Hand seinen Rücken, befühlte die Form seiner Schultern, bis ich bemerkte, dass es keine Wand war, an die ich da stieß. Er machte einen Satz nach vorn und entzog sich meinen Fingern mit einem wütenden Zischen.

»Entschuldigung«, murmelte ich und spürte, wie meine Wangen in der Dunkelheit zu glühen begannen.

Er antwortete nicht, ging jedoch schneller, so dass es noch schwieriger war, ihm zu folgen.

Ich war verwirrt, als schließlich ein schwacher Lichtschein vor uns auftauchte. Waren wir eine andere Strecke gegangen? Dies war nicht das weiße Strahlen aus der großen Höhle. Das Licht war gedämpft, blass und silbrig. Aber der schmale Spalt, durch den wir mussten, schien derselbe zu sein … Erst als ich in dem riesigen, hallenden Raum stand, wurde mir klar, woher der Unterschied rührte.

Es war Nacht und das Licht, das matt von oben hereinschien, ähnelte eher dem Licht des Mondes als dem der Sonne.

Jetzt, wo das Licht nicht so blendete, nutzte ich die Gelegenheit, mir die Decke anzusehen und zu versuchen, ihr Geheimnis zu entschlüsseln. Es sah aus, als beleuchteten hundert kleine Monde von hoch oben, ganz weit über mir, mit ihrem schwachen Licht den dunklen Boden hier unten. Die kleinen Monde waren in unregelmäßigen Grüppchen über die Decke verstreut, manche weiter entfernt als andere. Ich schüttelte den Kopf. Auch wenn ich das Licht jetzt direkt ansehen konnte, verstand ich immer noch nicht, woher es kam.

»Komm schon«, rief Jared ärgerlich, der mir schon mehrere Schritte voraus war.

Ich zuckte zusammen und ging schnell weiter. Es tat mir leid, dass ich mich hatte ablenken lassen. Ich konnte sehen, wie sehr es ihn aufbrachte, mit mir reden zu müssen.

Diesmal erwartete ich nicht die Hilfe einer Taschenlampe, als wir den Raum mit den Flüssen erreichten - und bekam sie auch nicht. Der Raum war ebenfalls schwach erleuchtet, wie die große Höhle, aber nur von gut zwanzig Miniaturmonden. Jared starrte die Decke an, während ich zögernd den Raum mit dem pechschwarzen Becken betrat. Wahrscheinlich würde er es als glückliche Fügung des Schicksals ansehen, wenn ich in den tosenden unterirdischen Fluss stolperte und verschwand.

Ich glaube, er wäre traurig, widersprach Melanie mir, als ich mich an der Wand entlang durch das finstere Badezimmer tastete. Wenn wir reinfallen würden.

Das bezweifle ich. Vielleicht würde es ihn an den Schmerz erinnern, den er empfunden hat, als er dich zum ersten Mal verlor, aber er wäre froh, wenn ich verschwände.

Weil er dich nicht kennt, flüsterte Melanie und zog sich dann zurück, als wäre sie plötzlich erschöpft.

Überrascht blieb ich stehen. Ich war mir nicht ganz sicher, aber es schien fast so, als hätte mir Melanie gerade ein Kompliment gemacht.

»Beeil dich«, bellte Jared aus dem anderen Raum.

Ich machte so schnell, wie die Dunkelheit und meine Angst es zuließen.

Als wir zurückkehrten, wartete Jeb neben der blauen Lampe auf uns; zu seinen Füßen konnte ich zwei zerknautschte Rollen und zwei unregelmäßige Rechtecke ausmachen. Ich hatte sie vorher nicht bemerkt. Vielleicht war er sie holen gegangen, während wir weg gewesen waren.

»Schläfst du heute Nacht hier oder ich?«, fragte Jeb beiläufig.

Jared warf einen Blick auf die Sachen zu Jebs Füßen.

»Ich«, antwortete er kurz angebunden. »Und ich brauche nur eine Matte.«

Jeb hob eine dichte Augenbraue.

»Es gehört nicht zu uns, Jeb. Du hast mir die Verantwortung übertragen - also halt dich da raus.«

»Sie ist aber auch kein Tier, Junge. Und du würdest noch nicht mal einen Hund so behandeln.«

Jared antwortete nicht.

»Ich habe dich nie für einen grausamen Menschen gehalten«, sagte Jeb sanft. Aber er hob eine der Rollen auf, schob seinen Arm durch den Trageriemen und hängte sie sich über die Schulter, dann klemmte er sich das Rechteck - ein Kissen - unter den Arm.

»Tut mir leid, Kleines«, sagte er, als er an mir vorbeikam und tätschelte mir die Schulter.

»Komm, lass das!«, knurrte Jared.

Jeb zuckte mit den Schultern und schlenderte davon. Noch bevor er außer Sicht war, verschwand ich schnell in meiner Zelle; ich versteckte mich in der dunkelsten Ecke und rollte mich zu einer kleinen Kugel zusammen, die hoffentlich niemand bemerken würde.

Anstatt lautlos und unsichtbar draußen im Tunnel wache zu halten, breitete Jared seine Matte genau vor dem Eingang zu meiner Zelle aus. Er schüttelte sein Kissen ein paarmal auf, vermutlich um mir unter die Nase zu reiben, dass er eins hatte. Dann legte er sich auf die Unterlage und verschränkte die Arme vor der Brust. Das war der Teil von ihm, den ich durch das Loch sehen konnte - die verschränkten Arme und ein Stück von seinem Bauch.

Seine Haut war von demselben Goldbraun, das mich während des letzten halben Jahres in meinen Träumen heimgesucht hatte. Es war sehr seltsam, diesen Teil meines Traums ganz real nur anderthalb Meter vor mir zu haben. Surreal.

»Glaub nicht, dass du an mir vorbeischleichen kannst«, warnte er mich. Seine Stimme klang sanfter als vorhin - schläfrig. »Wenn du es versuchst…«, er gähnte, »… bringe ich dich um.«

Ich antwortete nicht. Die Warnung kam mir wie eine Beleidigung vor. Wieso sollte ich versuchen, an ihm vorbei zu schleichen? Wo sollte ich denn hin? Mich in die Hände der Barbaren begeben, die da draußen auf mich warteten und sich alle wünschten, ich würde genau so einen bescheuerten Versuch unternehmen? Oder sollte ich - angenommen, ich käme irgendwie an ihnen vorbei - zurück da raus in die Wüste, die mich bei meinem letzten Versuch, sie zu durchqueren, beinahe zu Tode gegrillt hatte? Was glaubte er eigentlich, wozu ich fähig war? Was für einen Plan heckte ich seiner Meinung nach aus, um ihre kleine Welt zu zerstören? Machte ich wirklich einen so mächtigen Eindruck? War es nicht überdeutlich, wie jämmerlich hilflos ich war?

Ich merkte, dass er fest schlief, als er zu zucken begann. Melanie erinnerte sich, dass er das im Schlaf immer dann tat, wenn ihn etwas aufregte. Ich sah, wie seine Finger sich verkrampften und wieder lösten, und fragte mich, ob er träumte, er hätte sie um meinen Hals gelegt.

Die folgenden Tage - vielleicht eine Woche, es war unmöglich, den Überblick zu behalten - verliefen sehr ruhig. Jared war eine schweigende Mauer zwischen mir und allem anderen auf der Welt, dem Guten und Schlechten. Ich hörte nichts außer meinem eigenen Atem, meinen eigenen Bewegungen; ich sah nichts außer der schwarzen Höhle um mich herum, dem Kreis aus gedämpftem Licht, dem vertrauten Tablett mit den immer gleichen Mahlzeiten, den kurzen Blicken auf Jared, die ich erhaschen konnte; ich spürte nichts außer den spitzen Steinen auf meiner Haut; ich schmeckte nichts außer dem bitteren Wasser, dem harten Brot, der faden Suppe, den holzigen Wurzeln, immer und immer wieder.

Es war eine überaus eigenartige Kombination: die ständige Angst, der ununterbrochene körperliche Schmerz und die entsetzliche Eintönigkeit. Von allen dreien war die tödliche Langeweile am schwersten zu ertragen. Mein Gefängnis war eine Isolationszelle, in der ich von jeglichen Sinneseindrücken abgeschnitten war.

Melanie und ich machten uns beide Sorgen, dass wir verrückt wurden.

Wir hören beide eine Stimme im Kopf, erklärte sie. Das ist kein gutes Zeichen.

Wir werden noch das Sprechen verlernen, sagte ich besorgt. Wie lange ist es her, dass jemand mit uns geredet hat?

Vor vier Tagen hast du dich bei Jeb dafür bedankt, dass er dir etwas zu essen gebracht hat, und er hat gesagt: »Gern geschehen.« Ich glaube zumindest, dass es vier Tage her ist. Auf jeden Fall ist es vier lange Schlafphasen her. Sie schien zu seufzen. Hör auf, an den Nägeln zu kauen - es hat Jahre gedauert, bis ich mir das endlich abgewöhnt hatte.

Aber die langen, scharfen Nägel störten mich. Ich glaube nicht, dass wir uns langfristig noch groß Gedanken um schlechte Angewohnheiten machen müssen.

Jared ließ nicht mehr zu, dass Jeb uns das Essen brachte. Stattdessen stellte es jemand am Ende des Gangs ab und Jared holte es. Ich bekam zweimal am Tag das Gleiche - Brot, Suppe und drei Wurzeln. Jared bekam manchmal noch etwas extra, abgepackte Lebensmittel mit Namen, die ich wiedererkannte - Lakritze, Snickers, Pop Tarts. Ich versuchte mir vorzustellen, wie diese Delikatessen in die Hände der Menschen gelangt waren.

Ich rechnete nicht damit, dass er mir etwas davon abgab - natürlich nicht -, aber ich fragte mich manchmal, ob er dachte, ich würde darauf hoffen. Eine meiner seltenen Ablenkungen war es, ihn seine Schätze essen zu hören, weil er es immer so zelebrierte - vielleicht wollte er es mir genauso unter die Nase reiben wie das mit dem Kissen in der ersten Nacht.

Einmal riss Jared langsam eine Packung Käsecracker auf - so langsam wie immer - und der herrliche Duft von künstlichem geriebenen Käse erfüllte meine Höhle: köstlich, unwiderstehlich. Er aß langsam und ließ mich jedes einzelne Knuspern hören.

Mein Magen knurrte laut und ich lachte über mich selbst. Ich hatte so lange nicht mehr gelacht. Ich versuchte mich an das letzte Mal zu erinnern und es gelang mir nicht - mir fiel nur dieser eigenartige Ausbruch von makabrer Hysterie in der Wüste ein, der eigentlich nicht als Lachen zählte. Sogar bevor ich hierhergekommen war, hatte es nicht viel gegeben, was ich lustig gefunden hatte.

Aber aus irgendeinem Grund fand ich das hier jetzt unheimlich komisch - mein Magen, der sich nach diesem einen kleinen Käsecracker sehnte - und ich lachte wieder. Sicher ein Anzeichen für Irrsinn.

Es war mir nicht klar, was für ein Problem Jared mit meiner Reaktion hatte, aber er stand auf und verschwand. Nach einer Weile konnte ich ihn wieder Käsecracker essen hören, aber von weiter weg. Ich spähte aus dem Loch und sah, dass er im Schatten am anderen Ende des Gangs saß und mir den Rücken zugewandt hatte. Ich zog meinen Kopf zurück, damit er mich, falls er sich umdrehte, nicht dabei erwischte, wie ich ihn beobachtete. Von da an hielt er sich so oft wie möglich hinten am Ende des Gangs auf. Nur nachts streckte er sich direkt vor meinem Gefängnis aus.

Zweimal pro Tag - oder besser gesagt, zweimal pro Nacht, da er mich nie hinbrachte, wenn die anderen unterwegs waren - durfte ich zu dem Raum mit den Flüssen gehen. Trotz meiner Angst war das großartig, da es die einzige Zeit war, in der ich mich nicht in der unnatürlichen Stellung zusammenkauern musste, die die kleine Höhle mir aufzwang. Es fiel mir jedes Mal schwerer, zurück in mein Loch zu klettern.

Dreimal in dieser Woche, immer zur Schlafenszeit, kam jemand, um nach uns zu sehen.

Das erste Mal war es Kyle.

Ich wachte davon auf, dass Jared plötzlich aufsprang. »Verschwinde«, drohte er mit gezücktem Gewehr.

»Ich will ja nur mal gucken«, sagte Kyle. Seine Stimme war weit weg, aber laut und grob genug, dass ich sicher sein konnte, dass es nicht sein Bruder war. »Eines Tages bist du vielleicht gerade nicht hier. Eines Tages schläfst du vielleicht zu fest.«

Jareds einzige Antwort war es, das Gewehr zu spannen.

Ich hörte Kyles Gelächter hinter ihm verhallen, als er wieder ging.

Wer es die anderen beiden Male war, wusste ich nicht. Wieder Kyle oder vielleicht Ian oder vielleicht jemand, dessen Namen ich nicht kannte. Alles, was ich wusste, war, dass ich noch zweimal davon aufwachte, dass Jared aufsprang und das Gewehr auf einen Eindringling richtete. Es wurde kein Wort gesprochen. Wer auch immer da »nur mal gucken« wollte, machte sich nicht die Mühe, irgendwas zu sagen. Als sie weg waren, schlief Jared schnell wieder ein. Ich brauchte länger, um meinen Herzschlag zu beruhigen.

Beim vierten Mal war es anders.

Ich schlief noch nicht ganz, als Jared aus dem Schlaf hochschreckte und sich mit einer schnellen Bewegung auf die Knie drehte. Mit dem Gewehr in der Hand und einem Fluch auf den Lippen stand er auf.

»Ganz ruhig«, murmelte eine entfernte Stimme. »Ich komme in friedlicher Absicht.«

»Egal, was du mir andrehen willst, ich kaufe dir nichts ab«, knurrte Jared.

»Ich will bloß mit dir reden.« Die Stimme kam näher. »Du sitzt hier unten fest und verpasst die wichtigen Debatten … wir vermissen deine Sicht auf die Dinge.«

»Bestimmt«, sagte Jared sarkastisch.

»Komm schon, nimm die Knarre runter. Wenn ich vorgehabt hätte, dich anzugreifen, hätte ich diesmal vier Leute mitgebracht.«

Es herrschte kurzes Schweigen, und als Jared wieder sprach, war eine Spur schwarzen Humors in seiner Stimme zu vernehmen. »Wie geht’s deinem Bruder dieser Tage?«, fragte er. Die Frage schien ihn zu amüsieren. Seinen Besucher aufziehen zu können, entspannte ihn. Er setzte sich hin und lehnte sich vor meinem Gefängnis an die Wand, gelassen, aber das Gewehr immer bereit.

Mein Hals tat mir weh; er schien zu merken, dass die Hände, die ihn gewürgt und ihm Schmerzen zugefügt hatten, ganz in der Nähe waren.

»Er ist immer noch stinksauer wegen seiner Nase«, sagte Ian. »Was soll’s - ist schließlich nicht das erste Mal, dass sie gebrochen ist. Ich sag ihm, dass es dir leid tut.«

»Tut es gar nicht.«

»Ich weiß. Niemandem tut es leid, Kyle zu schlagen.«

Sie lachten leise miteinander; es hatte etwas Kameradschaftliches an sich, das irgendwie nicht hierher passte, zu dem Gewehr, das Jared locker auf Ian gerichtet hielt. Aber die Bande, die an diesem verzweifelten Ort geknüpft wurden, mussten ziemlich fest sein. Dicker als Blut.

Ian setzte sich neben Jared auf die Matte. Ich konnte die Umrisse seines Profils erkennen, eine schwarze Silhouette vor dem blauen Licht. Ich stellte fest, dass er eine perfekt geformte Nase hatte - gleichmäßig, leicht gekrümmt, die Art Nase, die ich auf Bildern von berühmten Skulpturen gesehen hatte. Hieß das, dass die anderen ihn erträglicher fanden als den Bruder, dessen Nase schon so oft gebrochen worden war? Oder dass er besser den Kopf einziehen konnte?

»Also, was willst du, Ian? Wahrscheinlich nicht nur eine Entschuldigung für Kyles Nase.«

»Hat Jeb es dir gesagt?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Sie haben die Suche eingestellt. Sogar die Sucher.«

Jared sagte nichts, aber ich konnte seine plötzliche Anspannung spüren.

»Wir haben sie genau beobachtet, um keine Veränderung zu verpassen, aber sie machten nicht den Eindruck, als wären sie übermäßig beunruhigt. Die Suche reichte nie über die Gegend, wo wir das Auto zurückgelassen haben, hinaus, und in den letzten Tagen haben sie eindeutig eher nach einer Leiche als nach einem Überlebenden gesucht. Vorletzte Nacht kam uns dann ein glücklicher Zufall zu Hilfe - der Suchtrupp hat Müll offen herumliegen lassen und ein Rudel Kojoten hat ihr Lager geplündert. Eins der Wesen kam spät zurück und überraschte die Tiere. Die Kojoten haben es angegriffen und knapp hundert Meter in die Wüste verschleppt, bevor die anderen seine Schreie hörten und ihm zu Hilfe kamen. Die Sucher waren natürlich bewaffnet. Sie konnten die Kojoten problemlos vertreiben und es war nicht ernsthaft verletzt, aber der Vorfall scheint ein paar ihrer Fragen zum Verbleib unseres Gastes hier beantwortet zu haben.«

Ich fragte mich, wie sie es geschafft hatten, die Sucher auszuspionieren, die nach mir gefahndet hatten - und so viel herauszufinden. Ich fühlte mich irgendwie ungeschützt bei dem Gedanken. Die Vorstellung von unsichtbaren Menschen, die ihnen verhasste Seelen beobachteten, gefiel mir nicht. Ich bekam eine Gänsehaut.

»Also haben sie ihren Kram zusammengepackt und sind verschwunden. Die Sucher haben die Sache abgebrochen. Alle Freiwilligen sind weg. Keiner sucht mehr danach.« Sein Profil wandte sich mir zu und ich duckte mich in der Hoffnung, dass es hier drin zu dunkel für ihn war, um mich zu erkennen - dass ich wie sein Gesicht nur als schwarze Silhouette zu sehen war. »Ich nehme an, es ist offiziell für tot erklärt worden, falls sie diese Dinge so handhaben, wie wir es gemacht haben. Jeb sagt allen ständig: ›Ich hab’s euch doch gleich gesagt‹, ob sie es hören wollen oder nicht.«

Jared grummelte irgendwas Unverständliches; ich konnte nur Jebs Namen heraushören. Dann holte er tief Luft, ließ sie wieder ausströmen und sagte: »Okay, das war’s dann vermutlich.«

»Sieht so aus.« Ian zögerte einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Außer … na ja, es hat wahrscheinlich überhaupt nichts zu bedeuten.«

Jared verkrampfte sich wieder. Es gefiel ihm nicht, die Informationen nur scheibchenweise zu bekommen. »Sag schon.«

»Keiner außer Kyle schenkt der Sache viel Beachtung und du weißt ja, wie Kyle ist.«

Jared grunzte zustimmend.

»Du hast das beste Gespür für solche Dinge und ich wollte deine Meinung hören. Deshalb bin ich hier und setze mein Leben aufs Spiel, indem ich in die verbotene Zone eindringe«, sagte Ian trocken, aber gleich darauf war seine Stimme wieder ganz ernst. »Weißt du, da ist eins dieser Wesen … ein Sucher, daran besteht kein Zweifel - es hat eine Glock

Ich brauchte eine Sekunde, um das Wort zu verstehen, dass er benutzte. Es gehörte nicht zu Melanies üblichem Wortschatz. Als mir klar wurde, dass er von einer Pistole sprach, verursachte mir der sehnsüchtige, neidische Unterton in seiner Stimme Übelkeit.

»Kyle war der Erste, dem aufgefallen ist, dass dieses eine aus der Reihe tanzte. Die anderen schienen es nicht wirklich ernst zu nehmen - zumindest war es nicht an der Entscheidungsfindung beteiligt. Oh, Vorschläge machte es eine Menge, soweit wir das erkennen konnten, aber offenbar hat das niemanden besonders interessiert. Ich wünschte, wir hätten hören können, was es sagte …«

Ich bekam erneut eine Gänsehaut.

»Wie auch immer«, fuhr Ian fort, »als sie die Suche abgebrochen haben, war dieses eine Wesen äußerst unzufrieden mit der Entscheidung. Es war … eigenartig. Du weißt doch, dass die Parasiten immer so … unheimlich freundlich sind. Es war komisch - etwas, das einem Streit so nahe kam, habe ich bisher bei ihnen noch nicht beobachtet. Kein echter Streit, denn von den anderen hat eigentlich niemand mitgestritten, aber das Unzufriedene sah sehr wohl so aus, als wolle es mit ihnen streiten. Der Kern des Suchertrupps hat es ignoriert, sie sind alle weg.«

»Aber das Unzufriedene?«, fragte Jared.

»Es ist ins Auto gestiegen und fast bis nach Phoenix gefahren. Dann ist es zurück nach Tucson gefahren und dann wieder nach Westen.«

»Es sucht immer noch.«

»Oder ist verdammt durcheinander. Es hat an dem Tankstellen-Shop neben dem Picacho Peak gehalten. Mit dem Parasiten geredet, der da arbeitet, obwohl er bereits befragt worden war.«

»Hm«, grunzte Jared. Er war jetzt interessiert und konzentrierte sich auf die Lösung des Rätsels.

»Dann ist es den Berg hochgestiegen - dummes kleines Ding. Es muss vor Hitze eingegangen sein, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.«

Ein Krampf schüttelte meinen Körper und drückte mich fester an den Fels. Instinktiv gingen meine Hände in die Höhe, um mein Gesicht zu schützen. Ich hörte, wie ein Zischen durch den kleinen Raum hallte, und erst als es nachließ, stellte ich fest, dass es von mir stammte.

»Was war denn das?«, fragte Ian erschrocken.

Ich linste durch meine Finger hindurch und sah, wie ihre beiden Gesichter durch das Loch zu mir hereinblickten. Ians Gesicht lag im Dunkeln, aber Jareds Züge wurden teilweise angestrahlt, sie waren hart wie Stein.

Ich wollte ruhig sein, unsichtbar, aber ein unkontrollierbares Zittern lief mir den Rücken hinunter.

Jared verschwand und kam mit der Lampe in der Hand wieder zum Vorschein.

»Sieh dir seine Augen an«, murmelte Ian. »Es hat Angst.«

Jetzt konnte ich beide Gesichter erkennen, aber ich sah nur Jared an. Sein forschender Blick durchbohrte mich. Ich nahm an, er ließ alles, was Ian gesagt hatte, noch einmal Revue passieren und suchte nach einem Hinweis, was mein Verhalten ausgelöst haben könnte.

Meine Hände hörten nicht auf zu zittern.

Sie wird niemals aufgeben, jammerte Melanie.

Ich weiß, ich weiß, jammerte ich ebenfalls.

Wann war unsere Abneigung zu Angst geworden? Mein Magen krampfte sich zusammen. Warum konnte sie mich nicht einfach für tot erklären wie die anderen? Wenn ich wirklich tot war, würde sie mich dann immer noch jagen?

»Wer ist die Sucherin in Schwarz?«, fuhr mich Jared plötzlich an.

Meine Lippen zitterten, aber ich antwortete nicht. Es war am sichersten zu schweigen.

»Ich weiß, dass du sprechen kannst«, knurrte Jared. »Du sprichst mit Jeb und Jamie. Und jetzt wirst du mit mir sprechen.«

Er kletterte durch den Höhleneingang, wobei er überrascht schnaufte, als er feststellte, wie klein er sich machen musste, um hindurchzupassen. Die niedrige Decke zwang ihn dazu, sich hinzuknien, was ihm nicht besonders gefiel. Es war offensichtlich, dass er lieber vor mir gestanden hätte.

Ich konnte nirgendwohin, ich quetschte mich bereits in die hinterste Ecke. Die Höhle bot kaum Platz für uns beide. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren.

»Sag mir, was du weißt«, befahl er.