Angezweifelt

Wieder ein Platschen. Kyles Gewicht zerrte an meinen Armen. »Wanda? Wanda!«

»Hilf mir! Kyle! Der Boden! Hilfe!«

Mein Gesicht wurde gegen den Stein gepresst und ich blickte zum Eingang der Höhle. Das Licht von oben wurde mit der Morgendämmerung immer heller. Ich hielt den Atem an. Meine Arme taten höllisch weh.

»Wanda! Wo bist du?«

Ian kam mit dem Gewehr im Anschlag durch die Tür gestürzt. Sein Gesicht war genauso wütend wie zuvor das seines Bruders.

»Pass auf!«, rief ich ihm zu. »Der Fußboden bricht ein! Ich kann ihn nicht viel länger halten!«

Ian brauchte zwei lange Sekunden, um die Situation zu verarbeiten, die so anders war als die, die er erwartet hatte - Kyle, der versuchte mich umzubringen. Die Situation, die es vor nur wenigen Augenblicken auch gewesen war.

Dann ließ er das Gewehr auf den Höhlenboden fallen und machte einen großen Schritt auf mich zu.

»Runter mit dir - verteil dein Gewicht!«

Er ging auf alle viere und kam schnell auf mich zugekrabbelt, seine Augen glühten im Morgenlicht.

»Nicht loslassen«, sagte er eindringlich.

Ich stöhnte vor Schmerz.

Er schätzte die Situation noch eine weitere Sekunde lang ein, dann schob er sich hinter mich und drückte mich noch näher an den Felsen. Seine Arme waren länger als meine, und obwohl ich zwischen ihnen war, gelang es ihm, die Hände um seinen Bruder zu schlingen.

»Eins, zwei, drei«, keuchte er.

Er zog Kyle hoch und drückte ihn gegen den Felsen, viel fester, als ich es gekonnt hatte. Die Bewegung quetschte mein Gesicht an die Säule. Allerdings mit der verletzten Seite - da konnte nicht mehr viel passieren.

»Ich werde ihn hier rüber ziehen. Kannst du dich rauszwängen?«

»Ich versuche es.«

Ich ließ Kyle langsam los, nachdem ich sicher war, dass Ian ihn fest im Griff hatte. Meine entlasteten Schultern schmerzten. Dann wand ich mich zwischen Ian und dem Felsen hervor, vorsichtig darauf bedacht, die gefährlichen Abschnitte des Bodens zu vermeiden. Ich kroch ein Stück rückwärts auf die Tür zu, bereit, nach Ian zu greifen, sollte er ebenfalls beginnen abzurutschen.

Ian wuchtete seinen reglosen Bruder mit kleinen Bewegungen um die Säule herum. Es brachen noch weitere Stücke des Fußbodens ab, aber das Fundament der Säule blieb weiterhin stehen. Etwa zwei Fuß jenseits der Felssäule bildete sich eine neue Kante.

Ian kroch wie ich rückwärts und zog seinen Bruder mit ruckartigen Muskel- und Willensanstrengungen hinter sich her. Nach einer Minute waren wir alle am Anfang des Gangs angelangt, Ian und ich heftig keuchend.

»Was … zum Teufel… war hier los?«

»Unser Gewicht … war zu … groß. Der Boden ist eingebrochen.«

»Was hast du … da am Rand gemacht? Mit Kyle?«

Ich ließ den Kopf sinken und konzentrierte mich aufs Atmen.

Los, sag es ihm.

Was passiert dann?

Du weißt genau, was dann passiert. Kyle hat die Regeln verletzt. Jeb wird ihn erschießen oder sie schmeißen ihn raus. Vielleicht wird Ian ihn vorher noch kräftig vermöbeln. Das würde ich gerne sehen.

Melanie meinte es nicht so - das konnte ich mir zumindest nicht vorstellen. Sie war bloß immer noch sauer auf mich, weil ich unser Leben riskiert hatte, um unseren Beinahe-Mörder zu retten.

Genau, erwiderte ich. Und wenn sie Kyle meinetwegen rausschmeißen … oder ihn umbringen … Ich schauderte. Begreifst du nicht, wie widersinnig das wäre? Er ist einer von euch.

Wir haben hier eine Zukunft, Wanda. Das setzt du aufs Spiel.

Es ist auch meine Zukunft. Und ich bin … na ja, ich bin ich.

Melanie knurrte mürrisch.

»Wanda?«, fragte Ian.

»Nichts«, murmelte ich.

»Du bist eine miserable Lügnerin. Das weißt du auch, stimmt’s?«

Ich hielt den Kopf gesenkt und atmete.

»Was hat er getan?«

»Nichts«, log ich. Ich log schlecht.

Ian nahm mein Kinn in die Hand und hob meinen Kopf. »Deine Nase blutet.« Er drehte mein Gesicht zur Seite. »Und außerdem hast du Blut in den Haaren.«

»Ich … ich bin mit dem Kopf aufgeschlagen, als der Boden eingebrochen ist.«

»Auf beiden Seiten?«

Ich zuckte mit den Schultern.

Ian sah mich eine ganze Weile an. Die Dunkelheit hier im Tunnel dämpfte den Glanz in seinen Augen.

»Wir sollten ihn zu Doc bringen - er hat sich bei seinem Sturz ziemlich den Kopf angeschlagen.«

»Warum schützt du ihn? Er hat versucht, dich umzubringen.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Sein Gesichtsausdruck wechselte langsam von Wut zu Entsetzen. Er stellte sich vor, was wir auf dem brüchigen Vorsprung gemacht hatten - das konnte ich an seinem Blick ablesen. Als ich nicht antwortete, sprach er flüsternd weiter. »Er wollte dich in den Fluss werfen …« Ein seltsames Zittern durchfuhr seinen Körper.

Er hatte immer noch einen Arm um Kyle geschlungen, so wie er zu Boden gesunken war, und schien zu erschöpft, um sich zu bewegen. Doch jetzt schob er seinen bewusstlosen Bruder grob zur Seite und rückte angewidert von ihm weg. Er rutschte an mich heran, legte mir die Arme um die Schultern und zog mich an seine Brust - ich konnte seinen Atem ein- und ausströmen spüren, immer noch unregelmäßiger als normalerweise.

Es fühlte sich komisch an.

»Ich sollte ihn geradewegs wieder zurückrollen und ihn eigenhändig über den Rand schubsen.«

Ich schüttelte heftig mit dem Kopf, der vor Schmerzen pochte. »Nein.«

»Spart Zeit. Jebs Regeln sind eindeutig. Wenn du versuchst, jemandem hier etwas zu tun, wirst du bestraft. Es gibt einen Prozess …«

Ich versuchte mich von ihm zu lösen, aber er umfasste mich noch fester. Es machte mir keine Angst, nicht so wie bei Kyle. Aber es machte mich nervös - brachte mich aus dem Gleichgewicht. »Nein. Das könnt ihr nicht machen, weil niemand die Regeln verletzt hat. Der Boden ist weggebrochen, das ist alles.«

»Wanda …«

»Er ist dein Bruder.«

»Er wusste, was er tat. Er ist mein Bruder, das stimmt, aber er hat getan, was er getan hat, und du bist… du bist… meine Freundin.«

»Er hat gar nichts getan. Er ist ein Mensch«, flüsterte ich. »Das hier ist sein Platz, nicht meiner.«

»Darüber diskutieren wir jetzt nicht schon wieder. Ich habe eine andere Definition von ›Mensch‹ als du. Für dich ist das etwas … Negatives. Für mich ist es ein Kompliment - und nach meiner Definition bist du menschlich und er nicht. Jetzt nicht mehr.«

»Ein Mensch ist für mich nichts Negatives. Ich kenne dich jetzt. Aber er ist dein Bruder, Ian.«

»Und dafür schäme ich mich.«

Ich schob ihn erneut weg. Diesmal ließ er es zu. Vielleicht hatte das mit dem Schmerzenslaut zu tun, der meinen Lippen entschlüpfte, als ich mein Bein bewegte.

»Alles in Ordnung?«

»Ich glaube schon. Wir müssen Doc holen, aber ich weiß nicht, ob ich laufen kann. Ich … ich habe mir das Bein angestoßen, als ich hingefallen bin.«

Ein Knurren drang aus seiner Kehle. »Welches Bein? Zeig mal her.«

Ich versuchte mein verletztes Bein auszustrecken - es war das rechte - und stöhnte erneut auf. Seine Hände begannen an meinem Knöchel, tasteten die Knochen, die Gelenke ab. Er drehte vorsichtig mein Fußgelenk.

»Weiter oben. Hier.« Ich legte seine Hand hinten auf meinen Oberschenkel, direkt über dem Knie. Ich ächzte wieder, als er auf die schmerzende Stelle drückte. »Ich glaube nicht, dass es gebrochen ist oder so. Es tut nur ziemlich weh.«

»Zumindest eine heftige Muskelprellung«, murmelte er. »Und wie ist das passiert?«

»Ich muss … auf einem Stein aufgekommen sein, als ich gestürzt bin.«

Er seufzte. »Okay, dann auf zu Doc.«

»Kyle braucht ihn dringender als ich.«

»Ich muss Doc sowieso holen gehen - oder andere Hilfe. Ich kann Kyle nicht so weit tragen, aber dich schon. Ups - warte noch mal kurz.«

Er drehte sich unvermittelt um und verschwand wieder im Raum mit dem Fluss. Ich beschloss, dass ich nicht mit ihm streiten würde. Ich wollte Walter sehen, bevor … Doc hatte mir versprochen, auf mich zu warten. Würde die Wirkung der ersten Dosis Schmerzmittel bald nachlassen? Mein Kopf drehte sich. Es gab so viel, worüber ich mir Gedanken machen musste, und ich war so müde. Das Adrenalin war verschwunden und hatte mich ausgelaugt zurückgelassen.

Ian kam mit dem Gewehr zurück. Ich runzelte die Stirn, weil es mich daran erinnerte, wie ich es mir vorher herbeigewünscht hatte. Das gefiel mir nicht.

»Lass uns gehen.«

Ohne nachzudenken gab er mir das Gewehr. Ich ließ es in meinen offenen Handflächen liegen, schaffte es aber nicht, meine Hände darum zu schließen. Dann beschloss ich, dass es eine angemessene Strafe war, das Ding tragen zu müssen.

Ian schmunzelte. »Wie man vor dir Angst haben kann …«, murmelte er vor sich hin.

Er hob mich leichthändig hoch und war schon losgegangen, bevor ich eine bequeme Position gefunden hatte. Ich versuchte zu vermeiden, dass auf den empfindlichsten Stellen - meinem Hinterkopf, der Rückseite meines Beins - zu viel Gewicht ruhte.

»Woher sind deine Kleider so nass?«, fragte er. Wir gingen gerade unter einem der faustgroßen Oberlichter hindurch und ich konnte den Anflug eines Lächelns auf seinen blassen Lippen sehen.

»Ich weiß es nicht«, murmelte ich. »Vom Dampf?«

Wir tauchten wieder in die Dunkelheit ein.

»Dir fehlt ein Schuh.«

»Oh.«

Wir kamen wieder unter einem Lichtstrahl hindurch und seine Augen blitzten saphirblau auf. Sie waren jetzt ernst auf mein Gesicht gerichtet.

»Ich bin … sehr froh, dass dir nichts passiert ist, Wanda. Nicht mehr passiert ist, besser gesagt.«

Ich antwortete nicht. Ich hatte Angst, etwas zu sagen, dass er gegen Kyle verwenden konnte.

Bevor wir die große Höhle erreichten, trafen wir auf Jeb. Es war hell genug, dass ich das neugierige Blitzen in seinen Augen erkennen konnte, als er mich mit blutendem Gesicht und dem Gewehr, das ich vorsichtig in den offenen Händen trug, in Ians Armen sah.

»Du hattest also Recht«, vermutete Jeb. Trotz aller Neugier war seine Stimme hart wie Stahl. Er spannte unter seinem Bart den Kiefer. »Ich habe keinen Schuss gehört. Was ist mit Kyle?«

»Er ist bewusstlos«, sagte ich schnell. »Du musst alle warnen - ein Teil des Fußbodens in der Höhle mit dem Fluss ist eingebrochen. Ich weiß nicht, ob der Rest hält. Kyle ist heftig mit dem Kopf aufgeschlagen, als er versucht hat, zu entkommen. Er braucht Doc.«

Jeb hob eine Augenbraue so weit, dass sie beinahe das ausgebleichte Tuch an seinem Haaransatz berührte.

»Das ist ihre Version«, sagte Ian und gab sich keine Mühe, seine Zweifel zu verbergen. »Und sie hat offenbar vor, daran festzuhalten.«

Jeb lachte. »Komm, ich nehme dir das ab«, sagte er zu mir.

Ich überließ ihm bereitwillig das Gewehr. Er lachte erneut über meinen Gesichtsausdruck.

»Ich hole Andy und Brandt, damit sie mir mit Kyle helfen. Wir kommen dann nach.«

»Behalt ihn im Auge, wenn er aufwacht«, sagte Ian mit fester Stimme.

»Mach ich.«

Jeb schlenderte davon, um Hilfe zu holen. Ian eilte mit mir auf den Krankenflügel zu.

»Kyle ist vielleicht schwer verletzt … Jeb sollte sich beeilen.«

»Kyles Kopf ist härter als alle Steine hier.«

Der lange Tunnel kam mir noch länger vor als sonst. Würde Kyle trotz meiner Bemühungen sterben? War er wieder bei Bewusstsein und suchte nach mir? Was war mit Walter? Schlief er … oder war er schon tot? Hatte die Sucherin die Jagd aufgegeben oder würde sie jetzt, wo es hell war, wiederkommen?

Ist Jared noch bei Doc? Mel fügte meinen Fragen noch weitere hinzu. Wird er wütend werden, wenn er dich sieht? Wird er mich erkennen?

Als wir die sonnendurchflutete südliche Höhle erreichten, sah es so aus, als hätten Jared und Doc sich nicht von der Stelle gerührt. Sie lehnten nebeneinander an Docs behelfsmäßigem Schreibtisch. Es war still, als wir uns näherten. Sie sprachen nicht, sondern sahen Walter einfach beim Schlafen zu.

Als Ian mit mir ins Licht trat und mich auf das Feldbett neben Walter legte, sprangen sie mit weit aufgerissenen Augen auf. Ian streckte vorsichtig mein rechtes Bein aus.

Walter schnarchte. Das Geräusch löste einen Teil meiner Anspannung.

»Was ist denn jetzt schon wieder passiert?«, fragte Doc ärgerlich. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da beugte er sich schon über mich und wischte mir das Blut von der Wange.

Jareds Gesichtsausdruck war vor Überraschung erstarrt. Er gab Acht, dass seine Miene nicht irgendetwas anderes verriet.

»Kyle«, antwortete Ian im selben Moment, als ich sagte: »Der Fußboden …«

Doc sah verwirrt zwischen uns hin und her.

Ian seufzte und verdrehte die Augen. Geistesabwesend legte er mir eine Hand leicht auf die Stirn. »Der Fußboden neben dem ersten Loch über dem Fluss ist weggebrochen. Kyle ist hintenübergefallen und mit dem Kopf gegen einen Stein gedonnert. Wanda hat sein wertloses Leben gerettet. Sie sagt, sie sei selber auch gestürzt, als der Boden nachgab.« Ian warf Doc einen vielsagenden Blick zu. »Irgendetwas«, sagte er sarkastisch, »hat ihr einen ganz schön heftigen Schlag auf den Hinterkopf versetzt.« Er begann weiter aufzuzählen. »Ihre Nase blutet, ist aber, glaube ich, nicht gebrochen. Und dieser Muskel hier ist verletzt.« Er berührte meinen schmerzenden Schenkel. »Die Knie sind ganz schön aufgeschürft und ihr Gesicht auch schon wieder, aber das kann auch ich gewesen sein, als ich Kyle aus dem Loch gezogen habe. Ich hätte mir nicht die Mühe machen sollen.« Letzteres murmelte Ian nur.

»Noch etwas?«, fragte Doc. In diesem Augenblick berührten seine Finger, die meine Seite untersuchten, die Stelle, wo Kyle mich geschlagen hatte. Ich keuchte.

Doc schob mein Hemd hoch und ich hörte sowohl Ian als auch Jared bei dem Anblick die Luft einziehen.

»Lass mich raten«, sagte Ian mit eisiger Stimme. »Du bist auf einen Felsen gestürzt.«

»Richtig«, bestätigte ich atemlos. Doc tastete immer noch meine Seite ab und ich versuchte ein Wimmern zu unterdrücken.

»Vielleicht eine gebrochene Rippe, ich bin mir nicht sicher«, murmelte Doc. »Ich wünschte, ich könnte dir was gegen die Schmerzen geben …«

»Keine Sorge, Doc«, keuchte ich. »Mit mir ist alles in Ordnung. Wie geht es Walter? Ist er zwischendurch noch mal aufgewacht?«

»Nein, es wird eine Weile dauern, bis die Wirkung nachlässt«, sagte Doc. Er nahm meine Hand und begann mein Handgelenk und meinen Ellbogen zu beugen.

»Mir geht es gut.«

Seine freundlichen Augen waren sanft, als sie meinem Blick begegneten. »Bald bist du wieder auf dem Damm. Du musst dich nur eine Weile ausruhen. Ich werde ein Auge auf dich haben. So, dreh mal den Kopf zur Seite.«

Ich tat, was er mir gesagt hatte, und wimmerte, als er meine Wunde untersuchte.

»Aber nicht hier«, murmelte Ian.

Ich konnte Doc nicht sehen, aber Jared warf Ian einen stechenden Blick zu.

»Sie bringen gleich Kyle her und ich will nicht, dass sie im selben Raum liegen.«

Doc nickte. »Ist wahrscheinlich besser.«

»Ich mache ihr ein Zimmer fertig. Du musst Kyle hierbehalten, bis … bis wir entschieden haben, was aus ihm werden soll.«

Ich wollte etwas sagen, aber Ian legte seine Finger auf meine Lippen.

»Einverstanden«, stimmte Doc zu. »Ich kann ihn festbinden, wenn du willst.«

»Wenn es nötig sein sollte. Kann sie aufstehen?« Ian warf einen nervösen Blick in den Tunnel.

Doc zögerte.

»Nein«, flüsterte ich, obwohl Ians Finger immer noch meinen Mund berührten. »Walter. Ich will hier bei Walter bleiben.«

»Du hast heute schon genug Leben gerettet, Wanda«, sagte Ian mit sanfter und trauriger Stimme.

»Ich möchte mich … mich von ihm … verabschieden.«

Ian nickte. Dann sah er Jared an. »Kann ich dir vertrauen?«

Jareds Gesicht lief rot an vor Wut. Ian hob die Hand.

»Ich will sie nicht ungeschützt zurücklassen, während ich einen sicheren Platz für sie suche«, sagte Ian. »Ich weiß nicht, ob Kyle bei Bewusstsein ist, wenn er hier ankommt. Wenn Jeb ihn erschießt, wird sie das aufregen. Aber du und Doc solltet in der Lage sein, ihn in Schach zu halten. Ich möchte nicht, dass Doc alleine ist und Jeb zum Schießen gezwungen wird.«

»Doc wird nicht allein sein«, sagte Jared kurz.

Ian zögerte. »Die letzten paar Tage waren die Hölle für sie. Vergiss das nicht.«

Jared nickte einmal, die Zähne zusammengebissen.

»Ich bin ja auch noch da«, erinnerte Doc Ian.

Ihre Blicke trafen sich. »Okay«, sagte Ian. Er beugte sich über mich und seine leuchtenden Augen verschmolzen mit meinen. »Ich komme bald zurück. Hab keine Angst.«

»Nein.«

Er beugte sich zu mir herunter und drückte seine Lippen auf meine Stirn.

Niemand wurde davon mehr überrascht als ich, auch wenn ich Jared die Luft einziehen hörte. Mein Mund blieb offen stehen, als Ian sich umdrehte und beinahe aus dem Raum rannte.

Ich hörte, wie Doc durch die Zähne einatmete, wie bei einem umgekehrten Pfeifen. »Na dann«, sagte er.

Sie sahen mich beide lange an. Ich war so müde und mir tat alles so weh, dass es mir fast gleichgültig war, was sie dachten.

»Doc …«, begann Jared in dringlichem Ton, aber ein Tumult im Tunnel unterbrach ihn.

Fünf Männer stolperten durch den Eingang. Jeb, der Kyles linkes Bein in den Händen hatte, ging voraus. Wes hielt Kyles rechtes Bein und Andy und Aaron hinter ihnen schleppten seinen Rumpf. Kyles Kopf baumelte über Andys Schulter.

»Verdammt, ist der schwer«, keuchte Jeb.

Jared und Doc sprangen ihnen zu Hilfe. Nach ein paar Minuten voller Fluchen und Stöhnen lag Kyle auf einem Feldbett, das ein Stück von meinem entfernt stand.

»Seit wann ist er bewusstlos, Wanda?«, fragte mich Doc. Er hob Kyles Augenlider an und ließ die Sonne auf seine Pupillen scheinen.

»Ähm …« Ich dachte schnell nach. »So lange, wie ich jetzt hier bin, die zehn Minuten oder so, die es gedauert hat, mich hierher zu bringen, und dann vielleicht noch fünf Minuten vorher.«

»Also mindestens zwanzig Minuten, würdest du sagen?«

»Ja. Ungefähr.«

Während wir uns berieten, hatte Jeb seine eigene Diagnose gestellt. Niemand beachtete ihn, als er sich an das Kopfende von Kyles Feldbett schob. So lange, bis er eine Wasserflasche über Kyles Gesicht auskippte.

»Jeb«, beschwerte sich Doc und stieß seine Hand weg.

Aber Kyle schnaubte und blinzelte und stöhnte dann. »Was ist passiert? Wo ist es hin?« Er begann sein Gewicht zu verlagern und versuchte sich umzusehen. »Der Fußboden … bewegt sich …«

Beim Klang seiner Stimme umklammerten meine Finger die Bettkante und Panik durchströmte mich. Mein Bein tat weh. Konnte ich weghumpeln? Langsam vielleicht …

»Schon gut«, murmelte irgendjemand. Nicht irgendjemand. Diese Stimme würde ich immer erkennen.

Jared stellte sich mit dem Rücken zu mir zwischen mein Feldbett und das, auf dem Kyle lag, und hielt den Blick auf den großen Mann gerichtet. Kyle drehte stöhnend den Kopf hin und her.

»Du bist in Sicherheit«, sagte Jared leise. Er sah mich nicht an. »Hab keine Angst.«

Ich atmete tief durch.

Melanie wollte ihn berühren. Seine Hand lag dicht neben meiner auf der Bettkante.

Bitte nicht, sagte ich zu ihr. Mein Gesicht tut auch so schon enug weh!

Er wird dich nicht schlagen.

Denkst du. Ich lasse es lieber nicht drauf ankommen.

Melanie seufzte; sie sehnte sich danach, die Hand nach ihm auszustrecken. Es wäre nicht so schwer zu ertragen gewesen, wenn ich mich nicht ebenfalls danach gesehnt hätte.

Gib ihm Zeit, bat ich. Lass ihn sich an uns gewöhnen. Warte, bis er uns wirklich glaubt.

Sie seufzte erneut.

»Oh, verdammt!«, knurrte Kyle. Als ich seine Stimme hörte, sah ich zu ihm hinüber. Ich konnte seine hellen Augen sehen, die an Jareds Ellbogen vorbei direkt auf mich gerichtet waren. »Es ist nicht abgestürzt!«, klagte er.