Erinnert

Der Anfang würde sich wie das Ende anfühlen. Ich war gewarnt worden.

Aber diesmal war das Ende noch viel überraschender als jemals zuvor. Überraschender als alle Enden, an die ich mich in neun Leben erinnert hatte. Überraschender als der Sprung in einen Aufzugschacht. Ich hatte keine Erinnerungen, keine Gedanken mehr erwartet. Was war das für ein Ende?

Die Sonne geht unter - alles ist in rosige Farben getaucht und erinnert mich an meine Freundin … Wie würde sie hier heißen? Irgendwas mit … Rüschen? Rüschen und noch mehr Rüschen. Sie war eine schöne Blume. Die Blumen hier sind so leblos und langweilig. Aber sie riechen herrlich. Die Gerüche sind das Beste an diesem Ort.

Schritte hinter mir. Ist mir Cloud Spinner schon wieder nachgegangen? Ich brauche keine Jacke. Es ist warm hier - endlich! - und ich möchte die Luft auf meiner Haut spüren. Ich sehe mich einfach nicht um. Vielleicht denkt sie dann, ich höre sie nicht, und geht wieder zurück nach Hause. Sie sorgt sich so um mich, aber ich bin jetzt fast erwachsen. Sie kann mich schließlich nicht ewig bemuttern.

»Entschuldigung«, sagt eine mir unbekannte Frauenstimme.

Ich drehe mich zu ihr um. Auch ihr Gesicht ist mir unbekannt. Sie ist hübsch.

Das Gesicht in der Erinnerung brachte mich wieder zu mir. Das war mein Gesicht! Aber ich konnte mich an das hier nicht erinnern …

»Hi«, sage ich.

»Hallo. Ich heiße Melanie.« Sie lächelt mich an. »Ich bin neu hier in der Stadt und … ich glaube, ich habe mich verlaufen.«

»Oh! Wo willst du denn hin? Ich kann dich bringen. Unser Auto steht gleich da hinten…«

»Nein, es ist nicht weit. Ich war spazieren, aber jetzt finde ich den Weg zurück zur Becker Street nicht mehr.«

Eine neue Nachbarin - wie schön. Ich mag neue Freunde.

»Das ist ganz in der Nähe«, erkläre ich ihr. »Du kannst entweder da vorne an der zweiten Ecke abbiegen oder du nimmst die Abkürzung hier durch diese kleine Gasse. Dann kommst du direkt an der richtigen Stelle raus.«

»Könntest du mir den Weg zeigen? Entschuldige, wie heißt du?«

»Natürlich! Komm mit. Ich bin Petals Open to the Moon, aber meine Familie nennt mich meistens Pet. Wo kommst du her, Melanie?«

Sie lacht. »Meinst du San Diego oder die Singende Welt, Pet?«

»Beides.« Ich lache ebenfalls. Ich mag ihr Lächeln. »Hier in der Straße wohnen auch zwei Fledermäuse. Da vorne in dem gelben Haus mit den Kiefern davor.«

»Ich muss ihnen bei Gelegenheit mal Hallo sagen«, murmelt sie, aber ihre Stimme hat sich verändert, klingt jetzt angespannt. Sie blickt in die schattige Gasse hinein, als rechne sie damit, dort irgendwas zu entdecken.

Und da ist auch jemand. Zwei Leute, ein Mann und ein Junge. Der Junge fährt sich nervös mit der Hand durch sein langes, schwarzes Haar. Vielleicht ist er beunruhigt, weil er sich ebenfalls verlaufen hat. Seine hübschen Augen sind weit aufgerissen und aufgeregt. Der Mann ist ganz ruhig.

Jamie. Jared. Mein Herz machte einen Satz, aber das Gefühl war eigenartig, irgendwie falsch. Zu klein und … flatterig.

»Das hier sind meine Freunde, Pet«, erklärt Melanie mir.

»Oh! Oh, hallo.« Ich strecke dem Mann die Hand entgegen - er steht mir am nächsten.

Er nimmt meine Hand und sein Griff ist so fest.

Er reißt mich nach vorne, zu sich hin. Ich verstehe nicht. Irgendetwas stimmt nicht. Das hier gefällt mir nicht.

Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich habe Angst. Ich hatte noch nie so viel Angst. Ich verstehe nicht.

Er hält mir die Hand vors Gesicht und ich keuche. Ich atme den Dampf ein, der aus seiner Hand kommt. Eine silberne Wolke, die nach Himbeeren riecht.

»Wa…«, will ich fragen, aber ich kann sie nicht mehr sehen. Ich kann überhaupt nichts mehr sehen …

Mehr war da nicht.

»Wanda? Kannst du mich hören, Wanda?«, fragte eine vertraute Stimme.

Das war nicht der richtige Name … oder? Meine Ohren reagierten nicht darauf, aber irgendetwas tat es … Hieß ich nicht Petals Open to the Moon? Pet? War das nicht mein Name? Das fühlte sich auch nicht richtig an. Mein Herz klopfte schneller, ein Nachklang der Angst in meiner Erinnerung. Das Bild einer Frau mit weiß-rot gesträhnten Haaren und freundlichen grünen Augen tauchte in meinem Kopf auf. Wo war meine Mutter? Aber … das war nicht meine Mutter, oder?

Ein Geräusch, eine leise Stimme ertönte neben mir. »Wanda. Komm zurück. Wir lassen dich nicht weg.«

Die Stimme war mir vertraut und dann auch wieder nicht. Sie klang wie … ich?

Wo war Petals Open to the Moon? Ich konnte sie nicht finden. Nur tausend leere Erinnerungen. Ein Haus voller Bilder, aber ohne Bewohner.

»Nimm das Hellwach«, sagte eine Stimme, die ich nicht erkannte.

Etwas strich mir übers Gesicht, sanft wie eine Nebelschwade. Ich kannte den Geruch. Es roch nach Grapefruit.

Ich holte tief Luft und plötzlich wurde ich klar im Kopf.

Ich konnte spüren, dass ich lag … aber das fühlte sich ebenfalls komisch an. Als sei ich nicht … genug? Es fühlte sich an, als sei ich geschrumpft.

Meine Hände waren wärmer als der Rest meines Körpers, was daran lag, das sie gehalten wurden. Von großen Händen gehalten, die sie richtiggehend verschluckten.

Es roch eigenartig - muffig und ein bisschen schimmelig. Ich erinnerte mich an den Geruch … aber ich hatte ihn ganz sicher noch nie im Leben gerochen.

Ich sah nichts als gedämpftes Rot - das Innere meiner Augenlider. Ich wollte sie öffnen und suchte nach den passenden Muskeln.

»Wanderer? Wir warten alle auf dich, Süße. Mach die Augen auf.«

Diese Stimme, dieser warme Atem an meinem Ohr, war mir sogar noch vertrauter. Bei dem Klang fühlte ich ein seltsames Prickeln in meinen Adern. Ein Gefühl, das ich nie zuvor gehabt hatte. Es ließ mich den Atem anhalten und meine Finger erzittern.

Ich wollte das Gesicht sehen, das zu dieser Stimme gehörte.

Eine Farbe tauchte vor meinem inneren Auge auf - eine Farbe, die mich aus einem weit entfernten Leben zu rufen schien - ein leuchtendes, strahlendes Blau. Das gesamte Universum war tiefblau …

Und schließlich wusste ich meinen Namen wieder. Ja, es stimmte. Wanderer. Ich war Wanderer. Oder auch Wanda. Daran erinnerte ich mich jetzt.

Eine leichte Berührung auf meinem Gesicht - ein warmer Druck auf meinen Lippen, meinen Lidern. Ah, da waren sie. Jetzt, wo ich sie entdeckt hatte, konnte ich mit ihnen blinzeln.

»Sie wacht auf!«, krächzte jemand aufgeregt.

Jamie. Jamie war hier. Mein Herz machte wieder einen flatterigen kleinen Satz.

Es dauerte einen Moment, bis ich meine Augen scharf gestellt hatte. Das Blau, das mir in die Augen stach, war ganz falsch - zu blass, zu ausgewaschen. Es war nicht das Blau, nach dem ich mich gesehnt hatte.

Eine Hand berührte mein Gesicht. »Wanderer?«

Ich blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Die Bewegung meines Kopfes auf meinem Hals fühlte sich so komisch an. Es fühlte sich nicht so an wie früher, aber gleichzeitig fühlte es sich so an wie immer …

Mein suchender Blick fand das Blau, nach dem ich mich sehnte. Saphir, Schnee und Mitternacht.

»Ian? Ian, wo bin ich?« Der Klang der Stimme, die aus meiner Kehle kam, erschreckte mich. Sie war so hoch und zwitschernd. Vertraut, aber nicht meine. »Wer bin ich?«

»Du bist du«, erklärte mir Ian. »Und du bist da, wo du hingehörst.«

Ich zog eine meiner Hände aus der Riesenhand, die sie festhielt. Ich wollte mein Gesicht berühren, aber jemand streckte die Hand nach mir aus und ich erstarrte.

Die sich nähernde Hand erstarrte ebenfalls über mir.

Ich versuchte meine Hand weiterzubewegen, um mich damit zu schützen, aber dadurch bewegte sich die Hand über mir ebenfalls weiter. Ich begann zu zittern und die Hand bebte.

Oh.

Ich öffnete und schloss die Hand und betrachtete sie genau.

War das meine Hand, dieses winzige Ding? Es war eine Kinderhand, abgesehen von den langen rosa-weißen, perfekt gefeilten Nägeln. Die Haut war hell mit einem eigenartigen silbernen Schimmer und - was irgendwie nicht so richtig dazu passte - vereinzelten goldenen Sommersprossen.

Es war die ungewöhnliche Kombination aus Silber und Gold, die mir wieder das Bild vor Augen rief: Ich konnte ein Gesicht in meinem Kopf sehen, das mir aus einem Spiegel entgegenblickte.

Die Szenerie dieser Erinnerung brachte mich einen Moment lang aus dem Konzept, weil ich nicht an so viel Zivilisation gewöhnt war - gleichzeitig kannte ich nichts anderes außer Zivilisation. Eine hübsche Frisierkommode mit allem möglichen Nippes darauf. Eine Ansammlung feiner Glasflakons, die die Düfte enthielten, die ich so sehr mochte - ich? Oder sie? Ein Blumentopf mit einer Orchidee. Eine Garnitur Silberkämme.

Der große, runde Spiegel war von einem Kranz aus Metallrosen eingefasst. Das Gesicht im Spiegel war ebenfalls eher rundlich als oval. Klein. Es hatte die gleiche silberne Tönung wie die Hand - silbern wie Mondlicht - und ebenfalls ein paar goldene Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Große, graue Augen, hinter deren Farbe der leichte Silberglanz der Seele hervorschien, von goldenen Wimpern eingerahmt. Blassrosa Lippen, voll und beinahe rund wie die eines Babys. Kleine, regelmäßige weiße Zähne dahinter. Ein Grübchen am Kinn. Und überall, überall wallendes goldenes Haar, das mein Gesicht wie ein heller Lichterkranz umgab und über das Spiegelbild hinausreichte.

Mein Gesicht oder ihr Gesicht?

Es war das perfekte Gesicht für eine Nachtblume. Wie eine genaue Übertragung von Blume zu Mensch.

»Wo ist sie?«, wollte meine hohe, dünne Stimme wissen. »Wo ist Pet?« Ihre Abwesenheit machte mir Angst. Ich hatte noch nie ein hilfloseres Wesen gesehen als dieses halbe Kind mit seinem Gesicht aus Mondlicht und dem Sonnenhaar.

»Sie ist hier«, versicherte mir Doc. »Eingefroren und reisefertig. Wir dachten, du könntest uns sagen, wo wir sie am besten hinschicken.«

Ich blickte in die Richtung, aus der seine Stimme kam. Als ich ihn dort im Sonnenlicht stehen sah, einen eingeschalteten Tiefkühlbehälter in den Händen, stürzte eine Welle von Erinnerungen an mein früheres Leben auf mich ein.

»Doc!«, keuchte ich mit der kleinen, brüchigen Stimme. »Doc, du hast es mir versprochen! Du hast es mir geschworen, Eustace! Warum? Warum hast du dein Wort gebrochen?«

Eine schwache Erinnerung an Trauer und Schmerz überkam mich. Dieser Körper hatte noch nie solche Qualen empfunden. Ich schreckte vor dem stechenden Schmerz zurück.

»Auch ein Ehrenmann knickt unter Zwang manchmal ein, Wanda.«

»Zwang«, sagte eine andere furchtbar vertraute Stimme spöttisch.

»Ich würde ein Messer am Hals durchaus als Zwang bezeichnen, Jared.«

»Du wusstest genau, dass ich es nicht benutzen würde.«

»Wusste ich nicht. Du warst ziemlich überzeugend.«

»Ein Messer?« Mein Körper zitterte.

»Schsch, es ist alles in Ordnung«, murmelte Ian. Sein Atem blies mir ein paar goldene Haarsträhnen ins Gesicht und ich schob sie mit einer routinierten Geste zur Seile. »Hast du wirklich geglaubt, du könntest uns einfach so verlassen? Wanda!« Er seufzte, aber es war ein frohes Seufzen.

Ian war glücklich. Diese Einsicht ließ meine Sorgen plötzlich kleiner werden, machte sie leichter zu ertragen.

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich kein Parasit mehr sein will«, flüsterte ich.

»Lasst mich durch«, befahl meine alte Stimme. Und dann konnte ich mein Gesicht sehen, mit den ausgeprägten Zügen, der sonnengebräunten Haut, den geraden schwarzen Augenbrauen über den mandelförmigen grünbraunen Augen, den hohen Wangenknochen … Ich konnte es von vorne sehen, nicht im Spiegel wie bisher immer.

»Hör zu, Wanda. Ich weiß genau, was du nicht sein willst. Aber wir sind Menschen und wir sind egoistisch und wir tun nicht immer das Richtige! Wir lassen dich nicht gehen. Gewöhn dich an den Gedanken.«

Ihre Art zu sprechen, die Sprachmelodie und der Tonfall, nicht die Stimme, riefen mir all unsere stummen Gespräche wieder in Erinnerung, die Stimme in meinem Kopf, meine Schwester.

»Mel? Mel, dir geht es gut!«

Da lächelte sie und beugte sich vor, um mich zu umarmen. Sie war größer, als ich mich in Erinnerung gehabt hatte.

»Natürlich geht es mir gut. War das nicht der Sinn dieser ganzen Aktion? Und dir wird es auch gutgehen. Wir sind ja nicht blöd. Wir haben uns nicht einfach den erstbesten Körper geschnappt.«

»Lass mich erzählen, lass mich!« Jamie zwängte sich neben Mel. Langsam wurde es eng um das Feldbett. Es wackelte gefährlich.

Ich nahm seine Hand und drückte sie. Meine Hände fühlten sich so schwach an. Spürte er den Druck überhaupt?

»Jamie!«

»Hey, Wanda! Ist das nicht cool? Jetzt bist du kleiner als ich!« Er grinste triumphierend.

»Aber immer noch älter. Ich bin fast …«, und dann stockte ich und beendete den Satz nicht wie geplant. »In zwei Wochen habe ich Geburtstag.«

Ich mochte orientierungslos und verwirrt sein, aber ich war nicht dumm. Melanies Erfahrungen waren nicht nutzlos gewesen; ich hatte daraus gelernt. Ian war mindestens genauso ehrenhaft wie Jared und ich hatte nicht vor, dieselbe Zurückweisung zu erleben wie Melanie.

Daher log ich und machte mich ein Jahr älter. »Ich werde achtzehn.«

Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Melanie und Ian sich überrascht ansahen. Dieser Körper sah viel jünger aus, als er in Wirklichkeit war, kurz vor Vollendung seines siebzehnten Lebensjahrs.

Es war diese kleine Täuschung, dieser Anspruch, den ich vorsichtshalber auf meinen Partner erhob, der mir bewusst machte, dass ich hierbleiben würde. Dass ich bei Ian und dem Rest meiner Familie sein würde. Ich bekam einen Kloß im Hals und meine Kehle fühlte sich seltsam geschwollen an.

Jamie tätschelte mein Gesicht und zog damit wieder meine Aufmerksamkeit auf sich - ich war überrascht, wie groß sich seine Hand auf meiner Wange anfühlte. »Ich durfte mit auf Tour gehen, um dich zu holen.«

»Ich weiß«, murmelte ich. »Ich erinnere mich … beziehungsweise Pet erinnert sich, dich dort gesehen zu haben.« Ich warf Melanie einen wütenden Blick zu, aber sie zuckte nur mit den Schultern.

»Wir haben versucht, ihr keinen Schreck einzujagen«, sagte Jamie. “Sie ist so … sie sieht irgendwie so zerbrechlich aus, weißt du? Und außerdem nett. Wir haben sie zusammen ausgesucht, aber ich durfte am Ende entscheiden! Weißt du, Mel hat gesagt, es müsste jemand Junges sein - jemand, der schon einen größeren Teil seines Lebens als Seele verbracht hat, oder so was. Aber auch nicht zu jung, weil sie wusste, dass du bestimmt kein Kind sein wolltest. Und Jared mochte dieses Gesicht, weil er meinte, dass niemand ihm jemals … misstrauen könnte. Du siehst überhaupt nicht gefährlich aus. Ganz im Gegenteil. Jared hat gesagt, jeder, der dich sieht, hätte sofort das Bedürfnis, dich zu beschützen, stimmt’s, Jared? Aber ich hatte das letzte Wort, denn ich habe nach jemandem gesucht, der aussieht wie du. Und ich fand, dass die hier aussah wie du. Denn sie sieht irgendwie wie ein Engel aus und du bist auch ein Engel. Und wirklich hübsch. Ich wusste, dass du hübsch sein würdest.« Jamie lächelte breit. »Ian war nicht dabei. Er saß die ganze Zeit hier bei dir - er hat gesagt, ihm wäre es egal, wie du aussiehst. Er hat niemandem erlaubt, deinen Behälter anzurühren, noch nicht mal mir oder Mel. Aber Doc hat mich diesmal zusehen lassen. Es war echt cool, Wanda. Ich weiß nicht, warum du mich bisher nicht hast zusehen lassen. Ich durfte allerdings nicht helfen. Ian hat nicht erlaubt, dass dich irgendjemand außer ihm anfasst.«

Ian drückte meine Hand und beugte sich über mich, um mir durch all die Haare etwas zuzuflüstern. Seine Stimme war so leise, dass ich die Einzige war, die hören konnte, was er sagte. »Ich habe dich in meiner Hand gehalten, Wanderer. Und du warst so wunderschön.«

Meine Augen wurden ganz feucht und ich musste schniefen.

»Er gefällt dir doch, oder?«, fragte Jamie jetzt mit besorgter Stimme. »Du bist doch nicht böse? Da ist doch keiner drin bei dir, oder?«

»Ich bin nicht böse«, flüsterte ich. »Und ich … ich kann niemanden sonst finden. Nur Pets Erinnerungen. Pet war schon hier seit … Ich kann mich nicht an die Zeit davor erinnern. Ich kann mich an keinen anderen Namen erinnern.«

»Du bist kein Parasit«, sagte Melanie mit fester Stimme. Sie berührte meine Haare, nahm eine Strähne in die Hand und ließ das Gold durch ihre Finger gleiten. »Dieser Körper gehörte Pet nicht und es gibt sonst niemanden, der Anspruch darauf erhebt. Wir haben abgewartet, um sicherzugehen, Wanda. Wir haben fast so lange versucht, sie aufzuwecken, wie bei Jodi.«

»Jodi? Was ist mit Jodi?«, zwitscherte ich. Die Aufregung ließ meine Piepsstimme noch höher klingen, wie die eines Vogels. Ich versuchte mich aufzurichten und Ian stützte mich mit seinem Arm und zog mich hoch in eine sitzende Position - es kostete ihn überhaupt keine Mühe, nicht die leiseste Anstrengung, meinen winzigen, neuen Körper zu bewegen. Jetzt konnte ich alle Gesichter sehen.

Doc, diesmal ohne Tränen in den Augen. Jeb, der hinter Doc hervorlinste, mit zufriedenem und gleichzeitig vor Neugier brennendem Gesicht. Daneben eine Frau, die ich im ersten Moment nicht erkannte, da ihr Gesicht jetzt lebendiger war, als ich es je gesehen hatte, und ich hatte es sowieso noch nicht oft gesehen - Mandy, die ehemalige Heilerin. Ganz in meiner Nähe Jamie mit einem strahlenden Grinsen auf dem Gesicht, neben ihm Melanie und hinter ihr Jared, der seine Arme um ihre Taille geschlungen hatte; und ich wusste, dass sich seine Hände jetzt nur noch wohl fühlten, wenn sie ihren Körper - meinen Körper! - berührten. Dass er sie für immer so nah wie möglich bei sich haben wollte und jeden Zentimeter, der sich zwischen sie schob, hassen würde. Das verursachte mir einen heftigen, stechenden Schmerz, und das empfindliche Herz in meiner schmalen Brust bebte. Es war noch nie gebrochen worden und konnte diese Erinnerung nicht einordnen.

Es machte mich traurig festzustellen, dass ich Jared immer noch liebte. Ich war nicht frei davon, nicht frei von Eifersucht auf den Körper, den er liebte. Mein Blick huschte zu Mel zurück. Ich sah das reumütige Zucken der Mundwinkel, die mal meine gewesen waren, und wusste, dass sie verstand.

Ich ließ meinen Blick weiter über den Kreis von Gesichtern um mein Bett schweifen, während Doc, nach einer Pause, meine Frage beantwortete.

Trudy und Geoffrey, Heath, Paige und Andy. Sogar Brandt …

»Jodi reagierte nicht. Wir haben es so lange versucht, wie wir konnten.«

War Jodi denn dann fort?, fragte ich mich, wobei mein unerfahrenes Herz hämmerte. Ich setzte das arme, schwache Ding einem ziemlich harten Erwachen aus.

Heidi und Lily, die ein schmerzhaftes kleines Lächeln aufgesetzt hatte - das wegen des Schmerzes nicht weniger echt war …

»Wir konnten sie mit Flüssigkeit versorgen, aber wir hatten keine Möglichkeit, sie zu ernähren. Mandy und ich machten uns Sorgen, dass ihre Muskeln und ihr Gehirn verkümmern könnten …«

Während mir das Herz stärker wehtat, als es je wehgetan hatte - wegen einer Frau, die ich nie kennengelernt hatte -, setzten meine Augen ihre Runde fort und erstarrten.

Jodi, die an Kyles Arm hing, sah mich an.

Sie lächelte zögernd und plötzlich erkannte ich sie.

»Sunny!«

»Ich bin doch geblieben«, sagte sie beinahe triumphierend. »Genau wie du.« Sie warf einen Blick auf Kyle - der gelassener wirkte als sonst - und ihre Stimme bekam einen traurigen Klang. »Ich versuche es aber. Ich suche nach ihr. Ich werde weitersuchen.«

»Kyle wollte, dass wir Sunny wieder einsetzen, als es so aussah, als würden wir Jodi verlieren«, fuhr Doc ruhig fort.

Ich starrte Sunny und Kyle einen Moment lang fassungslos an und beendete dann die Runde.

Ian betrachtete mich mit einer eigenartigen Mischung aus Freude und Nervosität. Sein Gesicht war höher als sonst, größer als früher. Aber seine Augen waren immer noch so blau, wie ich sie in Erinnerung hatte. Der Anker, der mich an diesen Planeten kettete.

»Fühlst du dich wohl da drin?«, fragte er.

»Ich … ich weiß es nicht«, gab ich zu. »Es fühlt sich total … seltsam an. Genauso seltsam, wie die Spezies zu wechseln. So viel seltsamer, als ich gedacht hätte. Ich … ich weiß es nicht.«

Mein Herz flatterte erneut, als ich in diese Augen blickte, und diesmal war es keine Erinnerung an die Liebe aus einem anderen Leben. Mein Mund wurde trocken und ich hatte Schmetterlinge im Bauch. Die Stelle, an der sein Arm meinen Rücken berührte, fühlte sich lebendiger an als der Rest meines Körpers.

»Es macht dir doch nicht allzu viel aus, hierzubleiben, oder, Wanda? Glaubst du, du könntest es ertragen?«, murmelte er.

Jamie drückte meine Hand. Melanie legte ihre auf seine und lächelte, als Jared seine Hand oben auf den Haufen legte. Trudy tätschelte meinen Fuß. Geoffrey, Heath, Heidi, Andy, Paige, Brandt und sogar Lily strahlten mich an. Kyle war näher gerückt und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Sunny lächelte verschwörerisch.

Wie viel Schmerzlos hatte Doc mir gegeben? Alles leuchtete.

Ian strich mir das goldene Haar aus dem Gesicht und legte mir die Hand auf die Wange. Sie war so groß, dass allein seine Handfläche mir vom Kiefer bis zur Stirn reichte; die Berührung durchfuhr meine silbrige Haut wie ein Stromstoß. Nach dem ersten Schlag kribbelte sie und meine Magengrube kribbelte gleich mit.

Ich konnte spüren, wie ich rot anlief. Mein Herz war nie zuvor gebrochen worden, aber es war auch noch nie übergeflossen. Das machte mich schüchtern; es fiel mir schwer, ein Wort herauszubringen.

»Ich glaube, das könnte ich«, flüsterte ich. »Wenn es dich glücklich macht.«

»Das reicht aber nicht«, widersprach Ian mir. »Es muss auch dich glücklich machen.«

Ich konnte ihn immer nur ein paar Sekunden lang ansehen; die Schüchternheit, die so neu und verwirrend für mich war, ließ mich den Blick immer wieder senken.

»Ich … glaube, das würde es«, stimmte ich ihm zu. »Ich glaube, es würde mich sehr, sehr glücklich machen.«

Glücklich und traurig, begeistert und elend, sicher und ängstlich, geliebt und abgewiesen, geduldig und wütend, friedlich und wild, erfüllt und leer … alles. Ich würde das alles fühlen. All das würde zu mir gehören.

Ian hob mein Gesicht an, bis ich ihm in die Augen sah, wovon ich noch röter anlief.

»Dann bleibst du also.«

Er küsste mich, vor allen Leuten, aber ich vergaß die Zuschauer schnell. Das hier war leicht und richtig, keine Zweiteilung, keine Verwirrung, keine Ablehnung, nur Ian und ich. Der geschmolzene Stein durchströmte diesen neuen Körper und nahm ihn in den Pakt mit auf.

»Ich bleibe«, stimmte ich ihm zu.

Und mein zehntes Leben begann.