Abgebogen
Die Ladenglocke läutete und kündigte einen weiteren Kunden des Tankstellen-Shops an. Ich fuhr schuldbewusst zusammen und duckte meinen Kopf hinter das Regal, an dem wir gerade standen.
Hör auf, dich wie eine Verbrecherin aufzuführen, wies Melanie mich zurecht.
Ich führe mich nicht nur so auf, erwiderte ich knapp.
Meine Handflächen fühlten sich unter ihrer dünnen Schweißschicht kalt an, obwohl es in dem kleinen Ladenlokal ziemlich heiß war. Die großen Fenster ließen so viel Sonne herein, dass die laute, auf Hochtouren laufende Klimaanlage nicht dagegen ankam.
Welchen soll ich nehmen?, wollte ich wissen.
Den Größeren, antwortete sie.
Ich griff nach dem größeren der beiden Rucksäcke im Angebot, einem aus Segeltuch, der so aussah, als würde deutlich mehr hineinpassen, als ich tragen konnte. Dann ging ich zu dem Regal mit den Wasserflaschen.
Wir können zwölf Liter tragen, beschloss sie. Dann haben wir drei Tage Zeit, sie zu finden.
Ich holte tief Luft und versuchte mich selbst davon zu überzeugen, dass ich es am Ende doch nicht tun würde. Ich wollte einfach nur noch mehr Angaben von ihr bekommen, das war alles. Wenn ich die ganze Geschichte zusammenhätte, würde ich jemanden finden - vielleicht einen anderen Sucher, einen, der nicht so widerwärtig war wie die, die man mir zugeteilt hatte -, dem ich die Informationen weitergeben konnte. Ich war nur gründlich, versicherte ich mir.
Mein unbeholfener Versuch, mich selbst zu belügen, war so lächerlich, dass Melanie ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte und sich überhaupt keine Sorgen machte. Die Sucherin hatte mich ja gewarnt - es musste wohl wirklich zu spät für mich sein. Vielleicht hätte ich doch fliegen sollen.
Zu spät? Schön wär’s!, brummte Melanie. Ich kann dich nicht dazu bringen, irgendwas zu tun, das du nicht willst. Ich kann ja noch nicht mal meine Hand heben!, beklagte sie sich frustriert.
Ich sah auf meine Hand hinab, die auf meiner Hüfte ruhte statt nach dem Wasser zu greifen, wie sie unbedingt wollte. Ich konnte ihre Ungeduld spüren, ihren fast verzweifelten Wunsch, endlich aufzubrechen. Wieder unterwegs zu sein, als wäre ich nur ein kurzes Zwischenspiel in ihrem Leben gewesen.
Sie kommentierte das mit der gedanklichen Entsprechung eines Schnaubens und wandte sich dann wieder unserem Vorhaben zu. Komm schon, drängte sie mich. Wir müssen los. Es wird bald dunkel.
Seufzend zog ich das größte der eingeschweißten Flaschenpakete vom Regal. Es landete beinahe auf dem Boden, bevor es mir gelang, es auf einem der unteren Regalbretter abzustützen. Meine Arme wurden halb aus den Schultergelenken gerissen.
»Das ist nicht dein Ernst!«, rief ich laut.
Sei still!
»Wie bitte?«, fragte ein kleiner, gebückter Mann, der andere Kunde, vom Ende des Gangs.
»Äh … nichts«, murmelte ich, wobei ich seinem Blick auswich. »Das hier ist schwerer, als ich erwartet hatte.«
»Soll ich Ihnen helfen?«, bot er an.
»Nein, nein«, antwortete ich hastig. »Ich nehme einfach ein Kleineres.«
Er wandte sich wieder der Auswahl an Kartoffelchips zu.
Nein, tust du nicht, sagte Melanie eindringlich. Ich habe schon schwerere Lasten getragen. Du hast uns total verweichlichen lassen, Wanderer, fügte sie anklagend hinzu.
Entschuldigung, antwortete ich geistesabwesend. Die Tatsache, dass sie zum ersten Mal meinen Namen benutzt hatte, verwirrte mich.
Geh zum Hochheben in die Knie.
Ich mühte mich mit dem Flaschenpaket ab und fragte mich, wie weit ich es wohl würde tragen müssen. Immerhin schaffte ich es damit bis zur Kasse. Erleichtert schob ich das schwere Ding auf die Theke. Ich legte den Rucksack auf die Flaschen und nahm dann noch eine Schachtel Müsliriegel, eine Packung Donuts und eine Tüte Chips aus dem nächsten Regal.
Wasser ist in der Wüste viel wichtiger als Essen und wir können nur so viel mitnehmen, wie …
Ich habe Hunger, unterbrach ich sie. Und das hier wiegt nicht viel.
Ist schließlich dein Rücken, sagte sie widerstrebend und befahl dann: Hol eine Landkarte.
Ich legte die, die sie haben wollte - eine topographische Karte der Region -, zu den anderen Sachen auf die Theke. Sie war nichts weiter als ein Teil ihres Ablenkungsmanövers.
Der Kassierer, ein weißhaariger Mann mit einem Lächeln auf den Lippen, scannte die Barcodes ein.
»Kleine Treckingtour geplant?«, fragte er freundlich.
»Der Berg ist wunderschön.«
»Der Anfang des Wanderweges ist gleich da drüben …«, sagte er und hob den Arm.
»Ich werde es bestimmt finden«, versicherte ich schnell und zog die schwere, unhandliche Last wieder von der Theke.
»Und steig wieder ab, bevor es dunkel wird, Mädchen. Damit du nicht verlorengehst.«
»Mach ich.«
Melanie bedachte den freundlichen alten Mann mit teuflischen Gedanken.
Er war nett. Und ernsthaft an meinem Wohlergehen interessiert, tadelte ich sie.
Ihr seid alle so gruselig, sagte sie bissig. Hat euch nie jemand gesagt, dass man nicht mit Fremden spricht?
Schuldgefühle durchzuckten mich, als ich antwortete. Es gibt keine Fremden unter uns.
Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, nichts bezahlen zu müssen, sagte sie und wechselte damit das Thema. Wieso werden die Sachen dann überhaupt eingescannt?
Warenwirtschaft natürlich. Soll er sich für die nächste Nachbestellung etwa alles merken, was wir mitnehmen? Im Übrigen, wozu braucht man Geld, wenn alle absolut ehrlich sind? Ich schwieg einen Moment, als das Schuldgefühl so stark wurde, dass es richtiggehend schmerzte. Alle außer mir natürlich.
Melanie wich vor meinen Gefühlen zurück, erschrocken darüber, dass sie so stark waren, und voller Angst, dass ich meine Meinung vielleicht doch noch ändern könnte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihren leidenschaftlichen Drang, hier wegzukommen, sich auf den Weg zu ihrem Ziel zu machen. Ihr Verlangen färbte auf mich ab und ich ging schneller.
Ich trug das Wasser zum Auto und stellte es neben der Beifahrertür auf die Erde.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«
Ich fuhr hoch und sah den Mann aus dem Laden mit eine Plastiktüte in der Hand neben mir stehen.
»Äh … danke«, brachte ich schließlich heraus, während mir das Blut in den Ohren pulsierte.
Wir warteten, während er unseren Einkauf in den Wagen hob. Melanie war dabei so angespannt, als wollte sie gleich losrennen.
Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten. Auch der ist einfach nur nett.
Sie sah ihn weiterhin misstrauisch an.
»Danke«, sagte ich noch einmal, als er die Tür zuwarf.
»Gern geschehen.«
Ohne sich noch einmal zu uns umzudrehen, ging er zu seinem eigenen Auto hinüber. Ich stieg ein und schnappte mir die Tüte mit den Kartoffelchips.
Guck auf die Landkarte, sagte sie. Warte, bis er außerSichtweite ist.
Niemand beobachtet uns, versicherte ich ihr. Aber trotzdem faltete ich seufzend die Karte auseinander und aß mit einer Hand. Es konnte nicht schaden, eine Vorstellung davon zu bekommen, wo wir waren.
Wo wollen wir überhaupt hin?, fragte ich sie. Wir haben den Ausgangspunkt entdeckt, und jetzt?
Sieh dich um, befahl sie. Wenn wir es von hier aus nicht sehen können, versuchen wir es südlich des Berges.
Was sehen können?
Sie zeigte mir das Bild aus ihrer Erinnerung: eine ausgefranste Zickzacklinie, vier enge Serpentinen, der fünfte Scheitelpunkt leicht stumpf, als wäre die Spitze abgebrochen. Jetzt erkannte ich es als das, was es war: eine ausgefranste Bergkette mit vier spitzen Gipfeln und einem fünften, der aussah, als wäre ein Stück abgebrochen …
Ich ließ meinen Blick von Osten nach Westen über den Horizont schweifen. Es war so eindeutig, dass ich dachte, ich müsste es mir einbilden, als hätte ich mir das Bild ausgedacht, nachdem ich den Gebirgszug gesehen hatte, der sich im Nordosten vor dem Horizont abzeichnete.
Das ist es, jauchzte Melanie geradezu vor lauter Aufregung. Na, dann los! Sie wollte, dass ich aus dem Auto stieg und zu Fuß weiterging.
Ich schüttelte den Kopf und beugte mich wieder über die Karte. Die Bergkette war so weit entfernt, dass ich nicht abschätzen konnte, wie viele Kilometer es waren. Es kam überhaupt nicht in Frage, dass ich von diesem Parkplatz in die verlassene Wüste spazierte, wenn es sich vermeiden ließ.
Lass uns vernünftig an die Sache rangehen, schlug ich vor und fuhr mit dem Finger ein dünnes Band entlang, eine namenlose Straße, die ein paar Kilometer östlich von uns vom Highway abzweigte und dann ungefähr in Richtung des Gebirgszugs weiterführte.
Okay, stimmte sie gönnerhaft zu. Je schneller, desto besser.
Wir fanden die Straße ohne Probleme, es war nur eine blasse Spur aus plattgefahrenem Staub zwischen spärlichem Buschwerk, kaum breit genug für ein Auto. Ich hatte das Gefühl, dass sie in einer anderen Gegend schon längst überwuchert wäre, ungenutzt, wie sie war - an einem Ort mit einer etwas üppigeren Vegetation, nicht wie hier, wo die Wüstenpflanzen Jahrzehnte brauchten, um sich von einer solchen Störung zu erholen. Die Einfahrt wurde von einer rostigen Kette versperrt, die auf der einen Seite in einem Holzpfosten verankert, auf der anderen aber nur lose um den zweiten Pfosten geschlungen war. Ich beeilte mich, als ich die Kette losmachte, am Fuß des ersten Pfostens auftürmte und dann schnell zum Auto zurückging, das mit laufendem Motor wartete. Ich hoffte, es würde niemand vorbeikommen und mir Hilfe anbieten. Der Highway blieb leer, als ich auf die Staubpiste einbog und dann zurücklief, um die Kette wieder zu befestigen.
Wir atmeten beide auf, als die Straße hinter uns verschwand. Ich war einfach froh, dass es jetzt niemanden mehr gab, den ich anlügen musste, sei es mit Worten oder schweigend. Allein fühlte ich mich nicht so sehr als Abtrünnige.
Melanie fühlte sich hier mitten im Nichts voll und ganz zu Hause. Sie kannte die Namen all der stacheligen Pflanzen um uns herum. Sie summte die Worte vor sich hin und begrüßte sie wie alte Freunde.
Kreosot, Ocotillo, Cholla, Feigenkaktus, Mesquite …
Abseits des Highways, des Sinnbilds der Zivilisation, schien die Wüste ein ganz neues Leben für sie zu verkörpern. Obwohl sie die Geschwindigkeit des hüpfenden Autos zu schätzen wusste - bei jedem Schlagloch erinnerten mich die Stöße daran, dass unser Wagen nicht den nötigen Bodenabstand für diesen Abstecher hatte -, brannte sie darauf, auf den Beinen zu sein und durch die Sicherheit der glühenden Wüste zu laufen.
Wir würden wahrscheinlich wirklich zu Fuß gehen müssen und für meinen Geschmack schon viel zu bald, aber ich bezweifelte, dass es sie zufriedenstellen würde, wenn es so weit war. Ich konnte ihr wahres Verlangen dahinter spüren: Freiheit. Ihren Körper im vertrauten Rhythmus ihrer langen Schritte zu bewegen, nur von ihrem eigenen Willen angetrieben. Einen Moment lang ließ ich den Gedanken daran zu, was für ein Gefängnis ein Leben ohne Körper war. Herumgetragen zu werden, ohne Einfluss auf die Hülle um einen herum zu haben. Gefangen. Ohne jede Wahl.
Ich schauderte und konzentrierte mich wieder auf die holprige Straße; versuchte, die Mischung aus Mitleid und Entsetzen abzuwehren. Kein anderer Wirt hatte in mir solche Schuldgefühle hervorgerufen für das, was ich war. Allerdings war von den anderen auch keiner dageblieben, um sich über die Situation zu beklagen.
Die Sonne war kurz davor, hinter den Berggipfeln im Westen zu verschwinden, als wir unsere erste Meinungsverschiedenheit hatten. Die langen Schatten malten seltsame Muster auf den Weg und machten es mir schwer, den Steinbrocken und Kratern auszuweichen.
Da ist es!, jubelte Melanie, als wir die nächste Felsformation weiter im Osten erblickten: eine sanfte Welle, die unvermittelt von einem Ausläufer unterbrochen wurde, der sich wie ein langer, dünner Finger in den Himmel streckte.
Sie war dafür, sofort ins Gebüsch abzubiegen, unabhängig davon, wie das dem Auto bekam.
Vielleicht müssen wir erst den ganzen Weg bis zur ersten Wegmarkierung fahren, bemerkte ich. Die kleine staubige Straße schlängelte sich weiterhin mehr oder weniger in die richtige Richtung und ich hatte Angst, sie zu verlassen. Wie würde ich sonst meinen Weg zurück in die Zivilisation finden? Oder würde ich gar nicht zurückkehren?
In genau diesem Moment, als die Sonne im Westen auf die dunkle, gezackte Linie des Horizonts stieß, dachte ich an die Sucherin. Was würde sie tun, wenn ich nicht kam? Ein plötzliches Glücksgefühl ließ mich laut auflachen. Auch Melanie gefiel die Vorstellung, wie wütend die Sucherin sein würde. Wie lange würde sie für den Rückweg nach San Diego brauchen, um nachzusehen, ob alles nur eine List gewesen war, um sie loszuwerden? Und was würde sie dann unternehmen, wenn sie bemerkte, dass ich nicht dort war? Dass ich nirgendwo war?
Ich konnte mir nur nicht so genau vorstellen, wo ich zu diesem Zeitpunkt sein würde.
Da, ein ausgetrockneter Wasserlauf. Der ist breit genug für das Auto, lass uns da langfahren, beharrte sie.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich jetzt schon in diese Richtung müssen.
Es wird bald dunkel und dann können wir nicht mehr weiterfahren. Du verschwendest unsere Zeit! Sie war so verbittert, dass sie mich lautlos anbrüllte.
Oder spare Zeit, wenn ich Recht habe. Außerdem ist es meine Zeit, oder nicht?
Sie antwortete nicht. Stattdessen schien sie sich in meinem Kopf auszustrecken, zurück zu dem von ihr favorisierten Wasserlauf.
Ich mache das hier auf meine Art.
Melanie kochte wortlos.
Warum zeigst du mir nicht die restlichen Linien?, schlug ich vor. Wir könnten gucken, ob man noch was sieht, bevor es Nacht wird.
Nein, fuhr sie mich an. Das mache ich auf meine Art.
Du bist kindisch.
Sie antwortete auch diesmal nicht. Ich fuhr weiter auf die vier spitzen Gipfel zu und sie schmollte.
Als die Sonne hinter den Bergen verschwand, wurde es schlagartig Nacht um uns herum; eben noch hatte die Wüste im Orange des Sonnenuntergangs geleuchtet, dann war es schwarz. Ich fuhr langsamer und fummelte auf der Suche nach dem Schalter für die Scheinwerfer am Armaturenbrett herum.
Hast du den Verstand verloren?, zischte Melanie. Hast du eine Ahnung, wie weit man die Scheinwerfer hier draußen sehen kann? So entdeckt man uns bestimmt.
Und was machen wir jetzt?
Hoffen, dass man die Rückenlehne runterklappen kann.
Ich ließ den Motor laufen, während ich nach einer Alternative zur Übernachtung im Auto suchte, umgeben von der schwarzen Leere der nächtlichen Wüste. Melanie wartete geduldig. Sie wusste, ich würde keine finden.
Das ist doch verrückt, sagte ich, als ich den Schalthebel auf Parken stellte und den Schlüssel aus dem Zündschloss zog. Das alles hier. Es kann gar nicht sein, dass hier draußen wirklich jemand ist. Wir werden nichts finden. Und wir werden uns dabei hoffnungslos verirren. Ich hatte eine vage Ahnung von der konkreten Gefahr unseres Vorhabens - einfach so in die Hitze hinauszumarschieren ohne einen Plan B, ohne eine Umkehrmöglichkeit. Ich wusste, dass Melanie die Gefahr noch viel besser einschätzen konnte, aber sie hielt die Einzelheiten vor mir zurück.
Sie reagierte nicht auf meine Bedenken. Keins dieser Probleme kümmerte sie. Mir war klar, dass sie lieber für den Rest ihres Lebens allein durch die Wüste wandern würde, als zu dem Leben zurückzukehren, das ich bisher geführt hatte. Und das nicht nur wegen der Bedrohung durch die Sucherin.
Ich kurbelte die Rückenlehne so weit wie möglich zurück - was längst nicht weit genug war, um bequem zu sein. Ich bezweifelte, dass ich schlafen würde, aber es gab so viele Dinge, über die ich mir nicht nachzudenken erlaubte, dass es in meinem Gehirn ganz leer war. Melanie schwieg ebenfalls.
Ich schloss die Augen und konnte keinen großen Unterschied zur mondlosen Nacht feststellen. Unerwartet leicht schlief ich ein.