Verfolgt
Draußen vor dem Fenster begann es endlich zu dämmern. Der Tag, ein heißer Tag für März, hatte sich in die Länge gezogen, als sträubte er sich zu enden und mich freizugeben.
Ich schniefte und knüllte das nasse Taschentuch wieder zusammen. »Kathy, Sie haben doch bestimmt noch was anderes vor. Curt fragt sich sicher schon, wo Sie bleiben.«
»Er wird Verständnis haben.«
»Ich kann doch nicht ewig hier sitzen. Und wir sind immer noch meilenweit von einer Antwort entfernt.«
»Blitz-Problemlösungen sind nicht meine Spezialität. Sie haben sich also gegen einen neuen Wirt entschieden …«
»Ja.«
»Dann wird es vermutlich einige Zeit dauern, das hier in den Griff zu kriegen.«
Frustriert biss ich die Zähne zusammen.
»Und es wird schneller und einfacher gehen, wenn Sie Hilfe haben.«
»Ich verspreche, in Zukunft meine Termine regelmäßiger wahrzunehmen.«
»Das hoffe ich, aber ich meinte eigentlich etwas anderes.«
»Sie meinen Hilfe von … jemand anderem als Ihnen?« Beim Gedanken daran, den heutigen Tag mit einem Fremden noch einmal zu durchleben, verkrampfte ich mich. »Ich bin sicher, Sie sind genauso gut wie jeder andere Helfer - wenn nicht noch besser.«
»Ich spreche nicht von einem anderen Helfer.« Sie verlagerte ihr Gewicht auf dem Sessel und streckte ihre steifgewordenen Glieder. »Wie viele Freunde haben Sie, Wanderer?«
»Sie meinen die Leute bei der Arbeit? Ich sehe ein paar der anderen Dozenten fast täglich. Mit einigen Studenten unterhalte ich mich auf dem Flur …«
»Und außerhalb der Uni?«
Ich sah sie verständnislos an.
»Menschliche Wirte brauchen Sozialkontakte. Sie sind nicht an Einsamkeit gewöhnt, meine Liebe. Sie haben die Gedanken eines ganzen Planeten geteilt …«
»Wir sind nicht oft ausgegangen.« Mein Versuch, einen Witz zu machen, misslang.
Sie lächelte schwach und fuhr fort: »Sie sind so in Ihr Problem verstrickt, dass Sie an nichts anderes denken können. Eine Lösungsmöglichkeit wäre vielleicht, dass Sie sich nicht so sehr darauf konzentrieren. Sie haben gesagt, dass sich Melanie während Ihrer Arbeitszeit langweilt … dass sie sich dann still verhält. Wenn Sie sich mehr mit anderen Leuten abgeben, langweilt sie das vielleicht auch.«
Ich kräuselte nachdenklich die Lippen. Melanie, die von diesem langen Tag mit seinem Hilfsversuch ganz träge war, schien von dem Gedanken tatsächlich nicht gerade angetan zu sein.
Kathy nickte. »Kümmern Sie sich lieber um Ihr Leben als um sie.«
»Das klingt vernünftig.«
»Und dann sind da noch die körperlichen Triebe dieser Wirte. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen oder gehört. Eins der schwierigsten Dinge, die wir während der ersten Besatzungsphase in den Griff kriegen mussten, war der Paarungsinstinkt. Glauben Sie mir, die Menschen merkten es, wenn man das nicht schaffte.« Sie grinste und verdrehte die Augen, als sie daran zurückdachte. Als ich nicht so reagierte, wie sie es offenbar erwartet hatte, seufzte sie und verschränkte ungeduldig die Arme. »Ach, kommen Sie, Wanderer. Das müssen Sie doch bemerkt haben.«
»Na ja, klar«, murmelte ich. Melanie wand sich unruhig hin und her. »Natürlich. Ich habe Ihnen doch von den Träumen erzählt …«
»Nein, ich meinte nicht nur die Erinnerungen. Ist Ihnen nie jemand begegnet, von dem sich Ihr Körper angezogen gefühlt hat - rein chemisch gesehen?«
Ich dachte gut über ihre Frage nach. »Ich glaube nicht. Zumindest nicht, dass ich wüsste.«
»Glauben Sie mir«, sagte Kathy trocken, »das wüssten Sie.« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollten Sie sich ein bisschen umschauen und mal bewusst darauf achten. Es würde Ihnen bestimmt sehr guttun.«
Mein Körper schreckte vor dem Gedanken zurück. Ich registrierte Melanies Abscheu, der sich in meinem eigenen widerspiegelte.
Kathy deutete meinen Gesichtsausdruck. »Lassen Sie sie nicht darüber bestimmen, wie Sie mit Ihresgleichen in Kontakt treten. Lassen Sie sie nicht über sich bestimmen.«
Meine Nasenflügel bebten. Ich antwortete nicht direkt, sondern versuchte, meine Wut zu zügeln, an die ich mich immer noch nicht so richtig gewöhnt hatte.
»Sie bestimmt nicht über mich.«
Kathy hob eine Augenbraue.
Die Wut schnürte mir die Kehle zu. »Der Radius, in dem Sie nach Ihrem aktuellen Partner gesucht haben, war nicht allzu groß. Hat darüber jemand bestimmt?«
Sie ignorierte meine Wut und dachte ernsthaft über die Frage nach.
»Vielleicht«, sagte sie schließlich. »Schwer zu sagen. Aber der Punkt geht an Sie.« Sie zupfte an einem Faden am Saum ihres T-Shirts, dann faltete sie energisch die Hände und straffte die Schultern, als hätte sie gemerkt, dass sie meinem Blick auswich. »Wer weiß, wie viel von dem jeweils aktuellen Wirt auf dem jeweils aktuellen Planeten stammt. Wie schon gesagt, glaube ich, dass die Zeit Ihnen helfen wird. Dass sie entweder mit der Zeit immer stiller und abwesender wird und Ihnen so die Möglichkeit gibt, sich neben diesem Jared für jemand anderen zu entscheiden … oder, na ja, die Sucher machen ihre Sache ziemlich gut. Sie suchen schon nach ihm und vielleicht fällt Ihnen noch was ein, das ihnen helfen kann.«
Ich rührte mich nicht, als die Bedeutung dessen, was sie sagte, in mein Bewusstsein sickerte. Sie schien nicht zu bemerken, dass ich völlig erstarrt war.
»Vielleicht wird Melanies Geliebter gefunden und Sie könnten zusammenkommen. Wenn seine Gefühle auch nur annähernd so stark sind wie ihre, wird die neue Seele wahrscheinlich offen dafür sein.«
»Nein!« Ich war mir nicht sicher, wer schrie. Es hätte durchaus ich sein können. Ich war ebenfalls entsetzt.
Schwankend kam ich auf die Beine. Meine Augen blieben ausnahmsweise tränenlos, während meine geballten Fäuste zitterten.
»Wanderer?«
Aber ich drehte mich um und rannte zur Tür, während ich die Worte unterdrückte, die nicht aus meinem Mund kommen durften. Worte, die nicht meine sein konnten. Worte, die nur Sinn ergaben, wenn sie von ihr stammten, die sich aber so anfühlten, als wären es meine. Sie konnten nicht meine sein. Sie durften nicht ausgesprochen werden.
Das bringt ihn um! Dann gibt es ihn nicht mehr! Ich will keinen anderen. Nie. Niemals! Ich will Jared und nicht irgendeinen Fremden in seinem Körper. Ohne ihn ist der Körper nichts.
Ich hörte, wie Kathy hinter mir herrief, als ich auf die Straße rannte.
Ich wohnte nicht weit entfernt von der Praxis der Helferin, aber die Dunkelheit auf der Straße verwirrte mich. Ich war schon zwei Häuserblocks entfernt, als ich merkte, dass ich in die falsche Richtung rannte.
Leute wurden auf mich aufmerksam. Ich trug keine Sportkleidung und ich joggte auch nicht, sondern floh. Aber niemand belästigte mich; alle wandten höflich den Blick ab. Sie nahmen vermutlich an, dass ich neu in diesem Wirt war. Mich aufführte wie ein Kind.
Ich verlangsamte meine Schritte und bog Richtung Norden ab, um auf dem Rückweg nicht wieder an Kathys Praxis vorbeizumüssen.
Ich ging zügig und hörte, wie meine Schritte zu schnell auf dem Bürgersteig auftrafen, als versuchten sie, das Tempo mitreißender Tanzmusik zu halten. Klack, klack, klack, machte es auf dem Asphalt. Nein, das war nicht der Rhythmus eines Schlagzeugs, dafür klang es zu zornig. Zu gewalttätig. Klack, klack, klack. Wie jemand, der einen anderen schlug. Das schreckliche Bild ließ mich schaudern.
Ich konnte schon die Lampe über meiner Wohnungstür brennen sehen. Ich hatte nicht lange für den Weg gebraucht. Allerdings überquerte ich nicht die Straße.
Mir war schlecht. Ich erinnerte mich, wie es war, sich zu übergeben, obwohl ich es noch nie getan hatte. Kalter Schweiß perlte auf meiner Stirn, ein dumpfes Geräusch dröhnte mir in den Ohren. Ich war ziemlich sicher, dass ich kurz davor war, selbst diese Erfahrung zu machen.
Neben dem Bürgersteig war ein Grünstreifen, auf dem eine gut gestutzte Hecke eine Straßenlaterne umschloss. Ich hatte keine Zeit, mir einen besseren Platz zu suchen. Ich stolperte in den Lichtkegel und stützte mich am Laternenpfahl ab. Mir war schwindlig vor Übelkeit.
Ja, ich würde garantiert gleich erfahren, wie es war, sich zu übergeben.
»Wanderer, sind Sie das? Wanderer, sind Sie krank?«
Ich war nicht in der Lage, mich auf die Stimme zu konzentrieren, die mir irgendwie bekannt vorkam. Aber die Tatsache, dass ich Publikum hatte, während ich mich über die Hecke beugte und krampfartig meine letzte Mahlzeit hervorwürgte, machte alles nur noch schlimmer.
»Wer ist Ihr Heiler hier?«, fragte die Stimme, die durch das Summen in meinen Ohren weit entfernt klang. Eine Hand berührte meinen gebeugten Rücken. »Brauchen Sie einen Krankenwagen?«
Ich hustete zweimal hintereinander und schüttelte den Kopf. Ich war sicher, dass es vorbei war; mein Magen war leer.
»Ich bin nicht krank«, sagte ich, während ich mich am Laternenpfahl hochzog. Ich sah auf, um herauszufinden, wer diesen peinlichen Moment beobachtet hatte.
Die Sucherin aus Chicago hielt ihr Handy in der Hand und überlegte, wen sie anrufen sollte. Ich sah sie einmal kurz an und beugte mich sofort wieder über das Blattwerk. Leerer Magen hin oder her, sie war die Letzte, die ich gerade sehen wollte.
Aber während sich mein Magen vergeblich zusammenzog, wurde mir klar, dass es einen Grund für ihre Anwesenheit geben musste.
O nein! O nein, nein, nein, nein, nein, nein!
»Warum?«, brachte ich mühsam hervor. Panik und Übelkeit nahmen meiner Stimme alle Kraft. »Warum sind Sie hier? Was ist passiert?« Die beunruhigenden Worte der Helferin dröhnten in meinem Kopf.
Ich starrte die Hände, die die Sucherin am Kragen ihres schwarzen Anzugs gepackt hatten, zwei Sekunden lang an, bevor ich begriff, dass es meine waren.
»Aufhören!«, sagte sie mit wütendem Gesicht. Ihre Stimme vibrierte.
Ich schüttelte sie immer noch.
Mein Griff löste sich und ich schlug mir die Hände vors Gesicht. »Entschuldigung!«, stieß ich hervor. »Tut mir leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
Die Sucherin warf mir einen bösen Blick zu und strich ihren Blazer glatt. »Es geht Ihnen nicht gut und vermutlich habe ich Sie erschreckt.«
»Ich hatte Sie nicht erwartet«, flüsterte ich. »Warum sind Sie hier?«
»Wir bringen Sie am besten erst mal in eine Heileinrichtung, bevor wir uns unterhalten. Wenn Sie eine Infektion haben, sollte man sie zügig heilen. Es gibt keinen Grund, Ihren Körper davon schwächen zu lassen.«
»Ich habe keine Infektion. Ich bin nicht krank.«
»Haben Sie was Verdorbenes gegessen? Dann müssen Sie melden, wo Sie es herhatten.«
Ihre Fragerei machte mich wahnsinnig. »Ich habe auch nichts Verdorbenes gegessen. Ich bin gesund.«
»Warum lassen Sie nicht einen Heiler nachsehen? Einmal kurz durchleuchten - Sie sollten Ihren Wirt nicht vernachlässigen. Das ist unverantwortlich. Vor allem, wo wir so einfach und effektiv seine Gesundheit wiederherstellen können.«
Ich atmete tief durch und widerstand dem Drang, sie erneut zu schütteln. Sie war einen ganzen Kopf kleiner als ich. Den Kampf würde ich gewinnen.
Den Kampf? Ich wandte ihr den Rücken zu und ging schnell auf meine Wohnung zu. Ich war in einer gefährlich emotionalen Stimmung. Ich musste mich irgendwie beruhigen, bevor ich noch etwas tat, für das es keine Entschuldigung gab.
»Wanderer? Warten Sie! Der Heiler …«
»Ich brauche keinen Heiler«, sagte ich, ohne mich umzudrehen. »Ich war nur … emotional ein bisschen aus dem Gleichgewicht. Jetzt bin ich wieder okay.«
Die Sucherin antwortete nicht. Ich fragte mich, wie sie meine Worte auffassen würde. Ich hörte, wie ihre Schuhe - mit hohen Absätzen - hinter mir her klapperten, also ließ ich die Tür offen stehen, da ich wusste, dass sie mir folgen würde. Ich ging zur Spüle und füllte ein Glas mit Wasser. Sie wartete schweigend, während ich mir den Mund ausspülte und das Wasser wieder ausspuckte. Als ich fertig war, lehnte ich mich an die Arbeitsplatte und starrte ins Becken.
Ihr wurde bald langweilig.
»Nun, Wanderer … hören Sie überhaupt noch auf diesen Namen? Ich will nicht unhöflich sein, indem ich Sie so nenne.« Ich sah sie nicht an. »Ich höre immer noch auf Wanderer.« »Interessant. Ich hätte gewettet, dass Sie zu denen gehören, die sich selbst einen Namen aussuchen.«
»Ich habe einen ausgesucht. Ich habe Wanderer ausgesucht.«
Es war mir schon lange klar, dass die Sucherin die Schuld an dem kleinen Wortwechsel trug, den ich am ersten Tag, als ich in der Heileinrichtung aufgewacht war, mit angehört hatte. Die Sucherin war die streitsüchtigste Seele, der ich in neun Leben begegnet war. Mein erster Heiler, Fords Deep Waters, war sogar für eine Seele ausgesprochen ruhig, freundlich und verständnisvoll gewesen. Trotzdem hatte er nicht umhingekonnt, aggressiv zu reagieren. Dadurch fühlte ich mich weniger schuldig wegen meiner eigenen aggressiven Reaktion.
Ich drehte mich zu ihr um. Sie hatte es sich auf meinem kleinen Sofa bequem gemacht, als hätte sie vor, länger zu bleiben. Sie machte ein selbstzufriedenes Gesicht, ihre hervorstehenden Augen schienen belustigt. Ich unterdrückte das Verlangen, die Stirn zu runzeln.
»Warum sind Sie hier?«, fragte ich erneut. Meine Stimme klang ruhig. Beherrscht. Ich würde vor dieser Frau nicht noch einmal die Kontrolle verlieren.
»Es ist eine Weile her, seit ich das letzte Mal von Ihnen gehört habe, deshalb dachte ich, ich schaue mal persönlich vorbei. Wir sind in Ihrem Fall noch nicht wirklich weitergekommen.«
Meine Hände umklammerten den Rand der Arbeitsplatte hinter mir, aber ich hielt die unsägliche Erleichterung aus meiner Stimme fern.
»Das kommt mir etwas … übereifrig vor. Außerdem habe ich Ihnen gestern Nacht eine Nachricht geschickt.«
Sie zog wie immer die Augenbrauen zusammen, auf eine Art, die sie gleichzeitig ärgerlich und vorwurfsvoll aussehen ließ, als wäre nicht sie selbst, sondern der andere verantwortlich für ihren Ärger. Sie packte ihren Computer aus und berührte mehrmals den Bildschirm.
»Oh«, sagte sie steif. »Ich habe meine Mails heute noch nicht abgerufen.«
Sie schwieg, während sie überflog, was ich geschrieben hatte.
»Es war noch sehr früh am Morgen«, sagte ich. »Ich habe noch halb geschlafen. Ich weiß nicht genau, wie viel von dem, was ich geschrieben habe, Erinnerung war oder Traum oder was ich vielleicht sogar im Schlaf getippt habe.«
Ich ließ zu, dass die Worte - Melanies Worte - aus meinem Mund sprudelten. Ich fügte sogar mein eigenes unbeschwertes Lachen am Ende hinzu. Mein Verhalten war unehrlich, beschämend. Aber ich würde die Sucherin nicht spüren lassen, dass ich schwächer war als mein Wirt.
Ausnahmsweise reagierte Melanie nicht mit Triumph, obwohl sie mich ausgestochen hatte. Sie war zu erleichtert, zu dankbar, dass ich sie nicht verriet, wenn auch aus meinen eigenen niederen Beweggründen.
»Interessant«, murmelte die Sucherin. »Noch einer, der frei herumläuft.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind immer noch meilenweit vom Frieden entfernt.« Der Gedanke schien sie nicht weiter aufzuregen - im Gegenteil, er schien ihr zu gefallen.
Ich biss mir auf die Lippe. Melanie wollte unbedingt noch weitergehen und behaupten, der Junge sei nur Teil eines Traums gewesen. Du spinnst, erklärte ich ihr. Das wäre viel zu offensichtlich. Es sagte einiges über die unsympathische Art der Sucherin aus, dass es ihr gelang, Melanie und mich zu Verbündeten zu machen.
Ich hasse sie.
Ich weiß, ich weiß. Ich wünschte, ich hätte leugnen können, dass es mir genauso ging. Hass war ein absolut unverzeihliches Gefühl. Aber es war … sehr schwierig, die Sucherin zu mögen. Unmöglich.
Die Sucherin unterbrach das Gespräch in meinem Innern. »Außer dem neuen Ort, den wir überprüfen sollen, haben Sie also keine weiteren Hinweise im Zusammenhang mit der Landkarte?«
Ich spürte, wie mein Körper auf ihren vorwurfsvollen Unterton mit Widerwillen reagierte. »Ich habe nie behauptet, dass es sich um Linien auf einer Landkarte handelt. Das haben Sie angenommen. Und nein, ich habe sonst nichts Neues für Sie.«
Sie schnalzte dreimal schnell mit der Zunge. »Aber Sie haben gesagt, es wären Richtungsangaben.«
»Ich glaube, dass es Richtungsangaben sind. Mehr kriege ich nicht raus.«
»Warum nicht? Haben Sie den Menschen immer noch nicht unterworfen?« Sie lachte laut. Lachte mich aus.
Ich drehte ihr den Rücken zu und versuchte mich zu beruhigen. Ich tat so, als wäre sie gar nicht da. Als wäre ich ganz allein in meiner spartanischen Küche, während ich aus dem Fenster starrte und den kleinen Ausschnitt des Nachthimmels betrachtete, mit den drei hellen Sternen, die ich dort sehen konnte.
Zumindest so allein wie möglich.
Während ich die drei winzigen Lichtpunkte in der Dunkelheit fixierte, blitzten die Linien vor meinem inneren Auge auf, die ich immer wieder gesehen hatte - in meinen Träumen und in meinen lückenhaften Erinnerungen - und die mir immer wieder unerwartet in den verschiedensten Augenblicken in den Sinn kamen.
Die erste: eine langsame, unregelmäßige Biegung, dann eine scharfe Kurve nach Norden, wieder eine scharfe Kurve zurück in die andere Richtung, dann wieder ein längerer Ausläufer nach Norden, dann fiel sie wieder steil Richtung Süden ab, um plötzlich in einer weiteren sanften Biegung auszulaufen.
Die zweite: eine ausgefranste Zickzacklinie, vier enge Serpentinen, der fünfte Scheitelpunkt leicht stumpf, als wäre die Spitze abgebrochen …
Die dritte: eine sanfte Welle, die unvermittelt von einem Ausläufer unterbrochen wurde, der sich wie ein langer, dünner Finger nach Norden streckte.
Unverständlich, scheinbar bedeutungslos. Aber ich wusste, dass sie für Melanie wichtig waren. Ich hatte es von Anfang an gewusst. Sie hütete dieses Geheimnis hartnäckiger als alle anderen, genau wie den Jungen, ihren Bruder. Bis zu dem Traum letzte Nacht hatte ich keine Ahnung gehabt, dass es ihn gab. Ich fragte mich, was sie dazu gebracht hatte, ihn preiszugeben. Vielleicht würde sie immer mehr ihrer Geheimnisse verraten, je lauter sie in meinem Kopf wurde …
Vielleicht würde sie einen Moment lang nicht aufpassen und ich könnte sehen, was diese seltsamen Linien bedeuteten. Ich wusste, dass sie etwas bedeuteten. Dass sie irgendwohin führten.
Und genau in diesem Augenblick, als das Gelächter der Sucherin noch in der Luft nachhallte, wurde mir plötzlich klar, warum sie so wichtig waren.
Sie führten natürlich zurück zu Jared. Zurück zu den beiden, zu Jared und Jamie. Wohin sonst? Welcher Ort könnte sonst irgendeine Bedeutung für sie haben? Aber erst jetzt erkannte ich, dass sie nicht wirklich zurückführten, denn keiner von ihnen war diesen Linien vorher je gefolgt. Linien, die für Melanie ebenso geheimnisvoll gewesen waren wie für mich, bis …
Die Mauer, die den Zugang blockierte, war diesmal langsam. Melanie war abgelenkt, achtete mehr auf die Sucherin als ich. Als Reaktion auf ein Geräusch hinter mir zitterte sie in meinem Kopf und erst daran merkte ich, dass sich die Sucherin näherte.
Die Sucherin seufzte. »Ich hatte mehr von Ihnen erwartet. Ihr Lebenslauf klang so vielversprechend.«
»Es ist ein Jammer, dass Sie nicht selbst für die Aufgabe zur Verfügung standen. Ich bin sicher, es wäre ein Kinderspiel für Sie gewesen, mit einem aufständischen Wirt fertigzuwerden.« Ich drehte mich nicht zu ihr um. Meine Stimme war unbewegt.
Sie sog die Luft ein. »Die Anfangsphase der Besetzung war auch ohne aufständischen Wirt Herausforderung genug.«
»Ich weiß. Ich war selbst an ein paar Besiedlungen beteiligt.«
Sie schnaubte. »War der Sehtang sehr schwer zu bezwingen? Ist er geflohen?«
Meine Stimme blieb ruhig. »Am Südpol gab es keine Probleme. Im Norden war das jedoch anders. Da ist es missglückt. Wir haben den kompletten Wald verloren.« Die Trauer aus jener Zeit schwang in meiner Stimme mit. Tausende fühlende Lebewesen, die lieber ihre Augen für immer verschlossen hatten, als uns zu akzeptieren. Sie hatten ihre Blätter vor der Sonne verborgen und waren verhungert …
Besser für sie, flüsterte Melanie. Da war kein Sarkasmus in ihrem Gedanken zu spüren, nur Zustimmung, als sie die Tragödie in meiner Erinnerung guthieß.
Es war eine solche Verschwendung. Ich ließ die Erinnerung an den Todeskampf dieses enormen Wissensschatzes, das Gefühl der sterbenden Gedanken, das uns mit dem Schmerz unseres verschwisterten Waldes gequält hatte, durch meinen Kopf strömen.
So oder so hätte es für sie den Tod bedeutet.
Die Sucherin sagte etwas und ich gab mir Mühe, mich auf nur ein Gespräch zu konzentrieren.
»Ja.« Ihre Stimme klang plötzlich belegt. »Das ging gründlich schief.«
»Man kann nicht vorsichtig genug sein, wenn es darum geht, jemandem Verantwortung zu übertragen. Manche sind nicht so sorgfältig, wie sie sein sollten.«
Sie antwortete nicht und ich hörte, wie sie sich ein paar Schritte entfernte. Es war allgemein bekannt, dass der Fehler, der zu diesem Massenselbstmord geführt hatte, den Suchern anzulasten war. Diese hatten, da der Sehtang ja nicht in der Lage war zu fliehen, seine Fähigkeit unterschätzt, sich ihnen zu entziehen. Sie hatten fahrlässigerweise die erste Besiedlungsphase gestartet, bevor genug Seelen für eine vollständige Übernahme vor Ort gewesen waren. Als sie gemerkt hatten, wozu sich der Sehtang entschlossen hatte, war es zu spät. Die nächste Schiffsladung von tiefgekühlten Seelen war noch zu weit weg und als sie eintraf, war der Wald im Norden bereits verloren.
Ich drehte mich zu der Sucherin um, neugierig, wie meine Worte auf sie gewirkt hatten. Ungerührt starrte sie geradeaus auf die nackte weiße Wand.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann«, sagte ich bestimmt, um ihr klarzumachen, dass ich sie loswerden wollte. Ich wollte meine Wohnung wieder für mich haben. Für uns, warf Melanie gehässig ein. Ich seufzte. Sie war sich ihrer Stärke inzwischen so sicher. »Sie hätten sich wirklich nicht die Mühe machen müssen, den weiten Weg hierherzukommen.«
»Das ist mein Job«, sagte die Sucherin und zuckte mit den Schultern. »Sie sind zurzeit mein einziges Projekt. Bis ich die übrigen Aufständischen gefunden habe, kann ich genauso gut in Ihrer Nähe bleiben. Vielleicht lohnt es sich ja.«