Bestimmt
»Sind sie hier?« Wir spuckten die Worte aus - sie schossen aus uns heraus wie vorher das Wasser aus unseren Lungen. Außer Wasser war diese Frage alles, was zählte. »Haben sie es geschafft?«
Es war unmöglich, in der Dunkelheit Onkel Jebs Gesichtsausdruck zu deuten. »Wer?«, fragte er.
»Jamie, Jared!« Unser Flüstern brannte wie ein Schrei. »Jared war mit Jamie unterwegs. Unserem Bruder! Sind sie hier? Sind sie hergekommen? Hast du sie auch gefunden?«
Es gab kaum eine Pause.
»Nein.« Seine Antwort kam kraftvoll und mitleidslos, ohne jegliches Gefühl.
»Nein«, flüsterten wir. Wir sprachen ihm nicht nach, wir protestierten dagegen, unser Leben zurückzubekommen. Wozu? Wir schlossen die Augen wieder und lauschten dem Schmerz in unserem Körper. Er übertönte den Schmerz in unserem Kopf.
»Hör mal«, sagte Onkel Jeb nach einer Weile. »Ich, äh, muss mich da um was kümmern. Ruh dich ein bisschen aus, ich bin gleich zurück.«
Wir nahmen den Inhalt seiner Worte nicht wahr, nur das Geräusch. Unsere Augen blieben geschlossen. Seine Schritte knirschten leise davon. Wir konnten nicht erkennen, in welche Richtung er ging. Es war uns auch egal.
Sie waren weg. Es gab keine Möglichkeit mehr, sie zu finden, keine Hoffnung. Jared und Jamie waren verschwunden - etwas, das sie gut konnten - und wir würden sie nie wiedersehen.
Das Wasser und die kühlere Nachtluft machten uns wach, was wir gar nicht wollten. Wir drehten uns um und vergruben unser Gesicht wieder im Sand. Wir waren so müde, jenseits aller Erschöpfung in einem versunkenen, schmerzhafteren Zustand.
Wir würden sicher schlafen können. Wir mussten nur aufhören zu denken. Das konnten wir schaffen.
Wir schafften es.
Als wir aufwachten, war es immer noch Nacht, aber die Morgendämmerung kündigte sich bereits am östlichen Horizont an – eine mattrote Linie hinter den Bergen. Unser Mund schmeckte nach Staub und zuerst waren wir überzeugt, dass wir Onkel Jebs Erscheinen nur geträumt hatten. Natürlich hatten wir das.
Heute Morgen hatten wir einen klareren Kopf und schnell bemerkten wir den ungewohnten Umriss direkt neben unserer Wange - etwas, das weder ein Stein noch ein Kaktus war. Wir berührten es und es fühlte sich hart und glatt an. Wir gaben ihm einen Schubs und das herrliche Geräusch plätschernden Wassers drang aus seinem Innern.
Onkel Jeb war real und er hatte uns eine Feldflasche dagelassen. Vorsichtig setzten wir uns auf, überrascht, dass wir nicht wie ein verdorrter Stock zerbrachen. Es ging uns sogar besser. Das Wasser musste genug Zeit gehabt haben, sich seinen Weg durch einen Teil unseres Körpers zu bahnen. Der Schmerz war schwächer geworden und jetzt verspürten wir wieder Hunger.
Mit steifen, ungeschickten Fingern drehten wir den Deckel von der Flasche. Sie war nicht ganz voll, aber es war genug Wasser darin, um unseren Magen erneut auszudehnen - er musste wieder geschrumpft sein. Wir tranken sie ganz aus; das Rationieren hatten wir hinter uns.
Wir ließen die Metallflasche in den Sand fallen, wo sie in der Stille der Dämmerung ein dumpfes Geräusch machte. Wir waren jetzt hellwach. Wir seufzten, da wir lieber bewusstlos gewesen wären, und ließen den Kopf in unsere Hände sinken. Was jetzt?
»Wieso hast du diesem Parasiten Wasser gegeben, Jeb?«, fragte eine wütende Stimme dicht hinter uns.
Wir wirbelten herum und landeten auf den Knien. Was wir sahen, ließ unseren Herzschlag aussetzen und unser Bewusstsein wieder auseinanderbrechen.
Acht Menschen standen im Halbkreis um den Baum herum, unter dem ich kniete. Es bestand kein Zweifel, dass sie alle Menschen waren. Ich hatte noch nie derartig entstellte Gesichter gesehen - nicht unter meinesgleichen. Diese hassverzerrten Lippen, die wie bei wilden Tieren zusammengebissene Zähne entblößten. Diese Brauen, zusammengezogen über Augen, die vor Wut glühten.
Es waren sechs Männer und zwei Frauen, einige von ihnen sehr groß, die meisten größer als ich. Das Blut wich aus meinem Gesicht, als ich bemerkte, warum sie ihre Hände so eigenartig hielten - vor ihrem Körper geballt, jede mit einem Gegenstand versehen. Sie trugen Waffen. Einige hatten Messer; ein paar kleine wie die, die ich in meiner Küche gehabt hatte, und einige länger, eins riesig und bedrohlich. Mit einem solchen Messer konnte man in der Küche nichts anfangen. Melanie verriet mir den Namen dafür. Eine Machete.
Andere hielten lange Stangen, einige aus Metall, einige aus Holz. Knüppel.
Zwischen ihnen erkannte ich Onkel Jeb. Er hielt etwas in der Hand, das ich selbst noch nie gesehen hatte, nur in Melanies Erinnerungen, wie das große Messer. Es war ein Gewehr.
Ich war fassungslos vor Entsetzen, aber Melanie betrachtete das alles mit Verwunderung und staunte über die große Zahl. Acht menschliche Überlebende. Sie hatte gedacht, Jeb wäre allein oder im besten Fall mit nur zwei anderen zusammen. So viele der Ihren am Leben zu sehen, erfüllte sie mit Freude.
Du bist verrückt, erklärte ich ihr. Schau sie dir an. Sieh hin.
Ich zwang sie, das Ganze aus meinem Blickwinkel zu sehen; die bedrohlichen Wesen in den schmutzigen Jeans und dünnen, staubigen Baumwollhemden zu erkennen. Früher einmal waren sie Menschen gewesen - so wie sie das Wort verstand -, aber jetzt und hier waren sie etwas anderes. Sie waren Barbaren, Monster. Sie bedrohten uns und dürsteten nach Blut.
Aus jedem Augenpaar leuchtete ein Todesurteil.
Melanie sah das alles und musste mir, wenn auch widerwillig, Recht geben. In diesem Augenblick zeigten sich ihre geliebten Menschen von ihrer schlechtesten Seite - wie in der Zeitung, die wir in der verlassenen Hütte gefunden hatten. Wir standen Mördern gegenüber.
Wir hätten klüger sein und schon gestern sterben sollen.
Warum hatte uns Onkel Jeb dafür am Leben gelassen?
Bei dem Gedanken durchfuhr mich ein Schaudern. Ich hatte die Geschichte der menschlichen Gräueltaten übersprungen, weil ich sie nur schlecht ertragen konnte. Vielleicht hätte ich mich besser zusammennehmen sollen. Ich wusste, dass es Gründe gab, warum Menschen ihre Feinde noch eine Weile am Leben ließen. Dinge, die sie sich von ihren Gehirnen oder Körpern noch versprachen …
Natürlich kam es mir unverzüglich in den Sinn - das Geheimnis, das sie mir entlocken wollten. Das eine, das ich ihnen niemals, unter keinen Umständen verraten durfte. Egal, was sie mit mir machten. Eher würde ich mich umbringen.
Ich ließ Melanie das Geheimnis nicht sehen. Ich richtete ihren eigenen Schutzmechanismus gegen sie und zog eine Mauer in meinem Kopf hoch, hinter der ich mich versteckte, während ich zum ersten Mal seit der Implantation über diese Information nachdachte. Es hatte bisher keinen Grund gegeben, sich damit zu beschäftigen.
Melanie auf der anderen Seite der Mauer verspürte allerdings praktisch keine Neugier; sie unternahm keinen Versuch, die Barriere zu durchbrechen. Es gab Dinge, die sie mehr interessierten als die Tatsache, dass sie nicht die Einzige war, die Informationen zurückgehalten hatte.
War es sinnvoll, dass ich ihr mein Geheimnis vorenthielt? Ich war nicht so stark wie Melanie; ich zweifelte nicht daran, dass sie Folter aushalten konnte. Aber wie viel Schmerz konnte ich ertragen, bevor ich ihnen alles verriet, was sie wissen wollten?
Mein Magen rebellierte. Selbstmord war eine abscheuliche Option - noch verschlimmert dadurch, dass es gleichzeitig Mord wäre. Melanie hätte sowohl an der Folter als auch an meinem Tod teil. Ich würde damit warten, bis ich absolut keine andere Wahl mehr hatte.
Nein, das können sie nicht machen. Onkel Jeb würde nicht zulassen, dass sie mir wehtun.
Onkel Jeb weiß nicht, dass du hier bist, erinnerte ich sie.
Sag’s ihm!
Ich richtete den Blick auf das Gesicht des alten Mannes. Sein Mund war von seinem dichten weißen Bart verdeckt, aber seine Augen schienen nicht so zornig zu glühen wie die der anderen. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie einige der Männer ihren Blick von mir zu ihm wandern ließen. Sie warteten darauf, dass er die Frage beantwortete, die mich auf ihre Anwesenheit aufmerksam gemacht hatte. Onkel Jeb starrte mich an, ohne sie zu beachten.
Ich kann es ihm nicht sagen, Melanie. Er wird mir nicht glauben. Und sie annehmen, dass ich sie anlüge, denken sie, ich bin eine Sucherin. Sie haben bestimmt genug Erfahrung, um zu wissen, dass nur ein Sucher mit einer Lüge hier draußen auftauchen würde, mit einer erfundenen Geschichte, um sie zu unterwandern …
Melanie begriff sofort, dass ich die Wahrheit sagte. Allein das Wort Sucher ließ sie hasserfüllt zurückschaudern und sie wusste, dass diese Fremden ebenso reagieren würden.
Es spielt sowieso keine Rolle. Ich bin eine Seele - das reicht.
Der Mensch mit der Machete - der größte von allen hier, ein schwarzhaariger Mann mit ungewöhnlich heller Haut und lebhaften blauen Augen - stieß ein unzufriedenes Geräusch aus und spuckte auf den Boden. Er machte einen Schritt nach vorn und hob langsam die Waffe.
Besser schnell als langsam. Besser, es war diese brutale Hand, die uns tötete, als meine eigene. Besser nicht als gewalttätiges Wesen sterben, das für Melanies vergossenes Blut ebenso verantwortlich war wie für meins.
»Bleib stehen, Kyle.« Jeb sprach langsam, fast beiläufig, aber der große Mann blieb stehen. Er verzog das Gesicht und drehte sich zu Melanies Onkel um.
»Warum? Du hast gesagt, du hättest nachgesehen. Es ist eins von denen.«
Ich erkannte die Stimme - der Mann war derselbe, der Jeb auch gefragt hatte, warum er mir Wasser gegeben hatte.
»Ja, stimmt, ist sie auch. Aber die Sache ist ein bisschen kompliziert.«
»Wieso?«, fragte ein anderer. Er stand neben dem großen, dunkelhaarigen Kyle und sie sahen sich so ähnlich, dass sie Brüder sein mussten.
»Wisst ihr, das hier ist meine Nichte.«
»Nein, ist sie nicht mehr«, sagte Kyle kategorisch. Er spuckte wieder aus und machte mit gezücktem Messer einen weiteren vorsichtigen Schritt auf mich zu. Seiner Haltung konnte ich ansehen, dass ihn Worte jetzt nicht mehr aufhalten würden. Ich schloss die Augen.
Zweimal kurz hintereinander war ein scharfes, metallisches Klicken zu hören, und dann keuchte jemand. Ich riss die Augen wieder auf.
»Ich hab gesagt, du sollst stehen bleiben, Kyle.« Onkel Jebs Stimme klang immer noch gelassen, aber er hatte das lange Gewehr jetzt angelegt und der Lauf war auf Kyles Rücken gerichtet. Kyle stand nur wenige Schritte von mir entfernt wie angewurzelt da; seine Machete schwebte bewegungslos über seiner Schulter.
»Jeb«, sagte der Bruder entsetzt. »Was tust du da?«
»Geh von dem Mädchen weg, Kyle.«
Kyle kehrte uns den Rücken zu, als er sich wütend zu Jeb umdrehte. »Das ist kein Mädchen, Jeb!«
Jeb zuckte mit den Schultern, und das Gewehr blieb weiterhin auf Kyle gerichtet. »Es gibt einiges zu besprechen.«
»Der Doktor kann es vielleicht nutzen, um etwas Neues herauszufinden«, schlug eine weibliche Stimme barsch vor.
Bei diesen Worten zuckte ich zusammen, denn sie bestätigten meine schlimmsten Ängste. Als Jeb mich als seine Nichte bezeichnet hatte, war törichterweise ein Hoffnungsschimmer in mir aufgeflammt - vielleicht würden sie doch Mitleid mit mir haben. Ich war dumm gewesen, das zu glauben, wenn auch nur eine Sekunde lang. Der Tod war das einzige Mitleid, das ich von diesen Wesen erwarten konnte.
Ich sah die Frau an und war überrascht, als ich feststellte, dass sie so alt war wie Jeb oder sogar noch älter. Ihre Haare waren eher dunkelgrau als weiß, weshalb ich vorher ihr wahres Alter nicht bemerkt hatte. Ihr Gesicht war von Falten bedeckt, die die Wut in tiefe Furchen verwandelt hatte. Aber die Züge hinter den Furchen hatten etwas Vertrautes.
Melanie zog die Verbindung zwischen diesem Gesicht und einem anderen, glatteren Gesicht aus ihrer Erinnerung.
»Tante Maggie? Du hier? Wie …? Ist Sharon …« Die Wörter kamen alle von Melanie, aber sie sprudelten aus meinem Mund und ich konnte sie nicht zurückhalten. Unsere lange Zweisamkeit in der Wüste hatte sie stärker gemacht - oder mich schwächer. Vielleicht lag es auch nur daran, dass ich mich darauf konzentrierte, von welcher Seite der tödliche Schlag kommen würde. Ich bereitete mich auf meine Ermordung vor und sie veranstaltete ein Familientreffen.
Melanie brachte ihren überraschten Ausruf nur zur Hälfte heraus. Die gealterte Frau namens Maggie stürzte in einem Tempo nach vorn, das ihr zerbrechliches Äußeres Lügen strafte. Die Hand mit dem schwarzen Brecheisen hielt sie weiterhin gesenkt. Das war die Hand, die ich im Auge behalten hatte, deshalb sah ich nicht, wie ihre leere Hand ausholte und mir fest ins Gesicht schlug.
Mein Kopf wurde in den Nacken geschleudert und dann wieder nach vorn. Sie schlug mich noch einmal.
»Du wirst uns nicht an der Nase herumführen, du Parasit! Wir wissen, wie ihr arbeitet. Wir wissen, wie gut ihr uns imitieren könnt!«
Ich schmeckte Blut in meinem Mund.
Mach so was nie wieder, fauchte ich Melanie an. Ich habe dir doch gesagt, was dann passiert.
Melanie war zu geschockt, um zu antworten.
»Na, na, Maggie«, begann Jeb in besänftigendem Tonfall.
»Komm mir nicht mit ›Na, na, Maggie‹, du alter Narr! Es hat wahrscheinlich einen ganzen Trupp von denen hergeführt.« Ich rührte mich nicht. Sie trat zurück, wobei sie mich taxierte, als sei ich eine zusammengerollte Schlange. Neben ihrem Bruder blieb sie stehen.
»Ich sehe niemanden«, erwiderte Jeb. »Hey!«, brüllte er und ich zuckte erschrocken zusammen. Ich war nicht die Einzige. Jeb wedelte mit den Armen über seinem Kopf herum, das Gewehr immer noch fest in der rechten Hand. »Hier sind wir!«
»Sei still«, knurrte Maggie und stieß ihn vor die Brust. Obwohl ich guten Grund zu der Annahme hatte, dass sie ziemlich stark war, bewegte sich Jeb keinen Millimeter.
»Sie ist allein, Mag. Sie war halbtot, als ich sie gefunden habe - und auch jetzt ist sie nicht gerade in der allerbesten Verfassung. Die Tausendfüßler opfern ihre Leute nicht auf diese Weise. Sie wären ihr viel früher zu Hilfe gekommen als ich. Was auch immer sie ist, sie ist allein.«
Ich sah das Bild des langen, vielfüßigen Insekts vor mir, ohne zu wissen, was damit gemeint war.
Er spricht von dir, übersetzte Melanie. Sie platzierte das Bild des hässlichen Tiers neben meine Erinnerung einer hellsilbrigen Seele. Ich konnte keine Ähnlichkeit feststellen.
Woher er wohl weiß, wie du aussiehst?, wunderte sich Melanie geistesabwesend. Meine Erinnerungen an die wahre Gestalt einer Seele waren anfangs neu für sie gewesen.
Ich hatte keine Zeit, mich mit ihr zu wundern. Jeb kam auf mich zu und die anderen folgten dichtauf. Kyles Hand schwebte über Jebs Schulter, bereit, ihn zurückzuhalten oder wegzuschubsen, da war ich mir nicht ganz sicher.
Jeb nahm sein Gewehr in die linke Hand und streckte seine rechte nach mir aus. Ich beäugte sie misstrauisch und wartete darauf, dass er mich schlagen würde.
»Los, komm«, sagte er sanft drängend. »Wenn ich dich so weit tragen könnte, hätte ich dich schon letzte Nacht mit nach Hause genommen. Du wirst wohl noch ein Stück laufen müssen.«
»Nein!«, grunzte Kyle.
»Ich nehme sie mit«, sagte Jeb und zum ersten Mal hatte seine Stimme einen schärferen Unterton. Der Kiefer unter seinem Bart schob sich störrisch vor.
»Jeb!«, protestierte Maggie.
»Das ist mein Haus, Mag. Ich mache, was ich will.«
»Alter Narr!«, fuhr sie ihn erneut an.
Jeb beugte sich vor und griff nach meiner Hand, die neben meiner Hüfte zur Faust geballt war. Er riss mich hoch auf die Beine - nicht aus Grausamkeit, sondern eher, als hätte er es eilig. Aber war es nicht viel grausamer, mein Leben zu verlängern, was auch immer seine Gründe sein mochten?
Ich schwankte. Ich spürte meine Beine kaum - nur ein Prickeln wie Nadelstiche, als das Blut wieder hindurchzufließen begann.
Hinter ihm war ein missbilligendes Zischen zu hören. Es kam aus mehr als einem Mund.
»Okay, wer immer du bist«, sagte er zu mir, immer noch freundlich. »Lass uns zusehen, dass wir hier wegkommen, bevor es sich weiter aufheizt.«
Der, der Kyles Bruder sein musste, legte Jeb die Hand auf den Arm.
»Du kannst diesem Wesen doch nicht einfach zeigen, wo wir leben, Jeb.«
»Ich schätze mal, das spielt keine Rolle«, sagte Maggie scharf. »Es wird keine Gelegenheit haben, uns zu verraten.«
Jeb seufzte und knotete sein Halstuch auf, das von seinem Bart bedeckt gewesen war.
»Das ist doch verrückt«, murmelte er, aber er rollte das verdreckte Stück Stoff, das ganz steif war von getrocknetem Schweiß, zu einer Augenbinde zusammen.
Ich stand vollkommen still, während er mir die Augen verband, und versuchte die Panik zu unterdrücken, die jetzt, wo ich meine Feinde nicht mehr sehen konnte, nur noch schlimmer wurde.
Obwohl ich nichts sah, wusste ich, dass es Jeb war, der mir eine Hand auf den Rücken legte und mich führte; niemand sonst wäre so sanft mit mir umgesprungen.
Wir gingen los, Richtung Norden, nahm ich an. Zunächst sprach niemand - man hörte nur das Geräusch von knirschendem Sand unter vielen Füßen. Der Boden war eben, aber mit meinen tauben Beinen stolperte ich immer wieder. Jeb war geduldig; seine Art, mich zu führen, war geradezu galant.
Ich spürte, wie die Sonne höher stieg, während wir gingen. Manche Schritte kamen schneller voran als andere. Sie entfernten sich von uns, bis sie kaum noch zu hören waren. Es klang so, als sei es nur eine Minderheit, die bei Jeb und mir blieb. Ich sah offenbar nicht so aus, als hätte ich allzu viele Wächter nötig - ich war vollkommen ausgehungert und schwankte bei jedem Schritt; mein Kopf fühlte sich benommen und leer an.
»Du hast doch nicht etwa vor, es ihm zu sagen, oder?«
Das war Maggies Stimme; sie ging ein paar Schritte hinter mir und was sie sagte, klang anklagend.
»Er hat ein Recht darauf, es zu erfahren«, erwiderte Jeb. Der störrische Unterton war in seine Stimme zurückgekehrt.
»Das ist herzlos, was du da tust, Jebediah.«
»Das Leben ist herzlos, Magnolia.«
Es war schwer zu sagen, wer von den beiden furchteinflößender war. Jeb, der so scharf darauf schien, mich am Leben zu lassen? Oder Maggie, die als Erste den Doktor ins Spiel gebracht hatte - eine Bezeichnung, die mich mit instinktiver, Übelkeit erregender Angst erfüllte -, sich aber offenbar mehr Gedanken über Grausamkeit machte als ihr Bruder?
Wir gingen noch ein paar Stunden lang schweigend weiter. Als meine Beine einknickten, half mir Jeb, mich hinzusetzen, und hielt mir eine Wasserflasche an die Lippen, genau wie in der vergangenen Nacht.
»Sag Bescheid, wenn du so weit bist«, sagte Jeb; seine Stimme klang freundlich, aber ich wusste, dass das nur Fassade war.
Irgendjemand seufzte ungeduldig.
»Warum tust du das, Jeb?«, fragte ein Mann. Ich hatte die Stimme vorher schon gehört. Es war einer der beiden Brüder. »Für Doc? Das hättest du Kyle doch sagen können. Du hättest nicht gleich die Knarre auf ihn richten müssen.«
»Auf Kyle müsste man viel öfter eine Knarre richten«, murmelte Jeb.
»Bitte erzähl mir jetzt nicht, du hättest Mitleid«, fuhr der Mann fort. »Nach allem, was du mit angesehen hast …«
»Wenn ich nach allem, was ich mit angesehen habe, nicht gelernt hätte, was Mitgefühl bedeutet, wäre ich keinen Pfifferling wert. Aber nein, es geht hier nicht um Mitleid. Wenn ich genug Mitleid mit dieser armen Kreatur gehabt hätte, hatte ich sie sterben lassen.«
Ich fröstelte in der Gluthitze.
»Worum geht es dann?«, wollte Kyles Bruder wissen.
Lange sagte niemand etwas, dann berührte Jebs Hand die meine. Ich griff danach, da ich allein nicht auf die Füße kam. Seine andere Hand legte sich auf meinen Rücken und ich ging weiter.
»Vermutlich bin ich einfach bloß neugierig«, sagte Jeb leise.
Niemand antwortete.
Auf dem Weg machte ich mir die Fakten klar. Erstens war ich nicht die erste Seele, die sie gefangen genommen hatten. Darin hatten sie bereits Routine. Dieser »Doc« hatte bereits versucht, seine Antworten von anderen vor mir zu bekommen.
Zweitens war er ohne Erfolg geblieben. Wenn irgendeine Seele auf den Selbstmord verzichtet hätte, um dann unter der menschlichen Folter zusammenzubrechen, würden sie mich jetzt nicht mehr brauchen. Sie wären gnädig gewesen und hätten mich schnell sterben lassen.
Seltsamerweise konnte ich mich trotzdem nicht dazu durchringen, auf ein schnelles Ende zu hoffen oder es herbeizuführen. Dabei wäre das ganz einfach, ich müsste es nicht einmal selbst tun. Ich müsste sie bloß anlügen - vorgeben, eine Sucherin zu sein, ihnen sagen, dass meine Kollegen mir längst auf der Spur wären, toben und drohen. Oder ihnen die Wahrheit sagen - dass Melanie in mir weiterlebte und mich hierhergebracht hatte.
Dahinter würden sie ebenfalls eine Lüge vermuten, und zwar eine so überaus unwiderstehliche - die Vorstellung, dass ein Mensch nach der Implantation weiterleben konnte, war aus ihrer Perspektive unglaublich tröstlich und daher so heimtückisch -, dass sie erst recht glauben würden, ich wäre eine Sucherin. Sie würden eine Falle wittern, mich schnell aus dem Weg räumen und sich ein neues Versteck weit weg von hier suchen.
Wahrscheinlich hast du Recht, pflichtete Melanie mir bei. Zumindest würde ich es so machen.
Aber noch verspürte ich keine Schmerzen und daher fiel es mir schwer, mich zum Selbstmord durchzuringen, in welcher Form auch immer; mein Überlebenstrieb versiegelte meine Lippen. Die Erinnerung an die letzte Sitzung bei meiner Helferin - in einer so zivilisierten Welt, dass sie auf einen anderen Planeten zu gehören schien - blitzte in meinem Kopf auf. Melanie, die mich aufforderte, sie sterben zu lassen, ein scheinbarer Selbstmordimpuls, aber das war nur Bluff gewesen. Ich erinnerte mich noch daran, dass ich gedacht hatte, wie schwierig es war, sich den Tod vorzustellen, wenn man in einem bequemen Sessel saß.
Gestern Nacht hatten Melanie und ich uns den Tod herbeigewünscht, aber da war der Tod nur Zentimeter entfernt gewesen. Jetzt, wo ich wieder auf den Beinen war, war das etwas ganz anderes.
Ich will auch nicht sterben, flüsterte Melanie. Aber vielleicht irrst du dich. Vielleicht ist das nicht der Grund, weshalb sie uns am Leben lassen. Ich kann nicht verstehen, warum sie .... Sie wollte sich die Dinge, die sie uns antun konnten, nicht vorstellen, aber ich war mir sicher, dass ihr noch Schlimmeres einfallen würde als mir. Welche Antwort könnten sie so unbedingt von dir wollen?
Das werde ich nie verraten. Dir nicht und auch sonst keinem Menschen.
Eine mutige Aussage. Aber, wie gesagt, bisher verspürte ich keine Schmerzen …
Eine weitere Stunde war vergangen - die Sonne stand jetzt direkt über uns und brannte wie eine Feuerkrone auf meinem Haar -, als sich das Geräusch veränderte. Die knirschenden Schritte vor mir, die ich kaum noch wahrnahm, begannen zu hallen. Jebs Füße gingen wie meine immer noch über Sand, aber irgendjemand vor uns hatte einen anderen Untergrund betreten.
»Vorsichtig jetzt«, warnte Jeb mich. »Pass auf deinen Kopf auf.«
Ich zögerte, unsicher, worauf genau ich aufpassen sollte oder wie, ohne etwas sehen zu können. Seine Hand verschwand von meinem Rücken und drückte meinen Kopf nach unten, damit ich mich bückte. Mein Nacken war ganz steif.
Er führte mich weiter vorwärts und ich hörte, wie auch unsere Schritte jetzt ein hallendes Geräusch machten. Der Boden gab nicht nach wie der Sand und fühlte sich nicht lose an wie Steine. Er war eben und fest unter meinen Füßen.
Die Sonne war verschwunden - ich spürte nicht mehr, wie sie meine Haut verbrannte oder mein Haar versengte.
Ich ging noch einen Schritt weiter und die Luft auf meinem Gesicht fühlte sich plötzlich anders an. Was ich spürte, war keine Brise. Die Luft stand still - ich bewegte mich hinein. Der trockene Wüstenwind verschwand. Diese Luft hier war unbeweglich und kühler. Sie enthielt eine winzige Spur Feuchtigkeit, eine leichte Modrigkeit, die ich sowohl riechen als auch schmecken konnte.
Ich hatte so viele Fragen im Kopf und Melanie ebenfalls. Sie hätte ihre gerne gestellt, aber ich blieb stumm. Es gab nichts zu sagen, was uns jetzt weiterhelfen würde.
»Alles klar, du kannst dich wieder aufrichten«, sagte Jeb. Langsam hob ich den Kopf.
Sogar mit Augenbinde konnte ich erkennen, dass es kein Licht gab. An den Rändern des Halstuchs war es pechschwarz. Ich hörte die anderen hinter uns ungeduldig mit den Füßen scharren, während sie darauf warteten, dass wir weitergingen.
»Hier lang«, sagte Jeb und führte mich weiter. Unsere Schritte hallten von nahen Wänden wider - der Ort, an dem wir uns befanden, musste relativ beengt sein. Ich merkte, wie ich instinktiv den Kopf einzog.
Wir gingen noch ein paar Schritte weiter und bogen dann um eine scharfe Kurve, die uns in dieselbe Richtung zurückzuführen schien, aus der wir kamen. Der Weg begann bergab zu führen. Mit jedem Schritt wurde er steiler und Jeb reichte mir seine raue Hand, damit ich nicht hinfiel. Ich wusste nicht, wie lange ich durch die Dunkelheit schlitterte und rutschte. Vermutlich kam es mir länger vor, als es wirklich dauerte, weil jede Minute so schrecklich war.
Wir bogen erneut ab und dann stieg der Weg wieder an. Meine Beine waren so taub und hölzern, dass mich Jeb halb ziehen musste, als die Steigung stärker wurde. Je weiter wir kamen, desto modriger und feuchter wurde die Luft, aber die Schwärze veränderte sich nicht. Die einzigen Geräusche waren unsere Schritte und ihr nahes Echo.
Der Pfad wurde wieder eben und begann sich wie eine Schlange hin und her zu winden.
Endlich, endlich war ein wenig Helligkeit an den Rändern meiner Augenbinde zu sehen. Ich hoffte, sie würde verrutschen, war aber zu ängstlich, um sie selbst abzunehmen. Ich hatte das Gefühl, ich würde weniger Angst haben, wenn ich bloß sehen könnte, wo ich war und wer mich begleitete.
Mit dem Licht drangen auch Geräusche zu mir. Eigenartige Geräusche, ein leises, plätscherndes Gemurmel. Es hörte sich fast an wie ein Wasserfall.
Das Gemurmel wurde lauter, als wir weitergingen, und je näher es kam, desto weniger klang es nach Wasser. Es war zu veränderlich, bestand aus tiefen und hohen Tönen, die sich vermischten und widerhallten.
Wenn es nicht so unharmonisch gewesen wäre, hätte es wie eine hässlichere Version der Musik geklungen, die ich in der Singenden Welt ständig gehört und gesungen hatte. Die Dunkelheit hinter der Augenbinde passte zu dieser Erinnerung, der Erinnerung an Blindheit.
Melanie konnte den Missklang früher deuten als ich. Ich hatte das Geräusch noch nie gehört, da ich nie zuvor mit Menschen zusammen gewesen war.
Ein Streit, sagte sie. Es hört sich so an, als würden unheimlich viele Leute miteinander streiten.
Sie wurde von dem Geräusch angezogen. Waren hier etwa noch mehr Menschen? Schon die Acht hatten uns beide überrascht. Wo waren wir hier?
Hände berührten meinen Nacken und ich zuckte vor ihnen zurück.
»Ganz ruhig jetzt«, sagte Jeb. Er nahm mir die Augenbinde ab.
Ich blinzelte langsam und die dunklen Umrisse um mich herum wurden zu Formen, die ich einordnen konnte: raue, unebene Wände, eine buckelige Decke, ein ausgetretener, staubiger Fußboden. Wir waren irgendwo unter der Erde, dies war eine natürlich entstandene Höhle. Wir konnten nicht allzu tief sein. Ich hatte das Gefühl, dass wir länger bergauf gestiegen als bergab gerutscht waren.
Die Felswände und die Decke waren von einem dunklen, rötlichen Braun und von Löchern übersät wie Schweizer Käse. Die Ränder der unteren Löcher waren abgeschliffen, aber die Kreise über meinem Kopf waren deutlicher begrenzt und schienen scharfe Kanten zu haben.
Das Licht drang durch ein rundes Loch vor uns. Es war ähnlich geformt wie die übrigen Löcher in der Höhle, aber größer. Wir standen an einem Durchgang, an der Schwelle zu einem helleren Raum. Melanie war aufgeregt, fasziniert von der Vorstellung, es könne hier noch mehr Menschen geben. Ich zögerte und fragte mich plötzlich, ob ich die Blindheit dem Sehen vielleicht doch vorziehen würde.
Jeb seufzte. »Entschuldigung«, murmelte er so leise, dass es außer mir niemand hören konnte.
Ich versuchte vergeblich zu schlucken. Mein Kopf begann sich zu drehen, aber das konnte auch am Hunger liegen. Meine Hände zitterten wie Blätter im Wind, als Jeb mich durch die Öffnung schob.
Der Tunnel führte in einen Raum, der so groß war, dass ich zunächst gar nicht begriff, was meine Augen sahen. Die Decke war zu hell und zu hoch über mir - fast wie ein künstlicher Himmel. Ich versuchte zu erkennen, was sie so hell machte, aber die grellen Lichtstrahlen brannten mir in den Augen.
Ich hatte erwartet, dass das Gemurmel lauter werden würde, doch ganz plötzlich war es mucksmäuschenstill in der riesigen Höhle.
Verglichen mit der hellen Decke hoch oben war es hier am Boden düster. Meine Augen brauchten einen Moment, bis sie ausmachen konnten, was all die Umrisse darstellten.
Eine Menge. Es gab kein anderes Wort dafür - eine Menschenmenge stand stumm und wie erstarrt da. Und sie alle durchbohrten mich mit denselben hasserfüllten Blicken, die mir bereits in der Morgendämmerung begegnet waren.
Melanie war so überwältigt, dass sie nichts weiter tun konnte als zählen. Zehn, fünfzehn, zwanzig … fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig …
Mir war egal, wie viele es waren. Ich versuchte ihr zu erklären, wie egal es war. Es brauchte nicht zwanzig von ihnen, um mich zu töten. Uns zu töten. Ich versuchte ihr klarzumachen, wie heikel unsere Situation war, aber meine Warnungen drangen in diesem Moment nicht zu ihr durch. Sie war in eine menschliche Welt eingetaucht, die sie sich nie hätte träumen lassen.
Ein Mann trat aus der Menge hervor und ich warf zunächst einen Blick auf seine Hände, um zu sehen, was für eine Waffe er trug. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, aber leer. Mein Blick blieb an der sonnengebräunten Färbung seiner Haut hängen und erkannte sie dann wieder.
Die Hoffnung, die plötzlich in mir aufwallte, ließ mich schwindeln und raubte mir den Atem. Ich hob den Blick und sah dem Mann ins Gesicht.