Abgekürzt
»Mel?«, fragte er noch einmal, wobei die Hoffnung, die er gar nicht haben wollte, seine Stimme färbte.
Ich schluchzte erneut auf, ein Nachbeben.
»Du weißt, dass ich dich damit gemeint hab, Mel. Du weißt das doch. Nicht sie … es. Du weißt, dass ich es nicht geküsst habe.«
Mein nächster Schluchzer war lauter, ein Aufheulen. Warum konnte ich nicht still sein? Ich versuchte den Atem anzuhalten.
»Wenn du da drin bist, Mel …«Er schwieg.
Das »wenn« gefiel Melanie überhaupt nicht. Ein Schluchzen brach aus meiner Lunge und ich schnappte nach Luft.
»Ich liebe dich«, sagte Jared. »Auch wenn du nicht da bist, wenn du mich nicht hören kannst. Ich liebe dich.«
Ich hielt wieder den Atem an und biss mir auf die Lippe, bis sie blutete. Der körperliche Schmerz lenkte mich nicht so stark ab, wie ich gehofft hatte.
Draußen vor dem Loch war es still und drinnen auch, während ich blau anlief. Ich lauschte angestrengt, konzentrierte mich allein auf das, was ich hörte. Ich dachte nicht nach. Kein Laut war zu vernehmen.
Ich lag in einer völlig verdrehten Stellung da. Mein Kopf war der niedrigste Punkt meines Körpers, meine rechte Gesichtshälfte wurde gegen den rauen Felsboden gepresst. Meine Schultern hingen schräg über einer zerquetschten Kiste, die rechte höher als die linke. Meine Hüften waren in die entgegengesetzte Richtung geneigt und meine linke Wade stieß gegen die Decke. Meine Beine und Füße waren eingeschlafen und kribbelten wie von tausend Nadelstichen. Ich fühlte, wie sich überall Blutergüsse bildeten, die ich beim Kampf mit den Kartons davongetragen hatte. Ich wusste, dass ich irgendeinen Weg finden musste, Ian und Jamie begreiflich zu machen, dass ich sie mir selbst beigebracht hatte, aber wie? Was sollte ich sagen? Wie sollte ich ihnen erklären, dass Jared mich versuchsweise geküsst hatte, wie man einer Laborratte einen Stromstoß versetzt, um zu sehen, wie sie reagiert?
Und wie lange sollte ich in dieser Position verharren? Ich wollte kein Geräusch machen, aber meine Wirbelsäule fühlte sich so an, als würde sie jeden Augenblick durchbrechen. Die Schmerzen wurden von Sekunde zu Sekunde unerträglicher. Ich würde nicht mehr lange in der Lage sein, sie lautlos zu ertragen. In meiner Kehle bildete sich bereits ein Wimmern.
Melanie hatte mir nichts zu sagen. Sie war schweigend mit ihrer eigenen Erleichterung und Wut beschäftigt. Jared hatte sie angesprochen, endlich ihre Existenz anerkannt. Er hatte ihr gesagt, dass er sie liebte. Aber er hatte mich geküsst. Sie versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass es keinen Grund gab, deswegen verletzt zu sein, versuchte, all die schlagkräftigen Argumente zu glauben, die dafür sprachen, dass es nicht so war, wie es schien. Sie versuchte es, aber es war ihr bisher nicht gelungen. Ich konnte all das hören, aber die Worte waren nicht an mich gerichtet. Sie redete nicht mit mir - wie bei einer kleinlichen Eifersüchtelei unter Teenagern. Sie zeigte mir die kalte Schulter.
Ich verspürte eine ungewohnte Wut auf sie. Nicht wie am Anfang, als ich Angst vor ihr hatte und wünschte, sie würde aus meinem Kopf verschwinden. Nein, ich fühlte mich jetzt selbst verraten. Wie konnte sie wegen dem, was passiert war, auf mich wütend sein? Wie passte das zusammen? Was konnte ich denn dafür, dass ich mich aufgrund der Erinnerungen, die sie mir aufzwang, verliebt hatte und dann von diesem unbändigen Körper überwältigt worden war? Es tat mir leid, dass sie litt, mein Schmerz bedeutete ihr dagegen nichts. Sie genoss ihn sogar. Bösartiger Mensch.
Tränen strömten mir lautlos über die Wangen, weniger heftig als zuvor. Ich brütete über ihrer feindseligen Haltung mir gegenüber.
Plötzlich waren die Schmerzen in meinem zerschundenen, verdrehten Rücken einfach zu viel - der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
»Ah«, ächzte ich und schob mich rückwärts, wobei ich mich an Felsen und Pappe abstieß.
Es war mir inzwischen egal, ob ich Krach machte oder nicht, ich wollte nur raus hier. Ich schwor mir, dass ich die Schwelle dieses verdammten Lochs nie wieder übertreten würde - lieber würde ich sterben. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Es war schwieriger, sich hinauszuwinden, als sich hereinzustürzen. Ich drehte und krümmte mich, bis ich das Gefühl hatte, alles nur noch schlimmer zu machen und mich zu verknoten wie eine Brezel. Ich begann wieder zu weinen wie ein Kind, voller Angst, dass ich aus diesem Loch nie wieder herauskommen würde.
Melanie seufzte. Hak dich mit den Füßen am Rand der Öffnung fest und zieh dich raus, schlug sie vor.
Ich hörte nicht auf sie und versuchte meinen Oberkörper um eine besonders spitze Ecke zu biegen, die ich mir prompt in die Rippen rammte.
Sei nicht so empfindlich, grummelte sie.
Das musst ausgerechnet du sagen.
Ich weiß. Sie zögerte, dann gab sie klein bei. Okay, tut mir leid. Du hast Recht. Aber weißt du, ich bin eben ein Mensch. Es ist manchmal nicht so leicht, fair zu bleiben. Wir fühlen und tun nicht immer das Richtige. Der Groll war immer noch da, aber sie versuchte mir zu vergeben und zu vergessen, dass ich gerade mit ihrer großen Liebe herumgeknutscht hatte - danach sah es in ihren Augen zumindest aus.
Ich hakte mich mit dem Fuß an der Kante ein und zog. Mein Knie traf auf dem Boden auf und ich nutzte die Stütze, um meine Rippen anzuheben. So war es einfacher, den anderen Fuß hinauszuschieben und wieder zu ziehen. Schließlich berührte ich mit den Händen den Boden; ich schob mich wie bei einer Steißgeburt durch die Öffnung und fiel auf die dunkelgrüne Matte. Dort blieb ich einen Moment lang mit dem Gesicht nach unten liegen und keuchte. Ich war mir ziemlich sicher, dass Jared längst weg war, aber ich sah nicht sofort nach. Ich atmete einfach bloß ein und aus, bis ich mich in der Lage fühlte, meinen Kopf zu heben.
Ich war allein. Ich versuchte, mich auf die Erleichterung darüber zu konzentrieren und mein Bedauern zu unterdrücken. Es war besser, allein zu sein. Weniger demütigend.
Ich rollte mich auf der Matte zusammen und drückte mein Gesicht in den muffigen Bezug. Ich war nicht müde, aber erschöpft. Das schreckliche Gewicht von Jareds Zurückweisung lastete schwer auf mir. Ich schloss die Augen und versuchte an Dinge zu denken, die mich nicht gleich wieder zum Weinen brachten. An irgendetwas anderes als Jareds angewiderten Gesichtsausdruck, als er vor mir zurückgewichen war …
Was Jamie wohl gerade machte? Wusste er, dass ich hier war, oder suchte er nach mir? Ian würde lange schlafen, er hatte so erschöpft ausgesehen. Würde Kyle bald aufwachen? Würde er nach mir suchen? Wo war Jeb? Ich hatte ihn heute noch gar nicht gesehen. War Doc wirklich dabei, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken? Das sah ihm so gar nicht ähnlich …
Von meinem knurrenden Magen geweckt, wurde ich langsam wach. Ich lag ein paar Minuten lang in der lautlosen Dunkelheit und versuchte mich zu orientieren. War es Tag oder Nacht? Wie lange hatte ich hier allein geschlafen?
Ich würde meinen Magen nicht viel länger ignorieren können und rollte mich auf die Knie. Ich musste eine ganze Weile geschlafen und eine oder zwei Mahlzeiten verpasst haben, wenn ich so hungrig war.
Ich erwog, etwas von dem Vorratsstapel in dem Loch zu essen - ich hatte schließlich bereits fast alles beschädigt, vielleicht sogar etwas ganz zerquetscht. Aber gerade deshalb fühlte ich mich bei dem Gedanken, etwas davon zu nehmen, noch schuldiger. Ich würde mir ein paar Brötchen aus der Küche holen.
Zusätzlich zu meinem tiefen Schmerz war ich ein bisschen verletzt, dass ich so lange hier unten gewesen war, ohne dass jemand nach mir gesehen hatte - wie eitel, warum sollte es irgendjemanden kümmern, was mit mir geschah? Daher war ich froh und erleichtert, als ich sah, dass Jamie mit dem Rücken zu der menschlichen Welt hinter ihm in der Türöffnung zum großen Garten saß und ganz offensichtlich auf mich wartete.
Meine Augen strahlten und seine ebenfalls. Er rappelte sich auf und Erleichterung machte sich auf seinem Gesicht breit.
»Ein Glück, es geht dir gut«, sagte er; ich wünschte, er hätte Recht. Er begann draufloszuquatschen. »Ich meine, ich habe nicht geglaubt, dass Jared lügt, aber er hat gesagt, du wolltest allein sein, und Jeb hat gesagt, ich dürfte nicht zu dir und ich müsste genau hier bleiben, wo er sehen könnte, dass ich mich nicht da reinschleiche. Aber obwohl ich nicht gedacht habe, du wärst verletzt oder so etwas, war ich mir doch nicht ganz sicher, weißt du?«
»Mir geht es gut«, sagte ich. Aber ich streckte die Arme nach ihm aus, auf der Suche nach Trost. Er umarmte mich und ich war geschockt, als ich feststellte, dass er im Stehen bereits seinen Kopf auf meine Schulter legen konnte.
»Du hast rote Augen«, flüsterte er. »War er gemein zu dir?«
»Nein.« Man war schließlich nicht absichtlich grausam zu Laborratten - man versuchte nur Informationen zu bekommen.
»Was auch immer du zu ihm gesagt hast, ich denke, er glaubt uns jetzt. Das mit Mel, meine ich. Wie geht es ihr?«
»Sie ist froh darüber.«
Er nickte erfreut. »Und du?«
Ich zögerte und suchte nach einer Antwort, die nicht direkt eine Lüge war. »Die Wahrheit zu sagen ist einfacher für mich, als zu versuchen, sie zu verbergen.«
Er schien mit meiner ausweichenden Antwort zufrieden zu sein.
»Ich habe Hunger«, sagte ich und befreite mich aus seiner Umarmung.
»Das hab ich mir gedacht. Ich habe dir was Feines aufbewahrt.«
Ich seufzte. »Brot ist schon in Ordnung.«
»Komm schon, Wanda. Ian sagt, du bist viel zu aufopferungsvoll.«
Ich schnitt eine Grimasse.
»Ich glaube, damit hat er Recht«, murmelte Jamie. »Sogar wenn dich alle hierhaben wollen, gehörst du erst dann wirklich hierher, wenn du das selbst beschließt.«
»Ich werde nie hierhergehören. Und niemand will mich wirklich hierhaben, Jamie.«
»Ich schon.«
Ich widersprach ihm nicht, aber was er sagte, war nicht die Wahrheit. Er log nicht direkt, denn er glaubte an das, was er sagte. Aber wen er wirklich hierhaben wollte, war Melanie. Er trennte uns nicht so, wie er es tun sollte.
Trudy und Heidi backten in der Küche Brötchen und teilten sich einen hellgrünen, saftigen Apfel. Sie wechselten sich mit dem Abbeißen ab. Jede biss immer zweimal.
»Schön, dich zu sehen, Wanda«, sagte Trudy, wobei sie ihren Mund mit der Hand abdeckte, weil sie immer noch an ihrem letzten Bissen kaute. Sie meinte es ernst. Heidi begrüßte mich mit einem Kopfnicken und versenkte dann ihre Zähne in dem Apfel. Jamie stieß mich gewollt unauffällig in die Seite, um mich darauf aufmerksam zu machen, dass mich die Leute mochten. Einfache Höflichkeit ließ er nicht gelten.
»Habt ihr das Abendessen für sie aufbewahrt?«, fragte er aufgeregt.
»Haben wir«, sagte Trudy. Sie bückte sich zum Ofen und kam mit einem Tablett in der Hand wieder zum Vorschein. »Ich habe es warm gehalten. Es ist inzwischen wahrscheinlich zäh und ungenießbar, aber immer noch besser als das, was es sonst so gibt.«
Auf dem Tablett lag ein ziemlich großes Stück rotes Fleisch. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich die Portion, die mir zugedacht war, ablehnte.
»Das ist zu viel.«
»Wir müssen alle verderblichen Lebensmittel in den ersten Tagen aufessen«, drängte Jamie mich. »Alle essen, bis ihnen schlecht ist. Das ist schon Tradition.«
»Du brauchst das Eiweiß«, fügte Trudy hinzu. »Wir haben schon viel zu lange nur die Höhlenration gegessen. Erstaunlich, dass das niemandem stärker zugesetzt hat.«
Ich aß mein Eiweiß, während Jamie mit Adleraugen beobachtete, wie Bissen für Bissen vom Tablett in meinen Mund wanderte. Ihm zuliebe aß ich alles auf, obwohl ich von dem vielen Essen Bauchschmerzen bekam.
Gegen Ende meiner Mahlzeit begann sich die Küche wieder zu füllen. Ein paar hielten Äpfel in der Hand - die sie alle mit jemand anderem teilten. Neugierige Augen musterten meine wunde Gesichtshälfte.
»Wieso kommen um diese Zeit alle hierher?«, flüsterte ich Jamie zu. Es war dunkel draußen, die Zeit fürs Abendessen vorbei.
Jamie sah mich einen Moment lang verständnislos an. »Um dir zuzuhören.« Sein Tonfall ergänzte das fehlende »Wozu denn sonst?«.
»Machst du Witze?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass sich nichts geändert hat.«
Ich blickte mich in dem schmalen Raum um. Es war nicht voll. Doc war heute nicht da und keiner der zurückgekehrten Beutejäger, einschließlich Paige. Kein Jeb, kein Ian, kein Walter. Ein paar andere fehlten ebenfalls: Travis, Carol, Ruth Ann. Aber es waren mehr da, als ich gedacht hätte - wenn ich überhaupt gedacht hätte, dass irgendjemand nach einem solch ungewöhnlichen Tag dem gewöhnlichen Ritual folgen würde.
»Können wir bei den Delfinen weitermachen, wo wir aufgehört haben?«, fragte Wes und unterbrach damit meine Bestandsaufnahme. Es war mir klar, dass er nur den Ball ins Rollen bringen wollte und nicht wirklich an den Verwandtschaftsverhältnissen auf einem fremden Planeten interessiert war.
Alle sahen mich erwartungsvoll an. Offensichtlich hatte sich das Leben nicht so sehr verändert, wie ich gedacht hatte.
Ich nahm Heidi ein Blech mit Brötchen aus der Hand und drehte mich um, um es in den Steinofen zu schieben. Während ich den anderen noch den Rücken zugekehrt hatte, begann ich zu sprechen.
»Also … äh … hmm … das … äh … dritte Großelternpaar … Sie dienen traditionellerweise der Gemeinschaft, so sehen sie es zumindest. Auf der Erde wären sie die Ernährer, diejenigen, die den Unterhalt nach Hause bringen. Die meisten von ihnen sind Bauern. Sie bauen ein pflanzenähnliches Gewächs an, dessen Saft sie melken …«
Und das Leben ging weiter.
Jamie versuchte mir auszureden, in dem Vorratsgang zu schlafen, aber es war ein halbherziger Versuch. Es gab keinen anderen Platz für mich. Störrisch wie immer bestand er darauf, meinen Schlafplatz mit mir zu teilen. Ich nahm an, dass Jared das nicht besonders gefiel, aber da ich ihn weder an diesem Abend noch am nächsten Tag zu Gesicht bekam, konnte ich meine Theorie nicht überprüfen.
Es war ein komisches Gefühl, meinen üblichen Aufgaben wieder nachzugehen, jetzt, wo die sechs Beutejäger zurückgekehrt waren - so wie am Anfang, als Jeb mich gezwungen hatte, mich in die Gemeinschaft einzugliedern. Feindliche Blicke, wütendes Schweigen. Für sie war es allerdings schwerer als für mich - ich war schließlich bereits daran gewöhnt. Für sie dagegen war es vollkommen neu, wie mich die anderen behandelten. Als ich zum Beispiel bei der Maisernte half und Lily sich lächelnd bei mir für einen neuen Korb bedankte, fielen Andy beinahe die Augen aus dem Kopf. Oder als ich mit Trudy und Heidi vor dem Bad wartete und Heidi mit meinem Haar zu spielen begann - es wuchs und hing mir dieser Tage ständig in die Augen, weshalb ich vorhatte, es wieder abzuschneiden. Heidi versuchte eine Frisur zu finden, die mir stand, und schob die Strähnen hin und her. Als Brandt und Aaron - Aaron war der älteste Mann, der mit auf Tour gewesen war, und ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn vorher schon gesehen zu haben - aus dem Bad kamen und sahen, wie Trudy über irgendeine alberne Scheußlichkeit lachte, die Heidi auf meinem Kopf zu kreieren versuchte, wurden beide ein bisschen grün im Gesicht und gingen schweigend an uns vorbei.
Aber natürlich waren Kleinigkeiten wie diese noch gar nichts. Kyle streunte jetzt durch die Höhlen und obwohl man ihm offensichtlich befohlen hatte, mich in Ruhe zu lassen, machte sein Gesichtsausdruck deutlich, dass ihm diese Anweisung zuwider war. Ich war immer mit anderen zusammen, wenn ich seinen Weg kreuzte, und ich fragte mich, ob das der einzige Grund dafür war, dass er nichts weiter tat, als mich anzufunkeln und unbewusst seine dicken Finger zu Fäusten zu ballen. Das ließ die ganze Panik meiner ersten Wochen hier wieder in mir aufsteigen, und ich war drauf und dran zu kapitulieren - mich wieder zu verstecken, die gemeinschaftlichen Treffpunkte zu meiden -, aber meine Aufmerksamkeit wurde in dieser zweiten Nacht von etwas Wichtigerem als Kyles mordlustigen Blicken in Anspruch genommen.
Die Küche füllte sich wieder - ich war nicht sicher, wie viel das mit meinen Geschichten zu tun hatte und wie viel mit den Schokoriegeln, die Jeb austeilte. Ich lehnte meinen ab und erklärte einem grummelnden Jamie, dass ich nicht gleichzeitig kauen und reden konnte; ich vermutete, dass er mir - dickköpfig wie immer - einen aufbewahren würde. Ian saß wieder auf seinem üblichen heißen Platz neben dem Feuer; Andy war auch da und saß mit wachsamem Blick neben Paige. Keiner der anderen Beutejäger, Jared natürlich eingeschlossen, war anwesend. Doc war ebenfalls nicht da und ich fragte mich, ob er immer noch betrunken war oder vielleicht einen Kater hatte. Auch Walter fehlte wieder.
Geoffrey, Trudys Mann, stellte mir an diesem Abend zum ersten Mal eine Frage. Auch wenn ich versuchte es nicht zu zeigen, freute ich mich, dass er offenbar jetzt zu den Menschen gehörte, die mich tolerierten. Aber ich konnte seine Frage nicht richtig beantworten, was sehr schade war. Seine Fragen waren wie die von Doc.
»Ich kenne mich mit dem Heilen eigentlich überhaupt nicht aus«, gab ich zu. »Ich war noch nie bei einem Heiler, seit … seit ich hier angekommen bin. Ich war nie krank. Alles, was ich weiß, ist, dass wir keinen Planeten auswählen würden, bevor wir nicht in der Lage wären, die Wirtskörper in perfektem Zustand zu erhalten. Es gibt nichts, was nicht geheilt werden kann - von einer einfachen Schnittwunde oder einem gebrochenen Knochen bis hin zu Krankheiten. Altersschwäche ist inzwischen die einzige Todesursache. Sogar völlig gesunde menschliche Körper haben nur eine begrenzte Lebensspanne. Und dann gibt es natürlich auch Unfälle, obwohl die unter den Seelen selten sind. Wir sind sehr vorsichtig.«
»Bewaffnete Menschen sind nicht einfach Unfälle«, murmelte jemand. Ich nahm heiße Brötchen vom Blech und sah weder, wer sprach, noch erkannte ich die Stimme.
»Ja, das stimmt«, pflichtete ich ruhig bei.
»Du weißt also nicht, womit sie Krankheiten heilen?«, fragte Geoffrey nach. »Woraus bestehen ihre Medikamente?«
Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich weiß es nicht. Das war nichts, wofür ich mich besonders interessiert habe, als ich noch Zugang zu diesen Informationen hatte. Ich fürchte, ich habe es für selbstverständlich gehalten. Gesundheit war auf allen Planeten, auf denen ich gelebt habe, einfach eine gegebene Tatsache.«
Geoffreys glühende Wangen wurden noch röter. Er blickte zu Boden, die Lippen wütend zusammengekniffen. Womit hatte ich ihn verärgert?
Heath, der neben Geoffrey saß, tätschelte seinen Arm. Es herrschte gespanntes Schweigen im Raum.
»Ähm … um noch mal auf die Geier zurückzukommen …«, sagte Ian gezwungen und wechselte damit bewusst das Thema. »Ich weiß nicht, ob ich da was verpasst habe, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass du irgendwann erklärt hättest, inwiefern sie ›gar nicht nett‹ sind …?«
Das hatte ich in der Tat noch nicht erklärt, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es ihn eigentlich nicht übermäßig interessierte - es war einfach die erste Frage, die ihm eingefallen war.
Mein informeller Unterricht endete früher als gewöhnlich. Die Nachfragen kamen schleppend und die meisten stellten Jamie und Ian. Geoffreys Fragen hatten alle anderen betrübt zurückgelassen.
»Na dann, morgen müssen wir alle früh raus aufs Maisfeld …«, sagte Jeb nach einem weiteren unangenehmen Schweigen und beendete damit die Zusammenkunft. Die Leute standen auf, streckten sich und unterhielten sich leise, aber sie wirkten angespannt.
»Was habe ich denn gesagt?«, flüsterte ich Ian zu.
»Nichts. Sie denken nur gerade viel über Vergänglichkeit nach.« Er seufzte.
Mein Menschenhirn machte einen jener Gedankensprünge, die sie Intuition nannten.
»Wo ist Walter?«, wollte ich, immer noch flüsternd wissen.
Ian seufzte erneut. »Er ist im Südflügel. Es geht ihm nicht gut.«
»Warum hat mir das keiner gesagt?«
»Die Dinge waren in letzter Zeit … nicht leicht für dich, daher …«
Ich schüttelte ungeduldig den Kopf. »Was fehlt ihm denn?«
Jamie stand inzwischen neben mir; er nahm meine Hand.
»Einige von Walters Knochen sind gebrochen, sie sind zu spröde«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Doc ist sich sicher, dass es Krebs ist - im Endstadium, meint er.«
»Walt muss schon eine ganze Weile verschwiegen haben, was für Schmerzen er hat«, fügte Ian düster hinzu.
Meine Kehle schnürte sich zusammen. »Und man kann nichts dagegen tun? Gar nichts?«
Ian schüttelte den Kopf und hielt seine leuchtenden Augen auf mich gerichtet. »Wir nicht. Selbst wenn wir nicht hier festsäßen, gäbe es jetzt keine Hilfe mehr für ihn. Es ist uns nie gelungen, ein Mittel dagegen zu finden.«
Ich biss mir auf die Lippen, um meinen Vorschlag für mich zu behalten. Natürlich konnte man nichts mehr für Walter tun. Jeder dieser Menschen würde lieber langsam und qualvoll sterben, als seinen Geist für die Heilung des Körpers einzutauschen. Ich konnte das verstehen … inzwischen.
»Er hat nach dir gefragt«, erklärte mir Jamie. »Na ja, er nennt manchmal deinen Namen, es ist schwer zu verstehen, was er damit meint - Doc sorgt dafür, dass er ständig betrunken ist, um seine Schmerzen zu lindern. Doc hat ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil er selbst so viel von dem Alkohol aufgebraucht hat. Schlechtes Timing, alles in allem.«
»Kann ich zu ihm?«, fragte ich. »Oder meinst du, die anderen hätten was dagegen?«
Ian runzelte die Stirn und schnaubte. »Das sähe einigen ähnlich, sich darüber aufzuregen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber wen kümmert das schon? Wenn es Walters letzter Wunsch ist…«
»Stimmt«, pflichtete ich ihm bei. Das Wort letzter trieb mir die Tränen in die Augen. »Wenn Walter mich sehen will, dann ist es wohl egal, was die anderen denken oder ob sie deswegen wütend werden …«
»Mach dir keine Sorgen - ich lasse nicht zu, dass irgendjemand dich belästigt.« Ians weiße Lippen bildeten eine schmale Linie.
Ich war nervös und hätte am liebsten auf die Uhr gesehen. Zeit hatte aufgehört, mir etwas zu bedeuten, aber jetzt plötzlich schien sie davonzurasen. »Ist es schon zu spät, um heute Abend noch zu ihm zu gehen? Stören wir ihn jetzt?«
»Er hat keinen regelmäßigen Tages- und Nachtrhythmus mehr - wir können ja mal nachsehen.«
Ich ging sofort los und zog Jamie hinter mir her, da er immer noch meine Hand festhielt. Das Gefühl von verstreichender Zeit, von Abschied und Vergänglichkeit, trieb mich an. Ian holte uns mit seinen großen Schritten jedoch schnell ein.
In der mondbeschienenen Gartenhöhle kamen wir an ein paar anderen vorbei, die uns nicht weiter beachteten. Ich war so oft in Begleitung Jamies und Ians unterwegs, dass das keine Neugier weckte, obwohl wir nicht in die üblichen Tunnel einbogen.
Die einzige Ausnahme war Kyle. Er erstarrte mitten in der Bewegung, als er seinen Bruder neben mir entdeckte. Sein Blick fiel auf Jamies Hand in meiner und er kniff finster die Lippen zusammen.
Ian straffte die Schultern, als er die Reaktion seines Bruders bemerkte - sein Gesichtsausdruck spiegelte Kyles wider -, und er griff ganz bewusst nach meiner anderen Hand. Kyle machte ein Geräusch, als müsste er sich übergeben, und wandte sich ab.
Als wir die Dunkelheit des langen Südtunnels erreicht hatten, versuchte ich die Hand wieder zu befreien. Ian hielt sie fest.
»Ich wünschte, du würdest ihn nicht noch wütender machen«, murmelte ich.
»Kyle ist im Unrecht. Das ist geradezu eine Gewohnheit von ihm. Er wird länger brauchen als alle anderen, bis er darüber hinweg ist, aber das bedeutet nicht, dass wir irgendwelche Zugeständnisse machen sollten.«
»Er macht mir Angst«, gab ich flüsternd zu. »Ich will ihm nicht noch mehr Gründe geben, mich zu hassen.«
Ian und Jamie drückten im selben Augenblick meine Hände. Sie sprachen gleichzeitig.
»Hab keine Angst«, sagte Jamie.
»Jeb hat seine Meinung sehr deutlich gemacht«, sagte Ian.
»Was soll das heißen?«, fragte ich Ian.
»Wenn Kyle Jebs Regeln nicht akzeptieren kann, ist er hier nicht länger willkommen.«
»Aber das ist nicht richtig. Kyle gehört hierher.«
Ian grunzte. »Er ist ja auch noch hier … also wird er einfach lernen müssen, damit klarzukommen.«
Wir sprachen den ganzen weiten Weg nicht mehr. Ich hatte Schuldgefühle - das schien ein dauerhafter Gefühlszustand hier zu sein. Schuld und Angst und ein gebrochenes Herz. Warum war ich hergekommen?
Weil du hierhergehörst, so seltsam sich das auch anhören mag, flüsterte Melanie. Sie war sich der Wärme von Ians und Jamies Händen, die sich mit meinen verschränkt hatten, deutlich bewusst. Wo sonst hast du so etwas jemals gehabt?
Nirgends, gestand ich und fühlte mich nur noch schlechter. Aber das bedeutet nicht, dass ich hierhergehöre. Nicht so wie du.
Uns gibt es nur im Doppelpack, Wanda.
Als ob du mich daran erinnern müsstest…
Ich war ein bisschen überrascht, sie so deutlich zu hören. Während der letzten zwei Tage war sie schweigsam gewesen und hatte nur ängstlich und hoffnungsvoll darauf gewartet, Jared wiederzusehen. Ich war natürlich mit ähnlichen Gedanken beschäftigt gewesen.
Vielleicht ist er bei Walter. Vielleicht war er da die ganze Zeit, dachte Melanie hoffnungsvoll.
Das ist nicht der Grund, weshalb wir Walter besuchen.
Nein. Natürlich nicht. Sie klang reumütig, aber ich merkte, dass ihr Walter nicht so viel bedeutete wie mir. Sie war natürlich traurig, dass er im Sterben lag, aber sie hatte das von Anfang an akzeptiert. Mir dagegen gelang es nicht, es zu akzeptieren, noch nicht einmal jetzt. Walter war mein Freund, nicht ihrer. Ich war diejenige, die er verteidigt hatte …
Eins der gedämpften blauen Lichter leuchtete uns entgegen, als wir uns dem Krankenflügel näherten. (Ich wusste inzwischen, dass die Laternen solarbetrieben waren und tagsüber zum Aufladen in eine sonnige Ecke gelegt wurden.) Wir bewegten uns alle leise - und wurden gleichzeitig langsamer, ohne uns abzusprechen.
Ich hasste diesen Raum. In der Dunkelheit, mit den eigenartigen Schatten, die das schwache Licht hervorzauberte, war er nur noch abschreckender. Es roch anders als sonst - der Raum stank nach langsamem Verfall, nach Alkohol und Galle.
Zwei der Feldbetten waren belegt. Docs Füße hingen über den Rand des einen; ich erkannte sein leichtes Schnarchen. Vom anderen beobachtete Walter, der entsetzlich verfallen und unförmig aussah, wie wir uns näherten.
»Bist du in der Lage, Besuch zu empfangen, Walt?«, flüsterte Ian, als Walters Augen sich ihm zuwandten.
»Uhm«, stöhnte Walter. Sein Mund hing in seinem schlaffen Gesicht halb offen und seine Haut glänzte feucht in dem schwachen Licht.
»Brauchst du irgendetwas?«, murmelte ich. Ich befreite meine Hände - sie flatterten hilflos zwischen mir und Walter in der Luft.
Seine hin- und herhuschenden Augen suchten die Dunkelheit ab. Ich machte einen Schritt auf ihn zu.
»Können wir etwas für dich tun? Irgendetwas?«
Seine Augen wanderten umher, bis sein Blick auf mein Gesicht fiel. Abrupt sah er mich durch seinen Vollrausch und die Schmerzen hindurch an. »Endlich«, stöhnte er. Sein Atem keuchte und pfiff. »Ich wusste, dass du kommen würdest, wenn ich nur lang genug warte. Oh, Gladys, ich hab dir so viel zu erzählen.«