Beschäftigt

»Das ist viel zu leicht. Es macht ja überhaupt keinen Spaß mehr«, beklagte sich Kyle.

»Du wolltest unbedingt mitkommen«, erinnerte ihn Ian.

Kyle und Ian saßen im fensterlosen Laderaum des Lieferwagens und sichteten die eingemachten Lebensmittel und Hygieneartikel, die ich gerade aus dem Laden geholt hatte. Es war helllichter Tag und die Sonne schien auf Wichita. Hier war es nicht so heiß wie in der Wüste von Arizona, aber feuchter. Die Luft war voll von Schwärmen kleiner fliegender Käfer.

Jared fuhr auf den Highway zu, der aus der Stadt führte, und gab sich Mühe, die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht zu überschreiten. Das machte ihn immer noch nervös.

»Bist du das Einkaufen schon leid, Wanda?«, fragte mich Ian.

»Nein. Es macht mir nichts aus.«

»Das sagst du immer. Gibt es denn gar nichts, das dir was ausmacht?«

»Es macht mir was aus … von Jamie getrennt zu sein. Und es macht mir ein bisschen was aus, draußen zu sein. Vor allem tagsüber. Es ist wie das Gegenteil von Klaustrophobie - alles ist so weit und offen. Stört euch das auch?«

»Manchmal. Wir sind tagsüber nicht viel draußen.«

»Sie kann sich wenigstens die Beine vertreten«, grummelte Kyle. »Ich weiß nicht, warum du ihre Klagen hören willst.«

»Weil sie so ungewöhnlich sind. Und damit eine angenehme Abwechslung zu deinen Klagen.«

Ich blendete sie aus. Wenn Ian und Kyle erst mal anfingen, ging das meistens eine ganze Weile so weiter. Ich sah auf die Karte.

»Als Nächstes nach Oklahoma City?«, fragte ich Jared.

»Mit Zwischenstopps in ein paar kleineren Städten auf dem Weg, wenn du noch kannst«, antwortete er, den Blick auf die Straße gerichtet.

»Ich kann noch.«

Jared verlor auf einer Beutetour selten das Ziel aus den Augen. Er entspannte sich nicht jedes Mal mit erleichtertem Herumblödeln, wenn ich wieder eine Mission erfolgreich beendet hatte, wie Ian und Kyle. Ich musste lächeln, wenn sie dieses Wort benutzten - »Mission«. Es klang so großartig. In Wirklichkeit war es nur ein Gang in den Supermarkt, genauso wie ich es Hunderte von Malen in San Diego gemacht hatte, als ich nur mich selbst ernährt hatte.

Kyle hatte Recht, es war zu leicht, um aufregend zu sein. Ich schob meinen Einkaufswagen durch die Gänge. Ich lächelte die Seelen an, die mich anlächelten, und füllte meinen Wagen mit Waren, die lange haltbar waren. Normalerweise griff ich auch nach ein paar verderblichen Sachen - für die Männer, die sich hinten im Lieferwagen versteckt hielten. Fertigsandwiches aus der Feinkostabteilung oder Ähnliches. Und dann vielleicht noch etwas Süßes. Ian stand auf Minz-Schoko-Eis. Kyle mochte am liebsten Karamellbonbons. Jared aß alles, was man ihm anbot; offenbar hatte er so etwas wie Lieblingsgerichte schon vor vielen Jahren aufgegeben, als er ein Leben führen musste, in dem Wünsche keinen Platz hatten und sogar Bedürfnisse sorgfältig abgewogen wurden, bevor man sie stillte. Ein weiterer Grund, weshalb er so gut geeignet war für dieses Leben - er konnte Prioritäten unabhängig von persönlichen Vorlieben setzen.

Gelegentlich fiel ich jemandem in den kleineren Städten auf, sprach mich jemand an. Ich hatte meinen Text so gut gelernt, dass ich inzwischen wahrscheinlich sogar einen Menschen hätte täuschen können.

»Hallo. Sind Sie neu hier in der Stadt?«

»Ja. Gerade erst angekommen.«

»Was führt Sie nach Byers?«

Ich achtete jedes Mal darauf, noch einen Blick auf die Karte zu werfen, bevor ich aus dem Lieferwagen stieg, damit mir der Name der Stadt vertraut war.

»Mein Lebensgefährte reist viel. Er ist Fotograf.«

»Das ist ja toll! Ein Künstler! Na, die Umgebung hier ist ja auch wirklich sehr schön …«

Ursprünglich war ich selbst die Künstlerin gewesen. Aber ich hatte festgestellt, dass ich in Gesprächen mit Männern Zeit sparte, wenn ich einfließen ließ, dass ich bereits liiert war.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Gern geschehen. Kommen Sie bald wieder.«

Ich musste nur einmal mit einem Apotheker sprechen, in Salt Lake City; anschließend wusste ich, wonach ich Ausschau halten musste.

Ein schüchternes Lächeln. »Ich bin nicht sicher, ob ich mich richtig ernähre. Ich kann mir einfach das Fast Food und den Süßkram nicht verkneifen. Dieser Körper ist so scharf auf Süßes …«

»Sie müssen vernünftig sein, Thousand Petals. Ich weiß, wie leicht man da schwach wird, aber Sie müssen auf Ihre Ernährung achten. In der Zwischenzeit sollten Sie ein Nahrungsergänzungsmittel schlucken.«

Gesundheit. Als ich den so offensichtlichen Namen auf der Flasche las, kam ich mir blöd vor, dass ich überhaupt gefragt hatte.

»Möchten Sie lieber Erdbeer- oder Schokoladengeschmack?«

»Könnte ich beide ausprobieren?«

Und die freundliche Seele namens Earthborn gab mir zwei große Flaschen.

Keine besonders große Herausforderung. Ich verspürte nur Angst oder eine Ahnung von Gefahr, wenn ich an die kleine Blausäurekapsel dachte, die ich immer in einer gut zugänglichen Tasche bei mir trug. Nur für den Fall.

»In der nächsten Stadt solltest du dir neue Klamotten besorgen«, sagte Jared.

»Schon wieder?«

»Die hier sehen ein bisschen zerknittert aus.«

»Okay«, stimmte ich zu. Ich hatte etwas gegen Verschwendung, aber der stetig wachsende Stapel schmutziger Wäsche würde nicht verkommen. Lily und Heidi und Paige hatten alle ungefähr meine Größe und würden dankbar sein für etwas Neues zum Anziehen. Die Männer hatten selten so etwas wie Klamotten mitgebracht, wenn sie auf Tour gegangen waren. Bei jedem Raubzug war es um Leben und Tod gegangen - Kleidung hatte da nicht an erster Stelle gestanden. Genauso wenig wie die milden Seifen und Shampoos, die ich aus jedem Laden mitnahm.

»Du müsstest dich wahrscheinlich auch mal wieder waschen«, sagte Jared mit einem Seufzen. »Ich würde sagen, heute Nacht brauchen wir ein Hotel.«

Früher hatten sie sich nicht darum kümmern müssen, wie sie herumliefen. Natürlich musste nur ich auch aus der Nähe so aussehen, als wäre ich Teil der Zivilisation. Die Männer trugen jetzt Jeans und dunkle T-Shirts, Sachen, auf denen man den Dreck nicht so sah und die keine Aufmerksamkeit erregten, wenn sie vielleicht mal jemand kurz zu Gesicht bekam.

Sie hassten es alle drei, in den Motels am Highway zu übernachten - sich direkt in der Höhle des Löwen schlafen zu legen. Es machte ihnen mehr Angst als alles andere. Ian sagte, er wurde lieber einen bewaffneten Sucher angreifen.

Kyle weigerte sich ganz einfach. Er schlief meistens tagsüber im Lieferwagen und hielt dann nachts Wache.

Für mich war es genauso leicht wie das Einkaufen. Ich meldete uns an der Rezeption an und unterhielt mich mit dem Hotelangestellten. Erzählte die Geschichte von meinem Lebensgefährten, dem Fotografen, und dem Freund, der mit uns unterwegs war (nur für den Fall, dass jemand uns alle drei ins Zimmer gehen sah). Ich benutzte verbreitete Namen von unspektakulären Planeten. Manchmal waren wir alle Fledermäuse: Word Keeper, Sings the Egg Song und Sky Roost. Manchmal waren wir Seething: Twisting Eyes, Sees to the Surface und Second Sunrise. Ich dachte mir jedes Mal neue Namen aus. Nicht, dass irgendjemand uns auf der Spur gewesen wäre. Aber dadurch fühlte sich Melanie sicherer. Bei alldem kam sie sich vor wie eine Figur aus einem Agentenfilm der Menschen.

Das Schwierigste, das, was mir wirklich etwas ausmachte, war, all diese Dinge zu nehmen, ohne irgendetwas zurückzugeben - nicht, dass ich das vor Kyle sagen würde, der immer bereit war, meine Absichten anzuzweifeln. Es hatte mich nie gestört, in San Diego einzukaufen. Ich hatte mir genommen, was ich brauchte, und sonst nichts. Dann verbrachte ich meine Tage an der Uni und gab der Gemeinschaft etwas zurück, indem ich andere an meinem Wissen teilhaben ließ. Keine anstrengende Berufung, aber eine, die ich ernst nahm. Ich übernahm auch meinen Anteil an den unangenehmeren Aufgaben. Ich leistete meinen Tag bei der Müllabfuhr und der Straßenreinigung ab. Das taten wir alle.

Und jetzt nahm ich so viel mehr und gab nichts zurück. Das kam mir selbstsüchtig und falsch vor.

Es ist nicht für dich. Es ist für andere, erinnerte mich Melanie, als ich darüber brütete.

Trotzdem fühlt es sich falsch an. Das kannst doch sogar du spüren, oder?

Denk einfach nicht darüber nach, war ihr Lösungsvorschlag.

Ich war froh, dass wir bereits auf dem Rückweg unserer langen Tour waren. Morgen würden wir bei unserem anwachsenden Zwischenlager vorbeifahren - einem Umzugswagen, der etwa eine Tagesreise von unserem Pfad entfernt versteckt war - und zum letzten Mal den Lieferwagen leeren. Nur noch ein paar Städte, ein paar Tage, durch Oklahoma Richtung Süden, dann New Mexico und schließlich, ohne anzuhalten, durch Arizona zurück.

Wieder nach Hause. Endlich.

Wenn wir statt in dem engen Lieferwagen in einem Motel schliefen, checkten wir in der Regel erst nach Einbruch der Dunkelheit ein und reisten bereits vor Sonnenaufgang wieder ab, um zu vermeiden, dass uns die Seelen allzu genau zu Gesicht bekamen. Auch wenn das nicht wirklich nötig gewesen wäre.

Jared und Ian fingen an, das einzusehen. Weil der Tag heute so erfolgreich gewesen war - der Lieferwagen war bis oben hin voll und Kyle würde kaum Platz haben - und weil Ian fand, dass ich müde aussah, hielten wir an diesem Abend schon früher. Die Sonne war noch nicht untergegangen, als ich mit der Plastikkarte, die als Zimmerschlüssel diente, zum Lieferwagen zurückkam.

In dem kleinen Motel war nicht viel los. Wir parkten dicht vor unserem Zimmer und Jared und Ian gingen nur fünf oder sechs Schritte vom Lieferwagen zur Tür, den Blick zu Boden gerichtet. Dünne, blassrosa Linien in ihren Nacken sorgten für Tarnung. Jared trug einen halbleeren Koffer. Niemand sah sie oder mich an.

Die Vorhänge im Zimmer waren zugezogen und die Männer entspannten sich ein bisschen.

Ian ließ sich auf das Bett fallen, in dem er und Jared schlafen würden, und schaltete den Fernseher ein. Jared stellte den Koffer auf den Tisch, nahm unser Abendessen heraus - kalt gewordene fettige, panierte Hähnchenstreifen, die ich in der Feinkostabteilung des letzten Supermarkts bestellt hatte und reichte es herum. Ich saß am Fenster und blickte durch eine Ecke auf die untergehende Sonne, während ich aß.

»Du musst zugeben, dass das menschliche Unterhaltungsprogramm besser war, Wanda«, zog mich Ian auf.

Auf der Mattscheibe rezitierten zwei Seelen ihren Text, ihre Körper in perfekter Pose. Es war nicht schwer zu verstehen, wovon die Geschichte handelte; die Drehbücher der Seelen boten nicht besonders viel Abwechslung. Hier ging es um zwei Seelen, die sich nach langer Trennung wiederbegegneten. Der Aufenthalt des Mannes beim Sehtang hatte sie auseinandergerissen, aber dann hatte er beschlossen, ein Mensch zu werden, da er annahm, dass seine Freundin vom Nebelplaneten sich von diesen warmblütigen Wirten angezogen fühlen wurde. Und, Wunder über Wunder, er hatte sie hier wiedergefunden …

Es gab immer ein Happy End.

»Denk dran, das ist ja auch für ein anderes Publikum gedacht.«

»Stimmt. Ich wünschte, sie würden die alten menschlichen Sendungen wieder zeigen.« Er zappte durch die Kanäle und runzelte die Stirn. »Früher gab es immer noch ein paar.«

»Sie waren zu verstörend. Sie mussten durch andere Sachen ersetzt werden, die nicht so … gewalttätig waren.«

»Die Bradys?«

Ich lachte. Ich hatte diese Serie in San Diego gesehen und Melanie kannte sie aus ihrer Kindheit. »Die Serie verharmloste Gewalt. Ich erinnere mich an eine Folge, in der das kleine männliche Menschenkind in einer Auseinandersetzung zurückschlägt und das so dargestellt wird, als würde es richtig handeln. Es floss sogar Blut…«

Ian schüttelte ungläubig den Kopf, schaltete dann aber wieder um zu der Sendung mit dem Sehtang. Er lachte an den falschen Stellen, denen, die eigentlich rührend sein sollten.

Ich sah aus dem Fenster und beobachtete etwas viel Interessanteres als die vorhersehbare Geschichte im Fernsehen.

Auf der anderen Seite der zweispurigen Straße vor dem Motel war ein kleiner Park, der auf der einen Seite von einer Schule begrenzt wurde und auf der anderen von einer Weide, auf der Kühe grasten. Es gab ein paar junge Bäume und einen altmodischen Spielplatz mit einem Sandkasten, einer Rutsche, einem Klettergerüst und einem dieser Karussells, die man von Hand anschubste. Natürlich gab es auch eine Schaukel und das war das einzige Spielgerät, das gerade benutzt wurde.

Eine kleine Familie genoss die kühlere Abendluft. Der Vater hatte schon ein paar silberne Strähnen an den Schläfen, während die Mutter so aussah, als sei sie deutlich jünger als er. Sie trug ihr rotbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, der bei jeder ihrer Bewegungen hin und her schwang. Die beiden hatten einen kleinen Sohn, nicht älter als ein Jahr. Der Vater schubste den Jungen auf der Schaukel von hinten an, während die Mutter vor ihm stand und sich vorbeugte, um ihn auf die Stirn zu küssen, wenn er nach vorn schwang, wovon er so lachen musste, dass sein pausbäckiges kleines Gesicht leuchtend rot war. Das brachte sie auch zum Lachen - ich konnte sehen, wie ihr Körper bebte und ihre Haare tanzten.

»Was gibt es da zu sehen, Wanda?«

Jareds Frage klang nicht ängstlich, denn ich lächelte angesichts der überraschenden Szene.

»Etwas, das ich in all meinen Leben noch nicht gesehen habe - Hoffnung.«

Jared stellte sich hinter mich und linste nach draußen. »Was meinst du damit?« Sein Blick schweifte über die Häuser und die Straße, blieb aber nicht an der spielenden Familie hängen.

Ich nahm sein Kinn in die Hand und drehte sein Gesicht in die richtige Richtung. Er zuckte nicht vor meiner unerwarteten Berührung zurück und das verursachte mir ein warmes Glücksgefühl im Bauch. »Schau, da«, sagte ich.

»Was soll da zu sehen sein?«

»Die einzige Hoffnung auf das Überleben einer Wirtsart, die mir je begegnet ist.«

»Wo?«, fragte er befremdet.

Mir war bewusst, dass Ian jetzt dicht hinter uns stand und uns schweigend zuhörte.

»Siehst du?« Ich zeigte auf die lachende Mutter. »Siehst du, wie sehr sie ihr Menschenkind liebt?«

In diesem Moment hob die Mutter ihren Sohn von der Schaukel, umarmte ihn und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Er gurrte und strampelte - einfach ein Baby. Nicht der Miniatur-Erwachsene, der er wäre, wenn er jemanden meiner Spezies beherbergte.

Jared schnappte nach Luft. »Das Baby ist ein Mensch? Wie? Warum? Wie lange?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe so etwas noch nie gesehen - ich weiß es nicht. Sie hat ihn nicht als Wirt zur Verfügung gestellt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sie … zwingen würde. Mutterschaft wird bei uns geradezu verehrt. Wenn sie nicht will …« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wie damit umgegangen wird. So etwas passiert sonst nirgendwo. Die Gefühle dieser Körper sind so viel stärker als jede Logik.«

Ich sah zu Jared und Ian auf. Sie starrten beide mit offenen Mündern die gemischte Familie im Park an.

»Nein«, murmelte ich vor mich hin. »Niemand würde die Eltern zwingen, wenn sie das Kind behalten wollen. Und seht sie euch doch bloß mal an.«

Der Vater hatte jetzt die Arme um die Mutter und das Kind geschlungen. Zärtlich sah er auf den biologischen Sohn seines Wirtskörpers hinab.

»Wenn wir uns selbst nicht einrechnen, ist das der erste Planet, den wir entdeckt haben, auf dem die Jungen lebendig geboren werden. Euer System ist sicher nicht das einfachste oder produktivste. Vielleicht hat es gerade damit was zu tun … oder mit der Hilflosigkeit eurer Jungen. Überall sonst erfolgt die Reproduktion über irgendeine Art Eier oder Samen. Viele Eltern bekommen ihre Jungen nie zu Gesicht. Ich frage mich …« Ich brach ab, meine Gedanken voller Spekulationen.

Die Mutter wandte ihrem Mann das Gesicht zu und er küsste sie auf die Lippen. Das Menschenkind krähte vor Vergnügen.

»Hmmm. Vielleicht wird meine Spezies eines Tages friedlich mit einem Teil der euren zusammenleben. Wäre das nicht … seltsam?«

Keiner der beiden Männer konnte den Blick von dem Wunder vor ihnen abwenden.

Die Familie ging. Der Vater nahm den Jungen, und die Mutter klopfte den Sand von ihrer Jeans. Dann schlenderten die Seelen händchenhaltend mit ihrem Menschenkind zurück in ihre Wohnung.

Ian schluckte laut.

Den Rest des Abends sprachen wir nicht - wir waren alle durch das, was wir gesehen hatten, nachdenklich geworden. Wir gingen früh schlafen, damit wir früh aufstehen und uns wieder an die Arbeit machen konnten.

Ich schlief allein, in dem Bett, das am weitesten von der Tür entfernt stand, und fühlte mich unwohl deswegen. Die beiden großen Männer passten nicht ohne Weiteres in das andere Bett. Ian neigte dazu, sich im Schlaf auszubreiten, und Jared hatte keine Hemmungen, ihn dann in die Seite zu boxen. Beide würden bequemer schlafen, wenn ich das Bett mit einem von ihnen teilte - ich rollte mich jetzt zum Schlafen immer ganz eng zusammen; vielleicht lag es an der offenen, ungeschützten Umgebung, in der ich mich den ganzen Tag über aufhalten musste, dass ich mich nachts in mich selbst zurückzog, oder vielleicht war ich auch einfach nur so daran gewöhnt, mich zum Schlafen in der winzigen Lücke auf dem Boden hinter dem Beifahrersitz zusammenzurollen, dass ich vergessen hatte, wie man ausgestreckt schlief.

Aber ich wusste, warum niemand mich darum bat, das Bett mit einem von beiden zu teilen. In der ersten Nacht, in der die Männer sich wenig erfreut darüber klargeworden waren, dass ich eine Hoteldusche brauchte, hatte ich über das Surren der Badezimmerlüftung hinweg gehört, wie sich Ian und Jared über mich unterhalten hatten.

»… nicht fair, sie wählen zu lassen«, sagte Ian. Er sprach leise, aber die Lüftung reichte nicht aus, um ihn zu übertönen. Das Hotelzimmer war sehr klein.

»Warum nicht? Ist es fairer, zu bestimmen, wo sie schlafen soll? Glaubst du nicht, es wäre höflicher …«

»Bei jemand anderem ja. Aber Wanda wird sich deswegen quälen. Sie wird so sehr versuchen, es uns beiden recht zu machen, dass sie selbst dabei unglücklich wird.«

»Schon wieder eifersüchtig?«

»Diesmal nicht. Ich weiß einfach, wie sie tickt.«

Es herrschte Schweigen. Ian hatte Recht. Er wusste wirklich, wie ich tickte. Er konnte sich wahrscheinlich denken, dass ich - sofern es auch nur die Spur einer Andeutung gab, dass Jared das wollte - entscheiden würde, neben Jared zu schlafen. Und dass ich dann wach liegen und mir Sorgen machen würde, dass meine Anwesenheit Jared unglücklich machte und ich außerdem Ians Gefühle verletzt hatte.

»Na gut«, sagte Jared barsch. »Aber wenn du heute Nacht versuchst, dich an mich ranzumachen … dann kann ich für nichts garantieren, O’Shea.«

Ian lachte. »Ohne übermäßig arrogant klingen zu wollen, aber um ehrlich zu sein, Jared, sollte ich schwul sein, könnte ich wohl etwas Besseres kriegen.«

Obwohl ich Schuldgefühle hatte, weil ich so viel Platz verschwendete, war es wahrscheinlich wirklich besser, dass ich allein schlief.

Wir mussten nicht noch einmal ins Hotel. Die Tage verstrichen immer schneller, als wollten sogar die Sekunden schnell nach Hause. Ich spürte, wie es meinen Körper auf seltsame Weise Richtung Westen zog. Wir sehnten uns alle danach, in unseren dunklen, überfüllten Hafen zurückzukehren.

Sogar Jared wurde unvorsichtig.

Es war spät, hinter den Bergen im Westen war nicht das kleinste bisschen Sonnenlicht mehr zu sehen. Hinter uns wechselten sich Ian und Kyle mit dem Fahren des großen Umzugswagens ab, der mit unserer Beute beladen war, so wie Jared und ich uns mit dem Lieferwagen abwechselten. Sie waren mit dem schweren Fahrzeug langsamer als Jared mit dem Lieferwagen. Die Scheinwerfer waren immer weiter zurückgeblieben, bis sie hinter einer langgestreckten Kurve ganz verschwunden waren.

Wir waren fast zu Hause; Tucson lag bereits hinter uns. In ein paar wenigen Stunden würde ich Jamie wiedersehen. Wir würden die sehnlichst erwarteten Vorräte abladen, umringt von lächelnden Gesichtern. Eine richtige Heimkehr.

Meine erste, stellte ich fest.

Ausnahmsweise würde die Rückkehr nichts als Freude bereiten. Diesmal hatten wir keine todgeweihten Geiseln dabei.

Ich dachte an nichts anderes als meine Vorfreude. Die Straße schien nicht allzu schnell vorbeizufliegen; was mich betraf, konnte sie das gar nicht schnell genug tun.

Die Scheinwerfer des Lastwagens hinter uns tauchten wieder auf.

»Anscheinend fährt Kyle jetzt wieder«, murmelte ich. »Sie holen auf.«

Und dann gingen in der dunklen Nacht hinter uns plötzlich die roten und blauen Lichter an. Sie wurden von allen Spiegeln reflektiert. Bunte Flecken tanzten über das Dach, die Sitze, unsere erstarrten Gesichter und das Armaturenbrett, wo der Zeiger des Tachos anzeigte, dass wir über dreißig Stundenkilometer schneller fuhren als erlaubt.

Das Aufheulen einer Sirene durchbrach die Stille der Wüste.