Ausgetrocknet

»Okay! Du hattest Recht, du hattest Recht!«, sagte ich laut - sehr laut. Es war niemand in der Nähe, der mich hätte hören können. Melanie erwiderte nicht Hab ich doch gleich gesagt, zumindest nicht so wortreich. Dafür war ihr Schweigen umso anklagender.

Es widerstrebte mir immer noch, aus dem Auto auszusteigen, obwohl ich jetzt nichts mehr damit anfangen konnte. Als der Tank leer gewesen war, hatte ich es ausrollen lassen, bis es in einem seichten Graben stecken geblieben war - einer schlammigen Mulde, die der letzte heftige Regen ausgewaschen hatte. Jetzt starrte ich durch die Windschutzscheibe in die weite, verlassene Wüste hinaus und spürte, wie sich mein Magen vor Hunger und Angst zusammenzog.

Wir müssen los, Wanderer. Es wird bloß immer noch heißer.

Wenn ich nicht mehr als ein Viertel der Tankfüllung darauf verschwendet hatte, stur bis zum Fuß der zweiten Wegmarkierung weiterzufahren - nur um festzustellen, dass die dritte Orientierungslinie von dort aus nicht mehr zu sehen war, was bedeutete, dass ich umkehren und wieder zurückfahren musste -, wären wir auf diesem sandigen Weg schon so viel weiter gekommen, unserem nächsten Ziel schon so viel näher. Meinetwegen mussten wir jetzt zu Fuß weiter.

Ich lud das Wasser mit langsamen Bewegungen Flasche für Flasche in den Rucksack und schob die übrigen Müsliriegel genauso langsam hinterher. Melanie drängte mich zur Eile. Ihre Ungeduld machte es mir schwer, nachzudenken, mich auf irgendetwas zu konzentrieren. Wie zum Beispiel darauf, was jetzt aus uns werden sollte.

Hopp, hopp, hopp, skandierte sie, bis ich steif und unbeholfen aus dem Auto geklettert war. Als ich mich aufrichtete, fuhr mir ein Schmerz in den Rücken. Er rührte von meiner verdrehten Schlafposition und nicht von dem Gewicht, das ich trug; der Rucksack war gar nicht so schwer, wenn ich ihn einmal auf den Schultern hatte.

Jetzt deck das Auto ab, wies sie mich an und zeigte mir ein Bild, wie ich stachelige Zweige von den Kreosotbüschen und dem Jerusalemdorn in der Nähe abriss und sie auf dem silbernen Autodach verteilte.

»Warum?«

Ihr Tonfall machte deutlich, für wie blöd sie mich hielt, wenn ich das nicht verstand. Damit uns niemand findet.

Und was, wenn ich gefunden werden will? Was, wenn hier draußen nichts weiter ist als Hitze und Staub? Wie sollen wir wieder nach Hause kommen?

Nach Hause?, fragte sie und bombardierte mich mit trostlosen Bildern: die leere Wohnung in San Diego, der abstoßende Gesichtsausdruck der Sucherin, der Punkt, der auf der Karte Tucson markierte … und ein kurzes, glücklicheres Schlaglicht auf den roten Canyon, das sich aus Versehen dazwischen stahl. Wo bitte soll das sein?

Ich ignorierte ihre Anweisung und kehrte dem Auto den Rücken zu. Ich steckte sowieso schon zu tief drin. Ich würde nicht jegliche Hoffnung aufgeben, zurückzukehren. Vielleicht würde irgendjemand das Auto finden und dann mich. Ich könnte jedem Retter problemlos und wahrheitsgemäß erklären, was ich hier tat: Ich hatte mich verirrt. Ich hatte die Orientierung verloren … die Kontrolle verloren … den Verstand verloren.

Zunächst folgte ich dem Wasserlauf und mein Körper fand zu seinem natürlichen, weit ausschreitenden Rhythmus. Es war nicht die Art, wie ich auf dem Bürgersteig zur Uni ging und zurück - es war überhaupt nicht mein Gang. Aber er passte zu diesem unebenen Gelände und brachte mich zügig voran. Ich war überrascht, wie schnell es ging, bis ich mich an das Tempo gewöhnt hatte.

»Was, wenn ich nicht hier entlanggekommen wäre?«, fragte ich, als ich immer weiter in die menschenleere Wüste vordrang. »Was, wenn Heiler Fords immer noch in Chicago wäre? Was, wenn uns mein Weg nicht in ihre Nähe geführt hätte?«

Es war diese Unmittelbarkeit - diese Verlockung, der Gedanke, dass Jared und Jamie vielleicht genau hier waren, irgendwo in dieser verlassenen Gegend -, die es so unmöglich gemacht hatte, diesem sinnlosen Plan zu widerstehen.

Ich weiß es nicht genau, gab Melanie zu. Ich glaube, ich hätte es trotzdem versucht, aber während die anderen in der Nähe waren, hatte ich Angst. Ich habe immer noch Angst. Dir zu vertrauen könnte sie umbringen.

Wir schauderten beide bei dem Gedanken.

Aber hier zu sein, so nah dran …da musste ich es einfach versuchen. Bitte - und plötzlich bettelte sie, flehte mich an, ohne eine Spur von Abneigung in ihren Gedanken -, bitte tu ihnen nicht weh. Bitte.

»Ich will ihnen nicht wehtun … Ich weiß gar nicht, ob ich ihnen wehtun kann. Lieber würde ich …«

Was denn? Selber sterben? Lieber, als den Suchern ein paar menschliche Herumtreiber auszuliefern?

Wir schauderten wieder bei dem Gedanken, aber mein Abscheu vor dieser Vorstellung tröstete sie. Mir dagegen machte es eher Angst.

Als der Wasserlauf zu weit nach Norden führte, schlug Melanie vor, den aschfarbenen Pfad zu verlassen und direkt auf den dritten Orientierungspunkt zuzugehen, die östliche Felsspitze, die wie ein Finger in den wolkenlosen Himmel zu zeigen schien.

Ich wollte diesen Wasserlauf nicht verlassen, genauso wenig wie ich das Auto hatte verlassen wollen. Ich könnte ihm zurück bis zur Straße folgen und dann der Straße bis zum Highway. Es waren etliche Kilometer und würde mehrere Tage dauern, aber wenn ich ihn erst hinter mir gelassen hatte, wäre ich endgültig vom Weg abgekommen.

Du musst daran glauben, Wanderer. Wir finden Onkel Jeb oder er findet uns.

Falls er noch lebt, fügte ich seufzend hinzu und bog von meinem Pfad ab ins Gestrüpp, das überall gleich aussah. Ich bin das Glauben nicht gewohnt. Ich weiß nicht, ob ich viel damit anfangen kann.

Und wie ist es mit Vertrauen?

Vertrauen - wem? Dir? Ich lachte. Die heiße Luft verbrannte mir beim Einatmen die Kehle.

Stell dir vor, wechselte sie das Thema, vielleicht treffen wir sie schon heute Abend.

Die Sehnsucht war die von uns beiden; das Bild ihrer Gesichter, ein Mann, ein Kind, entsprang den Erinnerungen von beiden. Als ich schneller ging, war ich mir nicht sicher, ob ich die Bewegung vollkommen unter Kontrolle hatte.

Es wurde heißer - und noch heißer und dann noch heißer. Der Schweiß pappte mir die Haare an den Kopf und mein hellgelbes T-Shirt klebte an allen Stellen meines Körpers fest, mit denen es in Berührung kam. Am Nachmittag kamen glühende Windböen auf, die mir Sand ins Gesicht bliesen. Die heiße Luft trocknete den Schweiß, überzog mein Haar mit einer Staubkruste und löste das T-Shirt von meiner Haut; es war steif vom Salz wie ein Stück Pappe. Ich ging weiter.

Ich trank öfter Wasser, als Melanie guthieß. Sie missgönnte mir jeden Schluck und warnte, dass wir es morgen viel nötiger haben würden. Aber ich hatte ihr heute schon so viel zugestanden, dass ich nicht in der Stimmung war, auf sie zu hören. Ich trank, wenn ich Durst hatte, was fast immer der Fall war.

Meine Beine trugen mich vorwärts, ohne dass ich einen Gedanken darauf verschwendete. Das rhythmische Knirschen meiner Schritte lieferte die leise und eintönige Hintergrundmusik.

Es gab nichts zu sehen; ein verkrüppelter Strauch sah genauso aus wie der nächste. Die ereignislose Gleichförmigkeit versetzte mich in eine Art Trance - ich nahm eigentlich nur die Silhouette der Berge vor dem blassen, ausgeblichenen Himmel wahr. Alle paar Schritte studierte ich ihre Umrisse, bis ich sie so gut kannte, dass ich sie mit verbundenen Augen hätte nachzeichnen können.

Die Landschaft schien wie erstarrt zu sein. Ich drehte ständig den Kopf hin und her auf der Suche nach der vierten Wegmarkierung, die Melanie mir erst heute Morgen gezeigt hatte - ein großer kuppelförmiger Gipfel, dem ein Stück fehlte, wie eine Aushöhlung in seiner Seite -, als ob die Perspektive sich seit meinem letzten Schritt so verändert haben könnte. Ich hoffte, dass dieser letzte Anhaltspunkt der entscheidende war, denn wir konnten von Glück sagen, überhaupt so weit gekommen zu sein. Aber ich hatte das Gefühl, dass Melanie noch etwas vor mir verbarg und das Ende unserer Reise unendlich weit entfernt war.

Den Nachmittag über vertilgte ich einen Müsliriegel nach dem anderen und merkte erst, als es zu spät war, dass ich gerade den letzten aufgegessen hatte.

Als die Sonne unterging, wurde es genauso schnell Nacht wie am Tag zuvor. Melanie war vorbereitet und hatte schon eine Stelle ausgesucht, wo wir bleiben konnten.

Hier, sagte sie. Leg dich so weit wie möglich von der Cholla weg. Du wälzt dich im Schlaf hin und her.

Im Dämmerlicht betrachtete ich den flauschig wirkenden Kaktus, der so dicht von elfenbeinfarbenen Stacheln bedeckt war, dass sie aussahen wie Fell, und schauderte. Ich soll einfach auf dem Boden schlafen? Hier?

Hast du eine bessere Idee? Sie spürte meine Angst und ihr Ton wurde sanfter, als hätte sie Mitleid mit mir. Na, komm - besser als das Auto. Zumindest ist es flach. Es ist so heiß, dass kein Ungeziefer von deiner Körperwärme angezogen wird, und …

»Ungeziefer?«, fragte ich laut. »Ungeziefer?«

Ganz kurz tauchten äußerst unangenehme Bilder von giftig aussehenden Insekten und zusammengerollten Schlangen in ihrer Erinnerung auf.

Keine Sorge, versuchte sie mich zu beruhigen, als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um mich vor allem in Sicherheit zu bringen, was sich vielleicht im Sand da unten versteckte, während meine Augen die Schwärze nach irgendeinem Ausweg absuchten. Dich wird nichts belästigen, was du nicht zuerst belästigst. Du bist schließlich das größte Lebewesen hier. Wieder blitzte eine Erinnerung auf, dies mal an einen mittelgroßen, hundeartigen Aasfresser, einen Kojoten.

»Na prima«, stöhnte ich und kauerte mich zusammen, um mich so klein wie möglich zu machen, obwohl ich immer noch Angst vor dem schwarzen Boden unter mir hatte. »Von wilden Hunden getötet. Wer hätte gedacht, dass es so … trivial enden würde? Wie unspektakulär. Die Klauenbestie auf dem Nebelplaneten, okay. Von der zerrissen zu werden, hätte wenigstens eine gewisse Würde gehabt.«

Melanie antwortete mir in einem Tonfall, der sich anhörte, als würde sie die Augen verdrehen. Stell dich nicht so an. Niemand wird dich fressen. Jetzt leg dich hin und ruh dich aus. Morgen wird es noch anstrengender als heute.

»Danke für die guten Nachrichten«, murrte ich. Sie entpuppte sich als ein richtiger Tyrann. Ich musste an das menschliche Sprichwort denken, Reich ihr den kleinen Finger und sie nimmt gleich die ganze Hand. Aber ich war erschöpfter, als ich gedacht hatte, und sobald ich mich widerwillig auf dem Boden niederließ, konnte ich nicht anders, als in den harten, steinigen Dreck zu sinken und die Augen zu schließen.

Es kam mir so vor, als seien nur Minuten vergangen, als der Morgen dämmerte - grell und bereits jetzt heiß genug, um mich zum Schwitzen zu bringen. Ich wachte dreckverkrustet und mit Steinchen übersät auf; mein rechter Arm war unter meinem Körper eingeklemmt und eingeschlafen. Ich schüttelte ihn, um das Kribbeln zu vertreiben, und griff dann nach dem Rucksack mit dem Wasser.

Melanie war dagegen, aber ich ignorierte sie. Ich suchte nach der halbleeren Flasche, aus der ich zuletzt getrunken hatte, und durchwühlte dabei die vollen und die leeren, bis mir etwas auffiel.

Ich wurde nervös, als ich zu zählen begann. Ich zählte zweimal. Es waren zwei leere Flaschen mehr als volle. Ich hatte schon über die Hälfte meines Wasservorrats aufgebraucht.

Ich hab dir doch gesagt, dass du zu viel trinkst.

Ich antwortete ihr nicht, aber ich setzte den Rucksack auf, ohne einen Schluck zu nehmen. Mein Mund fühlte sich furchtbar an - trocken und sandig - und schmeckte nach Galle. Ich versuchte es zu ignorieren - versuchte damit aufzuhören, mit meiner Schmirgelpapier-Zunge über meine sandigen Zähne zu fahren - und ging los.

Mein Magen war schwerer zu ignorieren als mein Mund, als die Sonne über mir höher stieg und immer heißer wurde. Er knurrte und zog sich regelmäßig zusammen in der Erwartung von Mahlzeiten, die nicht kamen. Am Nachmittag war das Hungergefühl nicht mehr nur unangenehm, sondern richtiggehend schmerzhaft.

Das ist noch gar nichts, erinnerte mich Melanie herablassend. Es ging uns schon schlechter.

Dir vielleicht, gab ich zurück. Ich war nicht in der Stimmung, mir ihre Durchhalte-Erinnerungen anzuhören.

Ich war kurz vorm Verzweifeln, da kam die Erlösung. Als ich mit einer routinierten, halbherzigen Kopfbewegung den Horizont absuchte, stach mir plötzlich die zwiebelförmige Kuppel inmitten einer im Norden gelegenen Reihe kleinerer Gipfel ins Auge. Das fehlende Stück war von hier aus gesehen nur eine kleine Einkerbung.

Ähnlich genug, beschloss Melanie, die darüber, dass wir auf dem richtigen Weg waren, genauso aufgeregt war wie ich. Voller Elan bog ich Richtung Norden ab und schritt weit aus. Halt die Augen auf nach der nächsten Wegmarkierung. Sie erinnerte sich für mich wieder an eine Formation und ich begann sofort, Ausschau zu halten, obwohl ich wusste, dass das so früh noch keinen Zweck hatte.

Sie würde im Osten liegen. Norden und dann Osten und dann wieder Norden. Das war das Muster.

Der Anreiz, einen weiteren Orientierungspunkt entdeckt zu haben, ließ mich weitergehen, obwohl meine Beine immer schwerer wurden. Melanie drängte mich vorwärts, feuerte mich an, wenn ich langsamer wurde, und dachte an Jared und Jamie, um meine Müdigkeit zu vertreiben. Ich kam in gleichmäßigem Tempo voran und wartete mit jedem Schluck, bis Melanie ihn genehmigte, obwohl sich mein Hals von innen wie verätzt anfühlte.

Ich musste zugeben, dass ich stolz auf mein Durchhaltevermögen war. Als die staubige Straße auftauchte, kam es mir fast wie eine Belohnung vor. Sie schlängelte sich nach Norden, in die Richtung, in die wir sowieso gingen, aber Melanie war skeptisch.

Mir gefällt das nicht, beharrte sie.

Die Straße war nichts weiter als eine blasse Linie durch das Gestrüpp, die sich nur durch ihre glattere Oberfläche und die fehlenden Pflanzen von ihrer Umgebung unterschied. Auf der Mitte der Fahrbahn zeichneten sich in parallelen Linien alte Reifenspuren ab.

Sobald sie nicht mehr in die richtige Richtung führt, biegen wir einfach wieder ab. Ich ging bereits zwischen den Reifenspuren entlang. Aber so kommen wir besser voran, als wenn wir uns einen Weg zwischen den Kreosotbüschen hindurch bahnen und ständig auf die Cholla achten müssen.

Sie antwortete nicht, aber ihre Unruhe ließ mich wachsamer werden, fast ein bisschen paranoid. Ich hielt weiter nach der nächsten Formation Ausschau - ein perfekt geformtes M, zwei gleich aussehende Vulkangipfel -, aber ich behielt auch die Wüste um mich herum aufmerksamer im Auge als bisher.

Deshalb bemerkte ich den weit entfernten grauen Fleck, lange bevor ich erkennen konnte, was es war. Ich fragte mich, ob mir meine Augen einen Streich spielten, und blinzelte den Staub weg, der meinen Blick verschleierte. Die Farbe schien nicht zu einem Felsen zu passen und die Form war zu massiv für einen Baum. Ich zwinkerte ins grelle Licht und versuchte zu erraten, um was es sich handeln könnte.

Dann blinzelte ich noch einmal und plötzlich wurde der Fleck zu einer konkreten Form, näher als ich gedacht hatte. Es war eine Art Haus oder Gebäude, klein und zu einem matten Grau verwittert.

Melanies Panikattacke ließ mich von der schmalen Straße springen und hinter den dürren Sträuchern in zweifelhafte Deckung gehen.

Lass uns weitergehen, erklärte ich. Es ist bestimmt verlassen.

Woher willst du das wissen? Sie drängte so stark zurück, dass ich mich richtig konzentrieren musste, um meine Füße vorwärtsbewegen zu können.

Wer sollte hier wohnen? Wir Seelen ziehen es vor, in Gesellschaft zu leben. Ich hörte meinen bitteren Unterton und wusste, er hatte damit zu tun, wo ich jetzt war - buchstäblich und auch im übertragenen Sinne mitten im Nichts. Warum gehörte ich nicht mehr zur Gemeinschaft der Seelen? Warum hatte ich das Gefühl, als … als wollte ich gar nicht mehr dazugehören? War ich wirklich je Teil der Gesellschaft gewesen, die eigentlich meine war, oder gab es einen Grund für meine lange Reihe von Leben, die ich als Durchgangsreisende verbracht hatte? War ich immer schon eine Abweichlerin gewesen oder hatte mich erst Melanie dazu gemacht? Hatte mich dieser Planet verändert oder nur mein wahres Ich zum Vorschein gebracht?

Melanie hatte kein Verständnis für meine persönliche Krise - sie wollte nur, dass ich mich so schnell wie möglich und so weit wie möglich von diesem Gebäude entfernte. Ihre Gedanken zogen und zerrten an meinen und rissen mich aus meinen Überlegungen.

Beruhig dich, befahl ich und versuchte mich zu konzentrieren und meine Gedanken von ihren zu trennen. Wenn dort wirklich irgendjemand lebt, muss es ein Mensch sein. Du kannst mir glauben, unter den Seelen gibt es keine Einsiedler. Vielleicht dein Onkel Jeb …

Sie wies den Gedanken energisch zurück. Kein Mensch könnte hier so ungeschützt überleben. Deine Leute haben bestimmt alle Behausungen sorgfältig durchsucht. Wer auch immer hier gelebt hat, ist entweder abgehauen oder einer von euch geworden. Onkel Jeb brauchte ein besseres Versteck.

Und wenn, wer immer hier gelebt hat, einer von uns geworden ist, hat er diesen Ort verlassen, versicherte ich ihr. Nur ein Mensch würde so leben ... Ich brach ab, plötzlich selbst ganz verängstigt.

Was ist los? Sie reagierte so heftig auf meine Angst, dass ich wie angewurzelt stehen blieb. Sie durchkämmte meine Gedanken auf der Suche nach etwas, das ich gesehen und das mich aufgeregt haben könnte.

Aber ich hatte nichts Neues entdeckt. Melanie, was, wenn es hier draußen Menschen gibt - und zwar nicht Onkel Jeb und Jared und Jamie? Was, wenn uns jemand anders findet?

Sie dachte über den Gedanken nach. Du hast Recht, sie würden uns sofort töten. Natürlich.

Ich versuchte zu schlucken, den Geschmack der Angst aus meinem trockenen Mund zu vertreiben.

Da ist schon niemand anders. Wie auch? Deine Leute sind viel zu gründlich, argumentierte sie. Nur jemand, der schon vorher versteckt gelebt hat, hätte eine Chance gehabt. Also lass uns nachgucken gehen - du bist dir sicher, dass hier keiner von deinen Leuten ist, und ich bin mir sicher, hier ist keiner von meinen. Vielleicht finden wir irgendwas Nützliches, irgendwas, das wir als Waffe verwenden können.

Ich schauderte bei ihren Gedanken an scharfe Messer und lange Metallwerkzeuge, die als Knüppel dienen konnten. Keine Waffen.

Oh, Mann. Wie ist es nur möglich, dass uns solche rückgratlosen Wesen besiegen konnten?

Durch Geheimhaltung und Überzahl. Jeder von euch, sogar eure Jungen, sind hundertmal gefährlicher als einer von uns. Aber ihr seid jeder nur eine Termite in einem Ameisenhaufen. Wir sind Millionen, die alle harmonisch Hand in Hand arbeiten, um unser Ziel zu erreichen.

Als ich diese Verbundenheit beschrieb, verspürte ich erneut lähmende Angst und Verwirrung. Wer war ich?

Wir blieben in der Nähe der Kreosotbüsche, als wir uns dem kleinen Bauwerk näherten. Es war kein Haus, nur eine kleine Hütte neben der Straße, ohne den geringsten Hinweis darauf, wozu sie diente. Auch der Grund, warum sie ausgerechnet hier stand, blieb uns verborgen - dieser Ort hatte nichts weiter zu bieten als Leere und Hitze.

Es gab keine Anzeichen dafür, dass die Hütte in letzter Zeit bewohnt gewesen war. Die Tür fehlte, so dass der Türrahmen freien Zugang bot, und in den leeren Fensterrahmen hingen nur noch ein paar spärliche Glasreste. Staub hatte sich auf der Türschwelle angesammelt und im Inneren verteilt. Die grauen, verwitterten Wände schienen schief im Wind zu stehen, der hier offenbar immer aus derselben Richtung blies.

Es gelang mir, meine Angst zu zügeln, als ich zögernd auf den leeren Türrahmen zuging. Wir waren jetzt bestimmt genauso allein wie die ganzen letzten Tage über.

Der Schatten, den der dunkle Eingang versprach, trieb mich an und ließ meine Ängste verblassen. Ich lauschte immer noch aufmerksam, aber meine Füße bewegten sich mit schnellen, sicheren Schritten vorwärts. Ich hechtete über die Schwelle und trat schnell zur Seite, um eine Wand im Rücken zu haben; ein Überbleibsel aus der Zeit, als Melanie auf Nahrungssuche gewesen war. Ich stand unbeweglich da, nervös, weil ich nichts sehen konnte, und wartete darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten.

Die kleine Hütte war wie vermutet leer. Sie wirkte im Innern genauso unbewohnt wie von außen. Die Platte eines zusammengebrochenen Tisches hing schräg von den beiden noch intakten Beinen herunter, daneben stand ein verrosteter Metallstuhl. Durch große Löcher in dem abgenutzten, schmutzigen Teppich blitzte der Betonboden hervor. An der Wand befand sich eine Küchenzeile: ein tiefes Spülbecken, dann eine Reihe Küchenschränke -einige ohne Türen - zwischen der Spüle und einem halbhohen Kühlschrank, dessen Tür offen stand und sein mit schwarzem Schimmel bedecktes Inneres erkennen ließ. An der gegenüberliegenden Wand stand das Gestell eines Sofas ohne Polster. Über dem Sofa hing ein bisschen schief, aber völlig unversehrt, ein gerahmter Druck, der Poker spielende Hunde zeigte.

Gemütlich, dachte Melanie; sie war erleichtert genug, um sarkastisch zu sein. Hier gibt es mehr Deko als in deiner Wohnung. Ich war bereits auf dem Weg zur Spüle.

Träum weiter, fügte Melanie hilfreich hinzu.

Natürlich war es Verschwendung, diesen abgelegenen Ort mit fließend Wasser zu versorgen; solche Dinge wurden von den Seelen zu gut verwaltet, als dass sie das nicht geändert hätten. Trotzdem musste ich einfach an den uralten Griffen drehen. Einer war so durchgerostet, dass er abbrach.

Als Nächstes wandte ich mich den Schränken zu und kniete mich auf den widerlichen Teppich, um vorsichtig hineinzuspähen. Mit weit ausgestrecktem Arm öffnete ich eine Tür, aus Angst, irgendein giftiges Wüstentier aufzuscheuchen.

Der erste Schrank war leer und hatte keine Rückwand, so dass ich die Holzlatten der Außenwand sehen konnte. Der nächste hatte keine Tür, aber es lag ein staubbedeckter Stapel alter Zeitungen darin. Neugierig zog ich eine heraus, schüttelte den Dreck auf den noch dreckigeren Boden und sah auf das Datum.

Noch aus Menschenzeiten, stellte ich fest. Nicht, dass ein Datum nötig gewesen wäre, um das zu erkennen.

»Mann verbrennt dreijährige Tochter«, sprang mir die Schlagzeile entgegen, daneben das Bild eines engelsgleichen blonden Kindes. Es war nicht die Titelseite. Die Schrecken, von denen hier berichtet wurde, waren nicht entsetzlich genug, um einen Platz auf dem Titel zu verdienen. Darunter war das Gesicht eines Mannes zu sehen, der zwei Jahre vor dem Erscheinungstermin der Zeitung seine Frau und seine zwei Kinder ermordet hatte und nach dem seither gefahndet wurde; der Bericht handelte davon, dass der Mann möglicherweise in Mexiko gesehen worden war. Zwei Tote und drei Verletzte bei einem Verkehrsunfall aufgrund von Trunkenheit am Steuer. Eine Untersuchung wegen Betrugs und Mordes im Zusammenhang mit dem angeblichen Selbstmord eines prominenten örtlichen Bankmanagers. Ein Kinderschänder wird wegen Widerrufs seines Geständnisses auf freien Fuß gesetzt. Abgeschlachtete Haustiere in einem Müllcontainer gefunden.

Ich schauderte und schob die Zeitung weg, zurück in den dunklen Schrank.

Das waren die Ausnahmen, nicht die Regel, dachte Melanie ruhig und versuchte, das ungefilterte Entsetzen meiner Reaktion davon abzuhalten, in ihre Erinnerungen an diese Jahre einzusickern und sie zu trüben.

Aber verstehst du jetzt, warum wir dachten, wir könnten es besser? Warum uns der Gedanke gekommen ist, dass ihr all die wunderbaren Dinge auf dieser Welt vielleicht gar nicht verdient?

Sie antwortete bissig: Wenn ihr den Planeten säubern wolltet, warum habt ihr ihn dann nicht einfach in die Luft gesprengt?

Auch wenn eure Science-Fiction-Autoren davon träumen, wir haben einfach nicht die nötige Technologie dafür.

Sie fand meinen Witz nicht lustig.

Außerdem, fügte ich hinzu, wäre das eine solche Verschwendung gewesen. Es ist ein herrlicher Planet. Abgesehen von dieser grässlichen Wüste natürlich.

So haben wir übrigens gemerkt, dass ihr hier wart, sagte sie, wobei sie sich wieder auf die ekelhaften Schlagzeilen bezog. Als die Abendnachrichten aus nichts anderem mehr bestanden als aus erbaulichen, anrührenden Meldungen, als die Pädophilen und Junkies vor den Krankenhäusern Schlange standen, um sich selbst einzuliefern, als sich alles in eine gewaltfreie Idylle verwandelte, da habt ihr euch verraten.

»Was für eine schreckliche Veränderung!«, sagte ich trocken und wandte mich dem nächsten Schrank zu.

Ich zog die verklemmte Tür auf und stieß auf eine Goldmine.

»Cracker!«, rief ich, als ich nach der ausgeblichenen, halb zerdrückten Packung mit Salzgebäck griff. Dahinter stand noch eine zweite Packung, die aussah, als wäre jemand draufgetreten. »Cremeschnitten!«, jubelte ich.

Sieh mal!, sagte Melanie eindringlich und richtete meine Aufmerksamkeit auf drei verstaubte Flaschen mit Desinfektionsmittel hinten im Schrank.

Was willst du denn damit?, fragte ich, während ich bereits die Schachtel mit den Crackern aufschlitzte. Es irgendwem in die Augen spritzen? Oder ihm mit der Flasche den Schädel einschlagen?

Zu meiner großen Freude waren die Cracker zwar völlig zerkrümelt, aber noch in ihrer Plastikverpackung. Ich riss eine davon auf und begann mir die Krümel in den Mund zu schütten und sie halb zerkaut zu schlucken. Ich konnte sie gar nicht schnell genug in den Magen kriegen.

Mach eine Flasche auf und riech dran, wies sie mich an, ohne auf meinen Kommentar einzugehen. So hat mein Vater Wasser in der Garage aufbewahrt. Der Rückstand des Desinfektionsmittels sorgt dafür, das Wasser nicht verdirbt.

Sofort. Ich hatte eine Packung Krümel aufgegessen und öffnete gerade die nächste. Sie waren altbacken, aber verglichen mit dem Geschmack in meinem Mund waren sie eine Offenbarung. Als ich die dritte Packung verschlungen hatte, merkte ich, wie das Salz auf meinen rissigen Lippen und in den Mundwinkeln brannte.

Ich hievte eine der Flaschen aus dem Schrank und hoffte, dass Melanie Recht hatte. Meine Arme fühlten sich schwach an, wie Pudding, und waren kaum in der Lage, sie anzuheben. Das beunruhigte uns beide. So sehr hatte unsere Kondition schon gelitten? Wie weit würden wir wohl noch kommen?

Der Deckel saß so fest, dass ich mich fragte, ob er mit der Flasche verschmolzen war. Aber schließlich gelang es mir, ihn mit den Zähnen aufzudrehen. Ich schnüffelte vorsichtig an der Öffnung, nicht besonders erpicht darauf, giftige Dämpfe einzuatmen. Der Geruch nach Desinfektionsmittel war nur ganz schwach. Ich roch etwas mutiger daran. Es war eindeutig Wasser. Abgestandenes, modriges Wasser, aber immerhin Wasser. Ich trank einen kleinen Schluck. Kein frischer Bergquell, aber nass. Ich begann es hinunterzustürzen.

Langsam, warnte mich Melanie und ich musste ihr Recht geben. Wir hatten Glück gehabt, auf diesen Vorrat zu stoßen, aber es war leichtsinnig, ihn zu verschwenden. Außerdem wollte ich jetzt wieder feste Nahrung, nachdem das Brennen des Salzes nachgelassen hatte. Ich griff nach der Packung mit den Cremeschnitten und leckte drei der zerquetschten Kuchen aus der Plastikfolie.

Der letzte Schrank war leer.

Sobald das schlimmste Hungergefühl ein bisschen nachgelassen hatte, begann sich Melanies Ungeduld in meine Gedanken zu drängen. Diesmal leistete ich keinen Widerstand und lud schnell meine Beute in den Rucksack. Die leeren Wasserflaschen warf ich in die Spüle, um Platz zu schaffen. Die Desinfektionsmittelflaschen waren schwer, aber es war ein tröstliches Gewicht. Es bedeutete, dass ich mich heute Nacht auf dem Wüstenboden nicht schon wieder durstig und hungrig zum Schlafen ausstrecken musste. Voll neuer Energie, die der Zucker durch meine Adern schießen ließ, trat ich wieder hinaus in den gleißenden Nachmittag.