Durchschaut

Jeb verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah nachdenklich zur dunklen Decke hinauf. Seine Plauderstimmung war ihm noch nicht vergangen.

»Ich habe mich oft gefragt, wie das ist - geschnappt zu werden, meine ich. Hab es oft miterlebt und war selbst ein paarmal kurz davor. Wie wäre das, habe ich mich gefragt. Würde es wehtun, wenn man mir etwas in den Kopf einsetzt? Ich habe schon dabei zugesehen, weißt du.«

Ich riss überrascht die Augen auf, aber er sah mich nicht an.

»Ihr scheint eine Art Narkose zu benutzen, aber das ist nur eine Vermutung. Es hat auf jeden Fall niemand wie am Spieß geschrien, von daher kann es nicht allzu qualvoll gewesen sein.«

Ich rümpfte die Nase. Quälerei. Nein, das war eine menschliche Spezialität.

»Die Geschichten, die du dem Jungen da erzählt hast, waren wirklich interessant.«

Ich erstarrte und er lachte leise. »Ja, ich habe zugehört. Euch belauscht, ich gebe es zu. Es tut mir nicht leid - das war großartig und mit mir würdest du nie so reden wie mit Jamie. Diese Fledermäuse und Pflanzen und Spinnen haben es mir echt angetan. Das bietet eine Menge Stoff zum Nachdenken. Hab immer gern so verrücktes Außerirdischen-Zeugs gelesen, Science-Fiction und so. Ich hab es regelrecht verschlungen. Und der Junge ist da wie ich - er hat alle meine Bücher zwei-, dreimal gelesen. Das muss toll für ihn sein, an neue Geschichten zu kommen. Für mich ist es das auf jeden Fall. Du bist eine gute Geschichtenerzählerin.«

Ich hielt meinen Blick weiterhin gesenkt, aber ich merkte, wie ich mich entspannte und meine Wachsamkeit ein wenig nachließ. Wie jeder in diesen emotional aufgeladenen Körpern war ich anfällig für Schmeichelei.

»Alle hier glauben, du hast uns aufgespürt, um uns den Suchern auszuliefern.«

Beim Klang dieses Wortes zuckte ich zusammen. Ich biss mir auf die Zunge und schmeckte Blut.

»Was für einen Grund könnte es sonst für dein Auftauchen hier geben?«, fuhr er fort, ohne meine Reaktion zu bemerken oder sie zu beachten »Aber sie haben sich da in eine fixe Idee verrannt, glaube ich. Ich bin der Einzige, der sich hier ein paar Fragen stellt… Ich meine, was ist denn das für ein Plan, einfach in die Wüste zu wandern, ohne wieder zurückkehren zu können?« Er kicherte. »Wandern - ich nehme an, das ist deine Spezialität, was, Wanda?«

Er lehnte sich zu mir herüber und stieß mich mit dem Ellbogen an. Ich warf einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht und sah dann wieder auf den Fußboden, die Augen weit aufgerissen, unsicher, wo ich hingucken sollte. Er lachte wieder.

»Meiner Meinung nach war dieser Trip nur Zentimeter von einem erfolgreichen Selbstmordversuch entfernt. Ganz bestimmt nicht der Stil eines Suchers, wenn du weißt, was ich meine. Ich hab versucht, eine Erklärung dafür zu finden. Logisch an die Sache heranzugehen, okay? Wenn du also keine Unterstützung hattest, wofür ich keine Anzeichen gefunden habe, und du keine Möglichkeit hattest, zurückzukehren, dann musstest du es auf etwas anderes abgesehen haben. Du bist nicht besonders gesprächig gewesen, seit du hier bist, außer mit dem Jungen gerade eben, aber immer, wenn du etwas gesagt hast, habe ich genau zugehört. Mir scheint, der Grund, weshalb du da draußen beinahe draufgegangen bist war, dass du auf Teufel komm raus diesen Jungen und Jared finden wolltest.«

Ich schloss die Augen.

»Aber was für ein Interesse könntest du daran haben?«, fragte Jeb nachdenklich, ohne eine Antwort zu erwarten. »Ich sehe die Sache folgendermaßen: Entweder du bist eine wirklich gute Schauspielerin - eine Art Supersucherin, irgendeine neue Rasse, noch raffinierter als die übrigen - mit einem Plan, den ich mir einfach nicht vorstellen kann, oder du schauspielerst überhaupt nicht. Die erste Variante scheint mir eine ziemlich komplizierte Erklärung für dein Verhalten zu sein und ich glaube nicht daran.

Wenn du allerdings nicht schauspielerst…«

Er schwieg einen Moment.

»Ich habe viel Zeit damit verbracht, deine Leute zu beobachten. Hab immer drauf gewartet, dass sie sich irgendwann verändern würden, weißt du - wenn sie sich nicht mehr wie wir zu verhalten brauchten, weil niemand mehr da war, für den sie sich verstellen mussten. Ich habe sie immer weiter und weiter beobachtet, aber sie haben sich einfach immer weiter wie Menschen verhalten. Sind bei den Familien ihrer Körper geblieben, haben bei schönem Wetter gepicknickt, Blumen gepflanzt, Bilder gemalt und all das. Ich habe mich gefragt, ob ihr alle irgendwie menschlich werdet. Ob wir letzten Endes nicht doch einen gewissen Einfluss auf euch ausüben.«

Er wartete, um mir die Möglichkeit zu geben, ihm zu antworten. Ich tat es nicht.

»Vor ein paar Jahren habe ich was gesehen, das sich mir eingeprägt hat. Einen alten Mann und eine alte Frau - beziehungsweise die Körper eines alten Mannes und einer alten Frau. Die so lange zusammen waren, dass die Eheringe an ihren Fingern regelrecht eingewachsen waren. Sie hielten Händchen und er küsste sie auf die Wange und sie wurde rot unter all ihren Falten. Da kam mir der Gedanke, dass ihr alle genau dieselben Gefühle habt wie wir, weil ihr in Wirklichkeit wir seid und nicht nur Hände in einer Handpuppe.«

»Ja«, flüsterte ich. »Wir haben genau dieselben Gefühle. Menschliche Gefühle. Hoffnung und Schmerz und Liebe.«

»Wenn du also gar nicht schauspielerst … dann könnte ich schwören, dass du die beiden liebst. Du, Wanda, nicht nur Mels Körper.«

Ich legte den Kopf auf meine Arme. Die Geste war gleichbedeutend mit einem Eingeständnis, aber das war mir egal. Ich konnte ihn einfach nicht mehr aufrecht halten.

»So viel zu dir. Aber ich denke natürlich auch über meine Nichte nach. Wie es für sie war, wie es für mich sein würde. Wenn sie jemanden in deinen Kopf einsetzen, ist man dann einfach … weg? Ausgelöscht? Als wäre man tot? Oder ist es wie Schlafen? Ist man sich bewusst, dass jemand anders die Kontrolle übernommen hat? Ist sich derjenige deiner bewusst? Ist man da drinnen gefangen und schreit um Hilfe?«

Ich saß unbeweglich da und versuchte einen entspannten Gesichtsausdruck beizubehalten.

»Offensichtlich bleiben ja die Erinnerungen und Verhaltensweisen zurück. Aber das Bewusstsein … Man sollte meinen, dass nicht alle Leute einfach kampflos aufgeben. Verdammt, ich weiß, dass ich versuchen würde zu bleiben - ich war nie einer, der ein Nein als Antwort akzeptiert hätte, das kann dir jeder bestätigen. Ich bin ein Kämpfertyp. Alle von uns, die noch übrig sind, sind Kämpfertypen. Und weißt du was: Ich hätte auch Mel so eingeschätzt.«

Er hielt den Blick immer noch zur Decke gerichtet, aber ich sah weiterhin zu Boden - starrte nach unten und studierte die Spuren im rötlich grauen Staub.

»Über all das habe ich echt viel nachgedacht.«

Ich konnte jetzt seinen Blick auf mir spüren, obwohl ich meinen Kopf gesenkt hielt. Ich rührte mich nicht, außer um langsam ein- und auszuatmen. Es kostete mich ziemlich viel Anstrengung, diesen langsamen Rhythmus unverändert beizubehalten. Ich musste schlucken; ich hatte immer noch Blut im Mund.

Wie konnten wir jemals glauben, er wäre verrückt?, wunderte sich Mel. Er sieht alles. Er ist ein Genie.

Er ist beides.

Jetzt müssen wir es nicht mehr für uns behalten. Er weiß Bescheid. Sie war voller Hoffnung. In letzter Zeit hatte sie sich meistens sehr still verhalten, fast abwesend. Es war nicht leicht für sie, sich zu konzentrieren, wenn sie relativ glücklich war. Sie hatte ihre große Schlacht gewonnen. Sie hatte uns hierhergebracht; ihre Geheimnisse waren nicht länger in Gefahr, Jared und Jamie würden nicht von ihren Erinnerungen verraten werden. Ohne Aufgabe war es schwieriger für sie, sich zum Sprechen aufzuraffen, und sei es mit mir. Ich konnte erkennen, wie der Gedanke, sich zu offenbaren - die anderen Menschen von ihrer Existenz wissen zu lassen -, sie jetzt wieder stärkte.

Jeb weiß Bescheid, ja. Aber macht das wirklich einen Unterschied?

Sie dachte daran, wie die anderen Menschen Jeb sahen. Stimmt, seufzte sie. Aber ich glaube, Jamie … na ja, er weiß oder vermutet nichts, aber ich glaube, er fühlt die Wahrheit.

Du hast wahrscheinlich Recht. Wir werden sehen, ob das letzten Endes gut ist für ihn oder uns.

Jeb brachte es nicht fertig, länger als ein paar Sekunden zu schweigen, dann legte er wieder los und unterbrach uns. »Verdammt interessant das alles. Zwar nicht so viel Peng! Peng! wie in den Filmen, die ich mochte. Aber trotzdem verdammt interessant. Ich würde gern mehr über diese Spinnendinger erfahren. Ich bin echt neugierig … wirklich neugierig.«

Ich atmete tief durch und hob den Kopf. »Was willst du wissen?«

Er schenkte mir ein warmes Lächeln, wobei halbmondförmige Falten seine Augen umspielten.

»Drei Gehirne, stimmt’s?«

Ich nickte.

»Wie viele Augen?«

»Zwölf - eins an jedem Gelenk, mit dem die Beine am Körper befestigt sind. Wir hatten keine Lider, nur eine Menge Fasern - wie Wimpern aus Stahlwolle - um sie zu schützen.«

Er nickte mit leuchtenden Augen. »Waren sie behaart wie Taranteln?«

»Nein, eher … gepanzert - geschuppt wie ein Reptil oder ein Fisch.«

Ich ließ mich gegen die Wand sinken und machte mich auf ein langes Gespräch gefasst.

Jeb enttäuschte mich diesbezüglich nicht. Ich hörte auf zu zählen, wie viele Fragen er mir stellte. Er wollte Einzelheiten wissen - wie die Spinnen aussahen, wie sie sich verhielten und wie sie die Erde übernommen hatten. Er schreckte nicht vor den Details der Invasion zurück, im Gegenteil, diese Stellen schienen ihm sogar noch besser zu gefallen als der Rest. Auf jede Antwort hatte er eine neue Frage und er grinste häufig. Als er Stunden später genug über die Spinnen erfahren hatte, wollte er mehr von den Blumen wissen.

»Davon hast du kaum was erzählt«, erinnerte er mich.

Also beschrieb ich ihm diesen schönsten und zartesten der Planeten. Fast jedes Mal, wenn ich eine Pause machte, um Luft zu holen, unterbrach er mich mit einer neuen Frage. Es machte ihm Spaß, die Antworten zu erraten, bevor ich etwas sagen konnte, und es schien ihm nicht das Geringste auszumachen, wenn er sich irrte.

»Und habt ihr nach Fliegen geschnappt wie eine Venusfliegenfalle? Ganz bestimmt - oder vielleicht nach etwas Größerem wie Vögeln - oder Flugsauriern!«

»Nein, wir haben uns vom Sonnenlicht ernährt wie die meisten Pflanzen hier auch.«

»Das ist aber nur halb so lustig wie meine Idee.«

Manchmal erwischte ich mich dabei, dass ich mit ihm lachte.

Wir waren gerade zu den Drachen übergegangen, als Jamie mit einem Abendessen für drei auftauchte.

»Hallo, Wanderer«, sagte er leicht verlegen.

»Hallo, Jamie«, antwortete ich schüchtern, unsicher, ob er die Nähe bereute, die zwischen uns geherrscht hatte. Ich war schließlich immer noch die Böse.

Aber er setzte sich im Schneidersitz direkt neben mich - zwischen mich und Jeb - auf den Boden und stellte das Tablett mit dem Essen in die Mitte unserer kleinen Runde. Ich war kurz vorm Verhungern und ganz ausgetrocknet vom vielen Reden. Ich nahm eine Schale Suppe und trank sie in großen Zügen aus.

»Das hätte ich mir ja denken können, dass du im Speisesaal heute nur höflich warst. Du musst Bescheid sagen, wenn du Hunger hast, Wanda. Ich kann schließlich keine Gedanken lesen.«

Was Letzteres anging, war ich anderer Meinung, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, auf einem Stück Brot herumzukauen, um zu antworten.

»Wanda?«, fragte Jamie.

Ich nickte und gab ihm damit zu verstehen, dass ich nichts gegen den Namen hatte.

»Passt irgendwie zu ihr, findest du nicht?« Jeb war so stolz auf sich, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn er sich selbst auf die Schulter geklopft hätte.

»Irgendwie schon, ja«, sagte Jamie. »Habt ihr gerade über Drachen geredet?«

»Ja«, sagte Jeb begeistert, »aber nicht diese eidechsenartigen, sondern sie sind alle aus Gallertmasse. Fliegen können sie trotzdem … zumindest etwas Ähnliches. Die Luft dort ist dicker, auch fast wie Gelee. Daher ist es beinahe wie Schwimmen. Und sie können Säure speien - das ist doch fast so gut wie Feuer, findest du nicht?«

Ich ließ Jeb Jamie die Einzelheiten ausmalen, während ich mehr als meinen Anteil am Essen vertilgte und eine ganze Flasche Wasser trank. Sobald mein Mund wieder leer war, begann Jeb erneut mit den Fragen.

»Was diese Säure angeht…«

Jamie stellte keine Fragen wie Jeb und ich achtete stärker darauf, was ich sagte, jetzt, wo er dabei war. Allerdings fragte Jeb auch nichts mehr, das zu einem heiklen Thema geführt hätte, sei es aus Zufall oder mit Absicht, so dass meine Vorsicht gar nicht nötig war.

Die Helligkeit nahm langsam ab, bis es pechschwarz war. Dann wurde alles silbrig im schwachen Lichtschein des Mondes, der gerade ausreichte, um den Mann und den Jungen neben mir zu erkennen, sobald meine Augen sich daran gewöhnt hatten.

Jamie rückte näher an mich heran, als die Nacht fortschritt. Ich merkte gar nicht, dass ich ihm mit den Fingern durchs Haar strich, bis ich sah, wie Jeb meine Hand anstarrte.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

Schließlich gähnte Jeb mit weit aufgerissenem Mund und steckte auch mich und Jamie damit an.

»Du kannst gut erzählen, Wanda«, sagte Jeb, als wir uns alle geräkelt hatten.

»Das habe ich früher auch gemacht. Ich war Dozentin an der Universität in San Diego. Ich habe Geschichte gelehrt.«

»Eine Lehrerin!«, sagte Jeb aufgeregt. »Na, das ist doch was! Das könnten wir hier gut gebrauchen. Mags Tochter Sharon unterrichtet die drei Kinder, aber es gibt eine Menge, womit sie sich nicht auskennt. Mathe und solche Dinge liegen ihr eher. Aber Geschichte…«

»Ich habe nur unsere Geschichte unterrichtet«, unterbrach ich ihn. Darauf zu warten, dass er mal Luft holte, war nicht sehr erfolgversprechend. »Ich wäre euch hier als Lehrerin keine große Hilfe. Ich bin überhaupt nicht entsprechend ausgebildet.«

»Eure Geschichte ist besser als nichts. Das sind Dinge, die wir Menschen wissen sollten, da wir ja offenbar in einem Universum leben, das stärker bevölkert ist, als uns bewusst war.«

»Aber ich war keine richtige Lehrerin«, erklärte ich ihm verzweifelt. Glaubte er im Ernst, dass irgendjemand hier meine Stimme hören wollte, geschweige denn meine Geschichten? »Ich war eine Art Honorarprofessorin, eigentlich nur Gastdozentin. Sie wollten mich nur wegen … na ja, wegen der Geschichte, die mit meinem Namen zu tun hat.«

»Das ist das Nächste, wonach ich fragen wollte«, sagte Jeb zufrieden. »Wir können uns später noch über deine Lehrerfahrung unterhalten. Also - warum wurdest du Wanderer genannt? Ich hab eine Menge komischer Namen gehört, Dry Waters, Fingers In The Sky, Falling Upward - und dazwischen lauter Pams und Bobs natürlich. Du kannst mir glauben, das gehört zu den Dingen, die einen vor Neugier platzen lassen können.«

Ich wartete, bis ich sicher war, dass er geendet hatte. »Also, normalerweise läuft es folgendermaßen ab: Eine Seele probiert einen oder zwei Planeten aus und lässt sich dann an ihrem Lieblingsplatz nieder. Sie wechselt ab dann einfach nur zu neuen Wirten derselben Spezies auf demselben Planeten, kurz bevor ihr Körper stirbt. Es ist sehr verwirrend, von einer Körperart zu einer anderen zu wechseln. Die meisten Seelen hassen das. Einige verlassen ihren ersten Planeten, auf dem sie geboren wurden, nie. Manchen Seelen fällt es schwer, ihren Platz zu finden. Dann probieren sie vielleicht drei Planeten aus. Einmal habe ich eine Seele kennengelernt, die auf fünf Planeten war, bevor sie sich bei den Fledermäusen niedergelassen hat. Da hat es mir gefallen - ich glaube, das ist der Planet, den ich am ehesten ausgewählt hätte. Wenn die Blindheit nicht gewesen wäre …«

»Auf wie vielen Planeten hast du gelebt?«, fragte Jamie leise. Irgendwie hatte seine Hand ihren Weg in meine gefunden, während ich sprach.

»Das hier ist mein neunter«, sagte ich und drückte sacht seine Finger.

»Wow, neun!«, stieß er hervor.

»Deshalb wollten sie mich als Dozentin haben. Unsere Statistiken kann ihnen jeder präsentieren, aber ich habe persönliche Erfahrungen auf fast allen Planeten gesammelt, die wir … erobert haben.« Ich zögerte bei dem Wort, aber es schien Jamie nichts auszumachen. »Es gibt nur drei, auf denen ich nie gewesen bin - nein, inzwischen vier. Sie haben gerade eine neue Welt eröffnet…«

Ich hatte erwartet, dass Jeb mich sofort mit Fragen über die neue Welt oder die, die ich ausgelassen hatte, überschütten würde, aber er spielte nur geistesabwesend mit seinem Bart.

»Warum bist du nie irgendwo geblieben?«, fragte Jamie.

»Ich habe nie einen Ort gefunden, der mir so gut gefallen hat, dass ich gerne bleiben wollte.«

»Und was ist mit der Erde? Glaubst du, du wirst hierbleiben?«

Ich musste über seine kindliche Zuversicht lächeln - als ob ich die Gelegenheit haben würde, in einen anderen Wirt zu wechseln. Als ob ich Gelegenheit haben würde, auch nur noch einen Monat in meinem jetzigen weiterzuleben.

»Die Erde ist … sehr interessant«, murmelte ich. »Das Leben ist schwieriger hier als an jedem anderen Ort, an dem ich bisher gewesen bin.«

»Schwieriger als auf dem Planeten mit der gefrorenen Luft und den Klauenbestien?«, fragte er.

»In gewisser Weise ja.« Wie konnte ich ihm erklären, dass der Nebelplanet einen nur von außen forderte - es war viel schwieriger, von innen heraus angegriffen zu werden.

Angegriffen, sagte Melanie spöttisch.

Ich gähnte. Ich habe eigentlich nicht dich gemeint, erklärte ich ihr. Ich dachte an diese unberechenbaren Gefühle, die mich ständig durcheinanderbringen. Aber du hast mich sehr wohl angegriffen. Indem du mir deine Erinnerungen so massiv aufgedrängt hast.

Ich habe meine Lektion gelernt, versicherte sie mir trocken. Ich konnte spüren, wie stark ihr die Hand in meiner bewusst war. In ihr wuchs langsam ein Gefühl heran, das ich nicht erkannte. So ähnlich wie Wut, aber noch dazu mit einem Schuss Verlangen und einer Prise Verzweiflung.

Eifersucht, klärte sie mich auf.

Jeb gähnte erneut. »Ich bin ganz schön unhöflich, fürchte ich. Du musst ja völlig fertig sein - nachdem du heute den ganzen Tag herumgelaufen bist, halte ich dich auch noch die halbe Nacht mit Fragen wach. Was für ein mieser Gastgeber! Los, Jamie, wir gehen, damit Wanda ein bisschen Schlaf bekommt.«

Ich war erschöpft. Es fühlte sich an, als wäre der Tag sehr lang gewesen, und nach Jebs Worten zu schließen, war das vielleicht nicht nur Einbildung.

»Okay, Onkel Jeb.« Jamie sprang leichtfüßig auf und streckte dem alten Mann die Hand entgegen.

»Danke, mein Junge.« Jeb ächzte beim Aufstehen. »Und dir auch vielen Dank«, fügte er in meine Richtung hinzu. »Das war das interessanteste Gespräch, das ich seit … na, wahrscheinlich jemals geführt habe. Schone deine Stimme, Wanda, denn meine Neugier ist enorm. Ah, da kommt er ja. Wurde aber auch Zeit.«

Erst jetzt hörte ich das Geräusch sich nähernder Schritte. Automatisch drückte ich mich an die Wand und verzog mich ein Stück in den Höhlenraum, obwohl ich mich drinnen fast noch unsicherer fühlte, weil das Mondlicht dort noch heller leuchtete.

Ich war überrascht, dass erst jetzt jemand zum Schlafen hier auftauchte; in diesem Flur schienen eigentlich viele Leute zu wohnen. »Entschuldige, Jeb. Ich musste noch mit Sharon reden und dann bin ich eingenickt…«

Es war unmöglich, diese gelassene, freundliche Stimme nicht wiederzuerkennen. Mir drehte sich der Magen um und ich wünschte, er wäre leer.

»Macht gar nichts, Doc. Wir haben uns hier prima amüsiert. Irgendwann musst du sie mal dazu bringen, dir ein paar ihrer Geschichten zu erzählen - klasse Stoff. Heute allerdings nicht mehr. Sie muss ganz schön müde sein. Wir sehen euch morgen früh.«

Der Doktor breitete eine Matte vor dem Höhleneingang aus, genau wie Jared.

»Behalt das im Auge«, sagte Jeb und legte das Gewehr neben die Matte.

»Geht’s dir gut, Wanda?«, fragte Jamie plötzlich. »Du zitterst ja.«

Ich hatte es bisher gar nicht gemerkt, aber mein ganzer Körper bebte. Ich antwortete nicht - meine Kehle war wie zugeschnürt.

»Ganz ruhig«, sagte Jeb besänftigend. »Ich habe Doc gebeten, eine Schicht zu übernehmen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Doc ist ein Ehrenmann.«

Der Doktor lächelte müde. »Ich werde dir nichts tun … Wanda, richtig? Das verspreche ich dir. Ich halte bloß Wache, während du schläfst.«

Ich biss mir auf die Lippe, aber das Beben ließ nicht nach.

Jeb schien allerdings zu glauben, dass alles geklärt sei. »Nacht, Wanda. Nacht, Doc«, sagte er, als er sich auf den Weg den Gang hinunter machte.

Jamie zögerte und sah mich besorgt an. »Doc ist in Ordnung«, versicherte er mir flüsternd.

»Komm endlich, Junge, es ist schon spät!«

Jamie lief hinter Jeb her.

Als sie weg waren, beobachtete ich den Doktor und wartete auf eine Veränderung. Docs entspannter Gesichtsausdruck verschwand jedoch nicht und er rührte das Gewehr nicht an. Er streckte seine lange Gestalt auf der Matte aus, wobei seine Waden und Füße darüber hinausragten. Im Liegen sah er viel kleiner aus, so spindeldürr, wie er war.

»Gute Nacht«, murmelte er schläfrig.

Natürlich antwortete ich nicht. Ich betrachtete ihn im fahlen Mondlicht und maß die Zeit zwischen dem Heben und Senken seines Brustkorbs mit Hilfe meines Pulsschlags, der mir in den Ohren hämmerte. Sein Atem wurde langsamer und tiefer und dann begann Doc leise zu schnarchen.

Möglicherweise verstellte er sich nur, aber selbst wenn es so war, konnte ich es nicht ändern. Leise rutschte ich weiter in den Raum hinein, bis ich mit dem Rücken an den Rand der Matratze stieß. Ich hatte mir geschworen, die Ruhe dieses Zimmers nicht zu stören, aber es würde wahrscheinlich niemandem wehtun, wenn ich mich am Fußende des Bettes zusammenrollte. Der Boden war so hart und uneben.

Das sanfte Schnarchen des Doktors war tröstlich; selbst wenn er mich damit in Sicherheit wiegen wollte, wusste ich so doch wenigstens, wo genau in der Dunkelheit er sich befand.

Ich beschloss, es drauf ankommen zu lassen und mich schlafen zu legen. Ich war hundemüde, wie Melanie sagen würde. Die Augen fielen mir zu. Die Matratze war weicher als alles, womit ich seit meiner Ankunft hier in Berührung gekommen war. Ich entspannte mich, ließ mich hineinsinken …

Da ertönte ein leises scharrendes Geräusch - und zwar bei mir im Raum. Ich riss die Augen auf und sah einen Schatten zwischen mir und der vom Mondschein erhellten Decke. Von draußen war das ununterbrochene Schnarchen des Doktors zu hören.