Gebeichtet

Der Schatten war riesig und unförmig. Er ragte hoch über mir auf und sein ausladender Oberkörper näherte sich meinem Gesicht.

Ich wollte schreien, aber das Geräusch blieb mir im Hals stecken. Alles, was ich hervorbrachte, war ein atemloses Quieken.

»Psst, ich bin’s nur«, flüsterte Jamie. Etwas Großes, Rundliches rollte von seiner Schulter und schlug weich auf dem Boden auf. Jetzt erkannte ich seinen wahren, schmalen Umriss im Mondlicht.

Ich schnappte ein paarmal nach Luft und fasste mir mit der Hand an die Kehle.

»Entschuldige«, flüsterte er und setzte sich auf den Rand der Matratze. »Das war wahrscheinlich ziemlich dumm von mir. Ich wollte Doc nicht wecken - ich bin überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass ich dich erschrecken könnte. Alles in Ordnung?« Er tätschelte meinen Knöchel - den Körperteil von mir, der ihm am nächsten war.

»Klar«, keuchte ich immer noch atemlos.

»Entschuldige«, murmelte er noch einmal.

»Was machst du hier, Jamie? Solltest du nicht schlafen?«

»Deshalb bin ich hier. Du kannst dir nicht vorstellen, wie laut Onkel Jeb schnarcht. Ich hab es nicht mehr ausgehalten.«

Seine Antwort ergab für mich keinen Sinn. »Schläfst du denn sonst nicht mit Jeb im selben Raum?«

Jamie gähnte und begann die unförmige Matte auszurollen, die er auf den Boden geworfen hatte. »Nein, normalerweise schlafe ich bei Jared. Der schnarcht nicht. Aber das weißt du ja.«

Das wusste ich.

»Und warum schläfst du dann nicht in Jareds Zimmer? Hast du Angst, alleine zu schlafen?« Das hätte mich nicht gewundert. Ich hatte selbst den Eindruck, hier ununterbrochen Angst zu haben.

»Angst!«, stieß er beleidigt hervor. »Nein. Das hier ist Jareds Zimmer. Und meins.«

»Was?« Ich schnappte nach Luft. »Jeb hat mich in Jareds Zimmer untergebracht?!«

Ich konnte es nicht glauben. Jared würde mich umbringen. Nein, erst würde er Jeb umbringen und dann mich.

»Es ist auch mein Zimmer. Und ich habe Jeb gesagt, du könntest es haben.«

»Jared wird wütend sein«, flüsterte ich.

»Ich kann mit meinem Zimmer machen, was ich will«, murmelte Jamie aufmüpfig, aber dann biss er sich auf die Lippe. »Wir sagen es ihm einfach nicht. Er muss es ja nicht erfahren.«

Ich nickte. »Gute Idee.«

»Es macht dir doch nichts aus, wenn ich hier bei dir schlafe, oder? Onkel Jeb ist echt laut.«

»Nein, Jamie, mir macht es nichts aus, aber ich halte es trotzdem für keine gute Idee.«

Er runzelte die Stirn und versuchte stark zu sein anstatt verletzt. »Warum nicht?«

»Weil du hier nicht sicher bist. Manchmal kommen nachts Leute, die mich suchen.«

Er bekam große Augen. »Ehrlich?«

»Jared hatte immer das Gewehr bei sich - dann sind sie wieder gegangen.«

»Wer?«

»Ich weiß es nicht - einmal war es Kyle. Aber es waren bestimmt auch welche darunter, die immer noch hier sind.«

Er nickte. »Dann sollte ich erst recht hierbleiben. Doc braucht vielleicht Hilfe.«

»Jamie …«

»Ich bin kein Kind mehr, Wanda. Ich kann sehr gut allein auf mich aufpassen.«

Es würde ihn nur noch störrischer machen, wenn ich weiter in ihn drang. »Dann leg dich wenigstens ins Bett«, gab ich nach. »Ich schlafe auf dem Boden. Es ist schließlich dein Zimmer.«

»Das ist nicht in Ordnung. Du bist der Gast.«

Ich schnaubte leise. »Nein, das Bett gehört dir.«

»Kommt nicht in Frage.« Er legte sich auf die Matte und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich musste erneut feststellen, dass ich mit einem Wortwechsel bei Jamie nichts erreichen würde. Nun, diese Angelegenheit konnte ich problemlos regeln, sobald er eingeschlafen war. Jamie schlief normalerweise so fest, als läge er im Koma. Melanie konnte ihn dann sonst wohin tragen.

»Du kannst mein Kissen haben«, sagte er und klopfte auf das an der Seite des Bettes, neben der er lag. »Du musst dich nicht ans Fußende quetschen.«

Ich seufzte, krabbelte aber ans Kopfende des Bettes.

»Schon besser«, sagte er beifällig. »Könntest du mir jetzt bitte Jareds rübergeben?«

Ich zögerte und war kurz davor, nach dem Kissen unter meinem Kopf zu greifen - da sprang er auf, lehnte sich über mich und schnappte sich das andere Kissen. Ich seufzte wieder.

Wir lagen eine Weile lang schweigend da und lauschten auf Docs leise pfeifende Schnarchgeräusche.

»Docs Schnarchen ist ganz angenehm, oder?«, flüsterte Jamie. Ich gab ihm Recht. »Es wird dich nicht vom Schlafen abhalten.«

»Bist du müde?«

»Mhm.«

»Oh.«

Ich wartete darauf, dass er noch etwas sagte, aber Jamie schwieg.

»Wolltest du noch was?«, fragte ich.

Er antwortete nicht gleich, aber ich konnte spüren, wie er mit sich kämpfte, und wartete ab.

»Wenn ich dir eine Frage stelle, würdest du mir die Wahrheit sagen?«

Jetzt war ich es, die zögerte. »Vielleicht weiß ich die Antwort ja gar nicht«, sagte ich ausweichend.

»Auf das hier schon. Als wir vorhin weggegangen sind … Jeb und ich … hat er mir ein paar Sachen gesagt. Sachen, die er so denkt, aber ich weiß nicht, ob er Recht hat.«

Melanie war plötzlich sehr präsent in meinem Kopf.

Jamies Flüstern war schwer zu verstehen, leiser als mein Atem. »Onkel Jeb glaubt, dass Melanie vielleicht noch lebt. Da drinnen mit dir, meine ich.«

Mein Jamie, seufzte Melanie.

Ich antwortete keinem von beiden.

»Ich wusste nicht, dass das passieren kann. Kommt das manchmal vor?« Seine Stimme versagte und ich konnte hören, dass er mit den Tränen kämpfte. Er war niemand, der schnell weinte, und ich hatte ihn heute bereits zweimal dazu gebracht. Ein heftiger Schmerz durchbohrte meine Brust.

»Ja, Wanda?«

Sag es ihm. Bitte sag ihm, dass ich ihn lieb habe.

»Warum antwortest du mir nicht?« Jetzt weinte Jamie wirklich, aber er versuchte, das Geräusch zu ersticken.

Ich kroch aus dem Bett, quetschte mich in die Lücke zwischen der Matratze und der Matte und legte meinen Arm auf seine bebende Brust. Ich lehnte meinen Kopf an seine Haare und spürte seine warmen Tränen auf meinem Hals.

»Lebt Melanie noch, Wanda? Bitte.«

Er war wahrscheinlich nur ein Werkzeug. Der alte Mann könnte ihn sehr gut nur deswegen hergeschickt haben; Jeb war schlau genug, um zu erkennen, wie leicht Jamie meinen Panzer durchbrach. Möglicherweise wollte Jeb seine Theorie bestätigt haben und schreckte nicht davor zurück, den Jungen dafür zu benutzen. Was würde Jeb tun, wenn er die gefährliche Wahrheit kannte? Wozu würde er die Information verwenden? Ich glaubte nicht, dass er mir Böses wollte, aber konnte ich meinem Urteil trauen? Menschen waren hinterhältige, verräterische Wesen. Da es so etwas bei meiner Spezies nicht gab, war ich nicht in der Lage, ihre finsteren Pläne zu durchschauen.

Jamie neben mir zitterte.

Siehst du nicht, wie er leidet? Melanie weinte. Erfolglos versuchte sie meine Kontrolle zu durchbrechen.

Aber ich würde es nicht auf Melanie schieben können, wenn es sich als Riesenfehler entpuppte. Ich wusste, welche von uns es war, die jetzt das Wort ergriff.

»Sie hat dir versprochen zurückzukommen, nicht wahr?«, murmelte ich. »Würde Melanie je ein Versprechen brechen, das sie dir gegeben hat?«

Jamie schlang die Arme um meinen Körper und klammerte sich eine ganze Weile an mich. Nach ein paar Minuten flüsterte er: »Ich hab dich lieb, Mel.«

»Sie hat dich auch lieb. Sie ist so glücklich, dass du hier in Sicherheit bist.«

Es war lange genug still, dass die Tränen auf meiner Haut trocknen konnten, wobei sie einen feinen, salzigen Film zurückließen. »Ist das immer so?«, flüsterte Jamie, als ich dachte, er schliefe schon längst. »Bleiben sie alle da?«

»Nein«, sagte ich traurig. »Nein. Melanie ist etwas Besonderes.«

»Sie ist stark und mutig.«

»Allerdings.«

»Glaubst du …« Er machte eine Pause und schniefte. »Glaubst du, dass Dad vielleicht auch noch da ist?«

Ich schluckte, um den Kloß in meinem Hals weiter nach unten zu befördern. Es klappte nicht. »Nein, Jamie. Nein, das glaube ich nicht. Nicht so wie Melanie.«

»Warum?«

»Weil er die Sucher zu euch geführt hat. Besser gesagt, die Seele in ihm hat das getan. Dein Vater hätte das nicht zugelassen, wenn er noch da wäre. Deine Schwester hat mich nie sehen lassen, wo sich die Hütte befand - ich wusste ganz lange nicht einmal, dass du überhaupt existierst. Sie hat mich erst hierhergebracht, als sie sicher war, dass ich euch nichts tun würde.«

Ich hatte zu viel preisgegeben. Erst als ich wieder schwieg, merkte ich, dass der Doktor nicht mehr schnarchte. Ich konnte ihn nicht mal atmen hören. Idiotin! Ich verfluchte mich innerlich selbst.

»Unglaublich«, sagte Jamie.

Ich flüsterte ihm ins Ohr, so leise, dass der Doktor es unmöglich hören konnte: »Ja, sie ist sehr stark.«

Jamie bemühte sich mit gerunzelter Stirn zu verstehen, was ich sagte, und warf dann plötzlich einen Blick auf die dunkle Öffnung zum Gang. Ihm musste dasselbe aufgefallen sein wie mir, denn er drehte sein Gesicht zu meinem Ohr und flüsterte leiser als vorher zurück: »Und warum tust du uns nichts? Ist es nicht das, worauf du es abgesehen hast?«

»Nein. Ich will dir nicht wehtun.«

»Warum nicht?«

»Deine Schwester und ich haben … viel Zeit miteinander verbracht. Sie hat dich mit mir geteilt. Und … ich habe angefangen … dich ebenfalls zu lieben.«

»Und Jared auch?«

Einen Augenblick lang biss ich die Zähne aufeinander, verzweifelt, dass er die Verbindung so schnell gezogen hatte. »Natürlich will ich auch Jared nicht verletzen.«

»Er hasst dich«, erklärte Jamie, ganz offensichtlich bekümmert deswegen.

»Ja. Alle hassen mich.« Ich seufzte. »Ich kann es ihnen nicht verdenken.«

»Jeb nicht. Und ich auch nicht.«

»Das wirst du vielleicht noch, wenn du länger darüber nachdenkst.«

»Aber du warst doch bei der Invasion gar nicht dabei. Du hast meinen Dad oder meine Mom oder Melanie nicht ausgewählt. Du warst damals im Weltraum, oder?«

»Das stimmt, aber ich bin, was ich bin, Jamie. Ich habe getan, was Seelen nun mal tun. Ich habe vor Melanie viele Wirte bewohnt und nichts hat mich davon abgehalten, Leben zu … übernehmen. Immer wieder. So lebe ich.«

»Hasst Melanie dich?«

Ich dachte eine Minute lang nach. »Nicht so sehr wie früher.«

Nein. Ich hasse dich überhaupt nicht. Nicht mehr.

»Sie sagt, sie hasst mich überhaupt nicht mehr«, murmelte ich fast lautlos.

»Wie … wie geht es ihr?«

»Sie ist froh, hier zu sein. Sie ist so froh, dich zu sehen. Es macht ihr noch nicht einmal etwas aus, dass sie uns umbringen werden.«

Jamie erstarrte unter meinem Arm. »Das können sie nicht machen«, zischte er. »Nicht, wenn Melanie noch lebt!«

Du hast ihm einen Schreck eingejagt, beklagte sich Melanie. Das hättest du nicht sagen dürfen.

Es wird nicht leichter für ihn sein, wenn es ihn unvorbereitet trifft.

»Das wird niemand glauben, Jamie«, flüsterte ich. »Sie werden denken, dass ich lüge, um dich zu täuschen. Wenn du es ihnen sagst, werden sie mich erst recht umbringen wollen. Nur Sucher lügen.«

Das Wort ließ ihn zusammenfahren.

»Aber ich weiß, dass du nicht lügst«, sagte er nach einem Augenblick.

Ich zuckte mit den Achseln.

»Ich werde nicht zulassen, dass sie sie umbringen.«

Seine Stimme klang wild entschlossen, obwohl sie nur so leise war wie ein Hauch. Der Gedanke, ihn mit in diese Angelegenheit - in meine Angelegenheit - hineinzuziehen, lähmte mich. Ich dachte an die Barbaren, bei denen er lebte. Würde ihn sein Alter vor den Menschen schützen, wenn er für mich eintrat? Ich bezweifelte es. Meine Gedanken wirbelten durcheinander und suchten nach einer Möglichkeit, ihn abzulenken, ohne seine Sturheit auf den Plan zu rufen.

Bevor ich irgendetwas sagen konnte, sprach Jamie bereits weiter; er war plötzlich ganz ruhig, als ob die Antwort offen vor ihm läge. »Jared wird etwas einfallen. Ihm fällt immer etwas ein.«

»Jared wird dir genauso wenig glauben. Er wird sich von allen am meisten aufregen.«

»Auch wenn er es nicht glaubt, wird er sie beschützen. Sicherheitshalber.«

»Wir werden sehen«, murmelte ich. Ich würde die passenden Sätze später finden, das Machtwort, das nicht wie ein Machtwort klang.

Jamie schwieg; er dachte nach. Schließlich ging sein Atem langsamer und sein Mund klappte auf. Ich wartete, bis ich sicher war, dass er fest schlief, dann kletterte ich über ihn hinweg und schob ihn ganz vorsichtig vom Boden aufs Bett. Er war schwerer als früher, aber es gelang mir trotzdem. Er wachte nicht auf.

Ich legte Jareds Kissen zurück an seinen Platz und streckte mich dann auf der Matte aus.

Ich war zu müde, um mir Sorgen darüber zu machen, was all dies morgen für Konsequenzen haben würde. Nur wenige Sekunden später war ich eingeschlafen.

Als ich wieder aufwachte, drang Sonnenlicht durch die Spalten in der Decke und jemand pfiff.

Das Pfeifen verstummte.

»Endlich«, brummte Jeb, als ich mit den Augen blinzelte.

Ich drehte mich auf die Seite, damit ich ihn ansehen konnte; als ich mich bewegte, rutschte Jamies Hand von meinem Arm. Irgendwann in der Nacht musste er sie nach mir ausgestreckt haben oder wohl eher nach seiner Schwester.

Jeb lehnte am steinernen Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. »Morgen«, sagte er. »Ausgeschlafen?«

Ich räkelte mich, beschloss, dass ich mich genügend ausgeruht fühlte, und nickte.

»Ach, komm, jetzt schweig mich doch nicht schon wieder an«, beklagte er sich missmutig.

»Entschuldigung«, murmelte ich. »Danke, ich habe gut geschlafen.«

Jamie wachte vom Geräusch meiner Stimme auf.

»Wanda?«, fragte er.

Es berührte mich auf geradezu lächerliche Weise, dass es mein alberner Spitzname war, den er im Halbschlaf sagte.

»Ja?«

Jamie blinzelte und strich sich die zerzausten Haare aus den Augen. »Oh, hi, Onkel Jeb.«

»Mein Zimmer war dir wohl nicht gut genug, was?«

»Du schnarchst so fürchterlich«, sagte Jamie und gähnte.

»Habe ich dir nicht bessere Manieren beigebracht?«, fragte ihn Jeb. »Seit wann lässt du einen Gast, und noch dazu eine Dame, auf dem Boden schlafen?«

Jamie setzte sich abrupt auf und sah sich verwirrt um. Er runzelte die Stirn.

»Mach ihm keine Vorwürfe«, erklärte ich Jeb. »Er hat darauf bestanden, die Matte zu nehmen. Ich habe ihn rüber gerollt, nachdem er eingeschlafen war.«

Jamie schnaubte. »Das hat Mel auch immer gemacht.«

Ich warf ihm einen warnenden Blick zu.

Jeb kicherte. Ich sah zu ihm auf. Genau wie gestern hatte sein Gesicht den Ausdruck einer lauernden Katze; einen Ausdruck der Befriedigung über ein gelöstes Rätsel. Er kam herein und trat gegen den Rand der Matratze.

»Du hast bereits die erste Stunde verpasst. Sharon wird deswegen bestimmt stinkig sein, also mach dich auf den Weg.«

»Sharon ist immer stinkig«, beklagte sich Jamie, stand aber trotzdem auf.

»Los jetzt, Junge.«

Jamie sah mich noch einmal an, dann drehte er sich um und verschwand im Gang.

»So«, sagte Jeb, sobald wir allein waren, »ich finde, dieser Babysitter-Quatsch hat schon viel zu lange gedauert. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Alle hier sind vielbeschäftigt - zu beschäftigt, um herumzusitzen und Wache zu spielen. Deshalb wirst du heute mit mir mitkommen müssen, während ich meine Arbeit erledige.«

Ich merkte, wie mir der Mund aufklappte.

Er schaute mich an, ohne zu lächeln.

»Sieh mich nicht so verschreckt an«, knurrte er. »Dir passiert schon nichts.« Er tätschelte sein Gewehr. »Mein Haus ist kein Ort für Babys.«

Darauf konnte ich nichts erwidern. Ich atmete dreimal schnell und tief durch und versuchte, meine Nerven zu beruhigen. Das Blut rauschte mir so laut in den Ohren, dass seine Stimme verglichen damit leise klang, als er weitersprach.

»Los, Wanda. Wir verschwenden unsere Zeit.«

Er drehte sich um und stürmte aus dem Zimmer.

Einen Moment lang stand ich wie erstarrt, dann folgte ich ihm hinaus. Er hatte nicht geblufft - er war bereits um die nächste Ecke verschwunden. Ich rannte hinter ihm her, entsetzt bei dem Gedanken, in diesem offensichtlich bewohnten Flügel in jemand anderen hineinzurennen. Ich holte ihn ein, bevor er die große Tunnelkreuzung erreichte. Er sah mich noch nicht mal an, als ich neben ihm langsamer wurde, um mich seinem Tempo anzupassen.

»Es wird Zeit, dass das nordöstliche Feld bepflanzt wird. Aber erst müssen wir die Erde auflockern. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dir die Hände schmutzig zu machen. Wenn wir fertig sind, sorge ich dafür, dass du Gelegenheit bekommst, dich zu waschen. Du hast es nötig.« Er schnüffelte übertrieben, dann lachte er.

Ich spürte, wie mein Nacken heiß wurde, ignorierte aber den letzten Satz. »Es macht mir nichts aus, mir die Hände schmutzig zu machen«, murmelte ich. Ich erinnerte mich, dass das nordöstliche Feld etwas abgelegen war. Vielleicht konnten wir dort alleine arbeiten.

Sobald wir die große Haupthöhle erreichten, begegneten wir immer mehr Menschen. Wie üblich starrten sie mich alle grimmig an. Mittlerweile erkannte ich die meisten von ihnen wieder; die Frau mittleren Alters mit dem langen, graumelierten Zopf, die ich gestern in der Bewässerungsgruppe gesehen hatte. Der kleine Mann mit dem dicken Bauch, dem dünnen, sandfarbenen Haar und den geröteten Wangen war auch dabei gewesen. Die durchtrainierte Frau mit der dunklen, karamellfarbenen Haut war die, die sich gerade gebückt hatte, um ihren Schuh zuzubinden, als ich das erste Mal tagsüber hierhergekommen war. Einer anderen dunkelhäutigen Frau mit dicken Lippen und müden Augen war ich bereits in der Küche begegnet, zusammen mit den beiden schwarzhaarigen Kindern - vielleicht war sie deren Mutter? Jetzt kamen wir an Maggie vorbei - sie funkelte Jeb böse an und kehrte mir demonstrativ den Rücken zu - und an einem blassen, krank aussehenden Mann mit weißen Haaren, den ich ganz bestimmt noch nicht gesehen hatte. Dann trafen wir Ian.

»Hey, Jeb«, sagte er gutgelaunt. »Was hast du vor?«

»Den Boden auf dem Östlichen Feld umgraben«, grunzte Jeb.

»Brauchst du Hilfe?«

»Wäre schon angebracht, wenn du dich ein bisschen nützlich machen würdest«, knurrte Jeb.

Ian fasste das als Zustimmung auf und schloss sich uns an. Seine Augen in meinem Rücken verursachten mir Gänsehaut.

Wir kamen an einem jungen Mann vorbei, der nicht viel älter als Jamie sein konnte - sein dunkles Haar stand über seiner olivfarbenen Stirn ab, als wäre es Stahlwolle.

»Hey, Wes«, begrüßte Ian ihn.

Wes sah schweigend zu, wie wir an ihm vorbeigingen. Ian lachte über seinen Gesichtsausdruck.

Wir begegneten Doc.

»Hey, Doc«, sagte Ian.

»Ian.« Der Doktor nickte. Er trug einen großen Teigklumpen in den Händen. Sein Hemd war mit dunklem Mehl bedeckt. »Morgen, Jeb. Morgen, Wanda.«

»Morgen«, antwortete Jeb.

Ich nickte unbehaglich.

»Bis dann«, sagte Doc und eilte mit seiner Last weiter.

»Wanda, hm?«, fragte Ian.

»Meine Idee«, erklärte ihm Jeb. »Ich finde, es passt zu ihr.«

»Interessant« war alles, was Ian sagte.

Schließlich erreichten wir das östliche Feld, wo all meine Hoffnungen sich zerschlugen.

Hier waren mehr Leute als in den Gängen - fünf Frauen und neun Männer. Sie alle unterbrachen ihre Arbeit und schauten mich böse an.

»Kümmer dich nicht um sie«, raunte Jeb mir zu.

Indem er seinen eigenen Rat befolgte, ging er zu einem Haufen an der nächstgelegenen Wand, auf dem verschiedene Gerätschaften wild durcheinanderlagen, steckte das Gewehr in den Gurt, den er um die Taille trug, und griff nach einem Pickel und zwei Spaten.

Ich fühlte mich ausgeliefert, jetzt, wo er so weit weg war. Ian stand nur einen Schritt hinter mir - ich konnte ihn atmen hören. Die anderen starrten mich mit ihren Gartengeräten in der Hand weiterhin wütend an. Es entging mir nicht, dass man mit den Hacken und Pickeln, mit denen sie auf die Erde einhackten, auch problemlos auf einen Körper einhacken konnte. In einigen ihrer Gesichter meinte ich zu erkennen, dass ich nicht die Einzige war, die diesen Gedanken hatte.

Jeb kam zurück und reichte mir einen Spaten. Ich griff nach dem glatten, abgenutzten Holzgriff und spürte sein Gewicht. Nachdem ich die blutrünstigen Blicke der Menschen gesehen hatte, war es schwierig, ihn nicht als Waffe zu betrachten. Der Gedanke gefiel mir nicht. Ich bezweifelte, dass ich ihn als solche verwenden könnte, und sei es auch nur, um einen Schlag abzuwehren.

Jeb gab Ian den Pickel. Das scharfe, geschwärzte Metall wirkte in seiner Hand tödlich. Ich musste meine ganze Willenskraft aufbringen, um nicht aus seiner Reichweite zu fliehen.

»Lasst uns die hintere Ecke übernehmen.«

Wenigstens brachte mich Jeb an den am wenigsten bevölkerten Platz in der langgestreckten, sonnigen Höhle. Er ließ Ian die steinharte Erde vor uns zerhacken, während ich die Erdklumpen wendete und er hinter uns mit der Spatenkante die Brocken in nutzbaren Boden zerstach.

Als ich den Schweiß über Ians helle Haut rinnen sah - bereits nach wenigen Sekunden in der sengenden Hitze des Spiegellichts hatte er sein Hemd ausgezogen - und Jebs keuchenden Atem hinter mir hörte, war mir klar, dass ich die leichteste Aufgabe hatte. Ich wünschte, ich hätte etwas Anstrengenderes zu tun, etwas, das mich von den Bewegungen der anderen Menschen ablenkte. Jede Regung ließ mich zusammenzucken.

Ians Part konnte ich nicht übernehmen - mir fehlten die kräftigen Arme und Rückenmuskeln, um den harten Boden aufzubrechen. Aber ich beschloss, so viel wie möglich von Jebs Aufgabe zu erledigen und die Brocken in kleinere Stücke zu zerhacken, bevor ich weiterging. Es half ein bisschen - es hielt meine Augen beschäftigt und machte mich so müde, dass ich mich aufs Durchhalten konzentrieren musste.

Gelegentlich brachte uns Ian Wasser. Es gab eine Frau - klein und blond, ich hatte sie gestern in der Küche gesehen -, die offenbar die Aufgabe hatte, die anderen mit Wasser zu versorgen, aber sie ignorierte uns. Ian brachte jedes Mal genug für uns drei mit. Ich fand seinen Sinneswandel in Bezug auf mich beunruhigend. War er wirklich nicht länger erpicht auf meinen Tod? Oder wartete er bloß auf eine gute Gelegenheit? Das Wasser schmeckte hier immer komisch - schwefelig und abgestanden -, aber jetzt kam mir der Geschmack verdächtig vor. Ich versuchte, meine Paranoia so gut es ging zu ignorieren.

Ich arbeitete hart genug, um meine Augen beschäftigt und meinen Verstand betäubt zu halten, und so bemerkte ich es gar nicht, als wir das Ende der letzten Reihe erreichten. Ich hörte erst auf, als Ian aufhörte. Er streckte sich, hob den Pickel mit beiden Händen über seinen Kopf und ließ seine Gelenke knacken. Ich schrak vor dem erhobenen Pickel zurück, aber er sah es nicht. Dann bemerkte ich, dass alle anderen auch aufgehört hatten. Ich sah die frisch umgegrabene Erde an, die sich gleichmäßig über die gesamte Fläche erstreckte, und stellte fest, dass das Feld fertig war.

»Gute Arbeit«, verkündete Jeb der Gruppe mit lauter Stimme. »Morgen säen und bewässern wir.«

Der Raum war erfüllt von leisem Geplauder und dem Klirren der Arbeitsgeräte, die wieder an der Wand aufgehäuft wurden. Manche Gespräche waren zwanglos, andere wegen meiner Anwesenheit noch immer angespannt. Ian streckte seine Hand nach meiner Schaufel aus und ich gab sie ihm. Meine sowieso schon gedrückte Stimmung sank noch weiter. Ich bezweifelte nicht, dass Jebs »wir« mich mit einschloss. Der morgige Tag würde genauso hart werden wie der heutige.

Ich sah Jeb trübsinnig an und er lächelte zu mir herüber. Sein Grinsen hatte etwas Spitzbübisches an sich, was mich vermuten ließ, dass er wusste, was ich dachte - und mein Unbehagen nicht nur erriet, sondern es sogar genoss.

Er zwinkerte mir zu, mein verrückter Freund. Mir wurde erneut bewusst, dass dies wohl das Beste war, was man von der Freundschaft mit einem Menschen erwarten konnte.

»Bis morgen, Wanda«, rief mir Ian vom anderen Ende der Höhle aus zu und lachte in sich hinein.

Alle starrten mich an.