Versucht
Ich stöhnte. Mein Kopf schwirrte und fühlte sich so an, als gehörte er nicht zu mir. Mir drehte sich der Magen um.
»Endlich«, murmelte jemand erleichtert. Ian. Natürlich. »Hunger?«
Ich dachte darüber nach und machte dann ein unfreiwilliges würgendes Geräusch.
»Oh. Vergiss es. Entschuldigung noch mal. Wir mussten es tun. Die Leute waren total … paranoid, als wir dich hinausgebracht haben.«
»Schon gut.« Ich seufzte.
»Willst du Wasser?«
»Nein.«
Ich öffnete die Augen und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Ich konnte durch die Spalten über mir zwei Sterne sehen. Es war immer noch Nacht. Oder schon wieder, ich wusste es nicht.
»Wo bin ich?«, fragte ich. Die Form der Spalten kam mir nicht bekannt vor. Ich hätte schwören können, bisher noch nie an diese Decke gestarrt zu haben.
»In deinem Zimmer«, sagte Ian.
Ich suchte in der Finsternis nach seinem Gesicht, konnte aber nur die dunkle Silhouette seines Kopfes erkennen. Mit den Fingern betastete ich die Unterlage, auf der ich lag; es war eine richtige Matratze. Unter meinem Kopf lag ein Kissen. Meine Hand berührte seine und er umfasste meine Finger, bevor ich sie wegziehen konnte.
»Wem gehört das Zimmer wirklich?«
»Dir.«
»Ian …«
»Es war bisher unseres - Kyles und meins. Kyle wird im Krankenflügel … festgehalten, bis über ihn entschieden wird. Ich kann bei Wes einziehen.«
»Ich nehme dir nicht dein Zimmer weg. Und was meinst du damit, ›bis über ihn entschieden wird‹?«
»Ich habe dir doch gesagt, es würde einen Prozess geben.«
»Wann?«
»Warum willst du das wissen?«
»Wenn ihr das wirklich tut, will ich dabei sein. Um zu erklären, was passiert ist.«
»Um zu lügen.«
»Wann?«, fragte ich erneut.
»Im Morgengrauen. Ich werde dich nicht hinbringen.«
»Dann gehe ich allein. Ich bin sicher, dass ich laufen kann, sobald mein Kopf aufhört, sich zu drehen.«
»Das würdest du wirklich tun, stimmt’s?«
»Ja. Es wäre ungerecht, mich nicht zu Wort kommen zu lassen.«
Ian seufzte. Er ließ meine Hand los und kam langsam auf die Füße. Ich konnte seine Gelenke knacken hören, als er sich aufrichtete. Wie lange hatte er in der Dunkelheit gesessen und darauf gewartet, dass ich aufwachte? »Ich komme gleich wieder. Dir mag es ja vielleicht nicht so gehen, aber ich bin kurz vorm Verhungern.«
»Es war eine lange Nacht für dich.«
»Ja.«
»Wenn es hell wird, werde ich nicht hier sitzen und auf dich warten.«
Er stieß ein freudloses Lachen aus. »Das glaube ich dir sofort. Also werde ich früher zurück sein und dir helfen da hinzukommen, wo du hinwillst.«
Er kippte eine der Türen vor dem Eingang zu seiner Höhle nach vorn, trat hinaus und ließ sie wieder zurückfallen. Ich runzelte die Stirn. Das konnte schwierig werden auf einem Bein. Ich hoffte, Ian kam wirklich rechtzeitig zurück.
Während ich auf ihn wartete, starrte ich zu den beiden Sternen hinauf und ließ meinen Kopf langsam wieder zur Ruhe kommen. Die menschlichen Medikamente waren wirklich nichts für mich. Mein Körper tat weh, aber das Schlingern in meinem Kopf war schlimmer.
Die Zeit verstrich langsam, aber ich schlief nicht ein. Ich hatte fast die ganzen letzten vierundzwanzig Stunden verschlafen. Wahrscheinlich hatte ich doch Hunger. Ich würde warten müssen, bis mein Magen sich beruhigt hatte, bevor ich sicher sein konnte.
Ian kam wie versprochen vor Anbruch der Morgendämmerung zurück.
»Geht es dir besser?«, fragte er, als er die Tür umrundete.
»Ich glaube schon. Ich habe allerdings meinen Kopf noch nicht bewegt.«
»Glaubst du, dass das Morphium dir so schlecht bekommt oder Melanies Körper?«
»Mel. Sie verträgt kaum ein Schmerzmittel. Das weiß sie, seit sie sich vor zehn Jahren das Handgelenk gebrochen hat.«
Er dachte einen Moment lang darüber nach. »Das ist so … seltsam. Es mit zwei Leuten gleichzeitig zu tun zu haben.«
»Sehr seltsam«, stimmte ich ihm zu.
»Hast du inzwischen Hunger?«
Ich lächelte. »Ich glaube, ich rieche Brot. Ja, ich denke, mein Magen hat das Schlimmste überstanden.«
»Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest.«
Sein Schatten ließ sich neben mir nieder. Er tastete nach meiner Hand, bog meine Finger auf und legte ein vertrautes rundes Brötchen hinein.
»Hilfst du mir auf?«, fragte ich.
Vorsichtig legte er mir den Arm um die Schultern und klappte meinen ganzen steifen Oberkörper hoch, um so den Schmerz in meiner Seite möglichst gering zu halten. Ich konnte dort etwas Fremdes auf der Haut spüren, fest und hart.
»Danke«, sagte ich ein wenig atemlos. In meinem Kopf drehte sich alles. Mit meiner freien Hand berührte ich vorsichtig meine Seite. Irgendetwas klebte unter dem Hemd auf meiner Haut. »Sind meine Rippen wirklich gebrochen?«
»Doc ist sich nicht sicher. Er tut, was er kann.«
»Er gibt sich solche Mühe.«
»Allerdings.«
»Es tut mir leid … dass ich ihn anfangs nicht mochte«, räumte ich ein.
Ian lachte. »Natürlich mochtest du ihn nicht. Ich wundere mich, dass du überhaupt irgendeinen von uns mögen kannst.«
»Es ist wohl eher umgekehrt«, murmelte ich und versenkte meine Zähne in das harte Brötchen. Ich kaute mechanisch und schluckte. Dabei legte ich das Brötchen wieder hin, um abzuwarten, wie der Bissen in meinem Magen ankam.
»Nicht besonders lecker, ich weiß«, sagte Ian.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich will nur erst ausprobieren, ob die Übelkeit wirklich weg ist.«
»Vielleicht willst du lieber etwas Attraktiveres …«
Ich sah ihn neugierig an, konnte aber sein Gesicht nicht sehen. Ein lautes Knistern und ein reißendes Geräusch waren zu hören … und dann roch ich es und begriff.
»Käsecracker!«, rief ich. »Wirklich? Für mich?«
Etwas berührte meine Lippen und ich biss in die Delikatesse, die er mir anbot.
»Davon habe ich geträumt«, seufzte ich kauend.
Er musste lachen und drückte mir die Tüte in die Hand.
Ich leerte die kleine Tüte schnell und aß dann mein Brötchen auf, das von dem Käsegeschmack, den ich immer noch im Mund hatte, gewürzt wurde. Er reichte mir eine Flasche Wasser, bevor ich danach fragen konnte.
»Danke. Nicht nur für die Käsecracker, weißt du. Für so vieles.«
»Das ist mehr als gern geschehen, Wanda.«
Ich sah ihm in die dunkelblauen Augen und versuchte zu dechiffrieren, was er alles mit diesem Satz ausdrückte - die Worte schienen mehr als nur höflich gemeint zu sein. Und dann fiel mir auf, dass ich die Farbe von Ians Augen erkennen konnte; ich warf einen schnellen Blick zu den Spalten hoch. Die Sterne waren verschwunden und der Himmel färbte sich blassgrau. Die Dämmerung brach an. Das Morgengrauen.
»Bist du sicher, dass du das tun musst?«, fragte Ian mit bereits halb ausgestreckten Händen, wie um mich hochzuheben.
Ich nickte. »Du musst mich nicht tragen. Meinem Bein geht es schon besser.«
»Wir werden sehen.«
Er half mir auf, wobei er meine Taille umfasste und sich meinen Arm um den Nacken legte.
»Ganz vorsichtig. Wie geht das?«
Ich humpelte einen Schritt nach vorn. Es tat weh, aber es ging. »Großartig. Gehen wir.«
Ich finde, dass Ian dich zu sehr mag.
Zu sehr? Ich war überrascht, Melanie zu hören, und noch dazu so deutlich. In letzter Zeit hatte sie nur so laut gesprochen, wenn Jared in der Nähe war.
Ich bin schließlich auch noch hier. Interessiert ihn das überhaupt?
Natürlich interessiert ihn das. Er glaubt uns mehr als Jederandere außer Jamie oder Jeb.
Das meine ich nicht.
Was meinst du dann?
Aber sie war weg.
Wir brauchten lange. Es überraschte mich, wie weit der Weg war. Ich hatte gedacht, wir würden zum großen Platz oder in die Küche gehen - zu einem der üblichen Versammlungsorte. Aber wir durchquerten das östliche Feld und gingen immer weiter, bis wir schließlich die große, stockdunkle Höhle erreichten, die Jeb die Sporthalle genannt hatte. Seit meinem ersten Rundgang war ich nicht mehr hier gewesen. Der stechende Geruch der Schwefelquelle schlug mir entgegen.
Im Unterschied zu den meisten anderen Höhlen war die Sporthalle viel breiter als hoch; das konnte ich jetzt erkennen, weil die gedämpften blauen Lichter von der Decke hingen, anstatt auf dem Boden zu stehen. Die Decke war nicht allzu weit von meinem Kopf entfernt, so hoch wie eine Decke in einem normalen Haus. Aber die gegenüberliegenden Wände konnte ich noch nicht einmal sehen, so weit waren sie von den Lichtern entfernt. Ich konnte auch die stinkende Quelle nicht sehen, die sich in irgendeiner abgelegenen Ecke verbarg, aber ich hörte sie plätschern.
Kyle saß an der hellsten Stelle. Er hatte seine langen Arme um die Knie geschlungen und eine unbewegliche Miene aufgesetzt. Er sah nicht auf, als Ian mir half, hereinzuhumpeln.
Jared und Doc standen auf beiden Seiten neben ihm, ihre Arme hingen in Wartestellung herab. Als wären sie … Wachen.
Jeb stand neben Jared, das Gewehr über eine Schulter gehängt. Er wirkte gelassen, aber ich wusste, wie schnell sich das ändern konnte. Jamie hielt seine freie Hand … nein, Jeb hatte seine Hand um Jamies Handgelenk geschlossen und Jamie schien nicht glücklich darüber zu sein. Als er mich hereinkommen sah, lächelte er jedoch und winkte. Er atmete tief durch und sah Jeb vielsagend an. Jeb ließ Jamies Handgelenk los.
Sharon stand neben Doc und Tante Maggie auf ihrer anderen Seite.
Ian führte mich an den Rand der Dunkelheit, die die Szenerie umgab. Wir waren dort nicht allein. Ich konnte die Umrisse vieler anderer sehen, aber nicht ihre Gesichter.
Es war seltsam; auf unserem Weg durch die Höhlen hatte Ian mit Leichtigkeit einen Großteil meines Gewichts getragen. Jetzt schien er dagegen erschöpft zu sein. Sein Arm um meine Taille war erschlafft. Ich schlurfte und humpelte, so gut ich konnte, vorwärts bis er einen Platz für uns ausgesucht hatte. Er half mir, mich auf dem Boden niederzulassen, und setzte sich dann neben mich.
»Autsch«, hörte ich jemanden flüstern.
Ich drehte mich um und konnte Trudy gerade so eben erkennen. Sie rutschte näher an uns heran, gefolgt von Geoffrey und dann Heath.
»Du siehst furchtbar aus«, sagte sie. »Bist du schwer verletzt?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Mir geht es gut.« Ich begann mich zu fragen, ob Ian mich absichtlich hatte humpeln lassen, um meine Verletzungen vorzuführen - und mich so wortlos gegen Kyle aussagen zu lassen. Ich runzelte die Stirn, aber er machte ein unschuldiges Gesicht.
Dann kamen Wes und Lily und setzten sich zu unserer kleinen Gruppe von Verbündeten. Ein paar Sekunden später traf Brandt ein, dann Heidi und dann Andy und Paige. Aaron war der Letzte.
»Wir sind vollzählig«, sagte er. »Lucina bleibt bei ihren Kindern. Sie will sie nicht dabeihaben und hat gesagt, wir sollen ohne sie anfangen.«
Aaron setzte sich neben Andy und es herrschte ein kurzer Moment des Schweigens.
»Also dann«, sagte Jeb mit lauter Stimme, damit alle ihn hören konnten. »Das hier wird folgendermaßen ablaufen: Es gibt eine echte Mehrheitsentscheidung. Wie üblich fasse ich einen abweichenden Entschluss, wenn ich ein Problem mit der Mehrheit habe, denn das hier …«
»… ist mein Haus«, riefen mehrere Stimmen dazwischen. Irgendjemand kicherte, aber hörte sofort wieder auf. Das, was hier stattfand, war nicht lustig. Ein Mensch stand vor Gericht, weil er versucht hatte, eine Außerirdische umzubringen. Es musste ein furchtbarer Tag für sie alle sein.
»Wer hat etwas gegen Kyle vorzubringen?«, fragte Jeb.
Ian neben mir machte Anstalten aufzustehen.
»Nein!«, flüsterte ich und zog ihn am Ellbogen.
Er schüttelte mich ab und richtete sich auf.
»Die Sache ist ganz einfach«, sagte Ian. Ich wollte aufspringen und ihm den Mund zuhalten, aber ich bezweifelte, dass ich ohne Hilfe auf die Beine käme. »Mein Bruder ist gewarnt worden. Er war sich über Jebs Regel diesbezüglich vollkommen im Klaren. Wanda gehört zu unserer Gemeinschaft - für sie gelten dieselben Regeln und Schutzvorschriften wie für uns alle. Jeb hat Kyle klipp und klar gesagt, dass er abhauen soll, wenn er mit ihr hier nicht leben kann. Kyle hat beschlossen zu bleiben. Er kannte und er kennt die Strafe, die an diesem Ort auf Mord steht.«
»Es lebt noch«, knurrte Kyle.
»Weshalb ich auch nicht deinen Tod fordere«, giftete Ian zurück. »Aber du kannst nicht länger hier leben. Nicht, wenn du im Herzen ein Mörder bist.«
Ian sah seinen Bruder einen Moment an, dann setzte er sich wieder neben mich auf den Boden.
»Aber er könnte geschnappt werden und wir würden es nicht erfahren«, protestierte Brandt und stand auf. »Er würde sie hierherführen und niemand würde uns warnen …«
Gemurmel erhob sich im Raum.
Kyle funkelte Brandt an. »Die kriegen mich niemals lebend.«
»Dann ist es also doch ein Todesurteil«, murmelte jemand. Gleichzeitig sagte Andy: »Das kannst du nicht wissen.«
»Einer nach dem anderen«, mahnte Jeb.
»Ich habe auch vorher schon draußen überlebt«, sagte Kyle wütend.
Eine andere Stimme ertönte aus der Dunkelheit. »Es ist aber ein Risiko.« Ich konnte die Besitzer der Stimmen nicht erkennen - ich hörte nur ein flüsterndes Zischen.
Und wieder eine. »Was hat Kyle denn verbrochen? Nichts!«
Jeb machte mit finsterem Gesicht einen Schritt auf die Stimme zu. »Meine Regeln.«
»Sie ist keine von uns«, protestierte jemand anders.
Ian begann sich erneut aufzurichten.
»Hey!«, explodierte Jared. Seine Stimme war so laut, dass alle zusammenfuhren. »Nicht Wanda steht hier vor Gericht! Hat jemand einen konkreten Vorwurf gegen sie - gegen Wanda selbst? Dann beantragt eine andere Ratssitzung. Aber wir alle wissen, dass sie niemandem hier etwas zuleide getan hat. Im Gegenteil, sie hat ihm das Leben gerettet.« Er deutete mit dem Finger auf Kyles Rücken. Kyles Schultern sackten zusammen, als hätte er den Stich gespürt. »Nur Sekunden nachdem er versucht hatte, sie in den Fluss zu werfen, hat sie ihr Leben riskiert, um ihn vor demselben furchtbaren Tod zu bewahren. Sie wusste, dass sie hier sicherer wäre, wenn sie ihn fallen ließe. Sie hat ihn trotzdem gerettet. Hätte irgendjemand von euch dasselbe getan - euren Feind gerettet? Er hat versucht sie umzubringen - sagt sie auch nur gegen ihn aus?«
Ich spürte, wie alle Blicke in dem dunklen Raum auf mir ruhten, als Jared jetzt mit seiner offenen Hand auf mich deutete.
»Wirst du gegen ihn aussagen, Wanda?«
Ich starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, fassungslos, dass er sich für mich aussprach, dass er mich ansprach, dass er meinen Namen sagte. Melanie war ebenfalls geschockt, zwiegespalten. Sie war überglücklich, dass er uns freundlich ansah, mit einer Sanftheit in den Augen, die so lange verschwunden gewesen war. Aber es war mein Name, den er nannte …
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich meine Sprache wiedergefunden hatte.
»Das ist alles ein Missverständnis«, flüsterte ich. »Wir sind beide gestürzt, als der Boden eingebrochen ist. Sonst ist nichts passiert.« Ich hoffte, dass das Flüstern es schwerer machen würde, die Lüge aus meiner Stimme herauszuhören, aber sobald ich geendet hatte, gluckste Ian. Ich stieß ihm meinen Ellbogen in die Seite, aber das brachte ihn nicht zum Verstummen.
Jared lächelte mich an. »Seht ihr? Sie versucht sogar zu seiner Verteidigung zu lügen.«
»Versucht ist das richtige Wort«, fügte Ian hinzu.
»Wer sagt, dass es lügt? Wer kann das beweisen?«, fragte Maggie schroff und trat nach vorn auf den leeren Platz neben Kyle. »Wer kann beweisen, dass es nicht die Wahrheit ist, die aus diesem Mund so falsch klingt?«
»Mag …«, begann Jeb.
»Sei still, Jebediah … jetzt rede ich. Es gibt eigentlich keinen Grund, warum wir hier sind. Kein Mensch ist angegriffen worden. Der Eindringling hat sich nicht beschwert. Das hier ist Zeitverschwendung.«
»Ich bin ganz ihrer Meinung«, fügte Sharon laut und deutlich hinzu.
Doc warf ihr einen schmerzlichen Blick zu.
Trudy sprang auf. »Wir können doch keinen Mörder beherbergen - und einfach abwarten, bis er Erfolg hat!«
»Mord ist subjektiv«, zischte Maggie. »Für mich ist es nur Mord, wenn ein menschliches Wesen umgebracht wird.«
Ich spürte, wie Ian mir den Arm um die Schultern legte. Ich merkte nicht, dass ich zitterte, bis sein Körper sich an meinen lehnte.
»Was ein menschliches Wesen ist, ist ebenfalls subjektiv, Magnolia«, sagte Jared und funkelte sie an. »Ich dachte, der Begriff umfasse ein wenig Mitleid, ein kleines bisschen Gnade.«
»Lasst uns abstimmen«, sagte Sharon, bevor ihre Mutter ihm antworten konnte. »Hebt die Hand, wenn ihr findet, dass Kyle hierbleiben darf, und zwar ohne Strafe für das … Missverständnis.« Sie warf zwar nicht mir, aber Ian einen Blick zu, als sie denselben Begriff benutzte wie ich vorher.
Hände gingen in die Höhe. Ich beobachtete, wie Jared eine missmutige Miene aufsetzte. Auch ich versuchte, meine Hand zu heben, aber Ian hielt meine Arme fest und schnaubte irritiert durch die Nase. Ich hielt meine Handfläche so hoch, wie ich konnte, aber am Ende war meine Stimme gar nicht nötig.
Jeb zählte laut.
»Zehn … fünfzehn … zwanzig … dreiundzwanzig. Okay, das ist eine deutliche Mehrheit.«
Ich blickte nicht auf, um nachzusehen, wer wie abgestimmt hatte, aber ich sah, dass in meiner kleinen Ecke alle Arme fest verschränkt und alle Blicke erwartungsvoll auf Jeb gerichtet waren.
Jamie löste sich von Jebs Seite und quetschte sich zwischen Trudy und mich. Er legte seinen Arm um mich, unter Ians.
»Vielleicht hatten deine Seelen Recht, was uns betrifft«, sagte er laut genug, dass die meisten seine hohe, harte Stimme hören konnten. »Die große Mehrheit der Menschen ist nicht besser als …«
»Psst!«, zischte ich ihn an.
»Okay«, sagte Jeb. Alle schwiegen. Jeb sah auf Kyle hinunter, dann sah er mich an und dann Jared. »Okay, ich glaube, ich werde mich in dieser Sache der Mehrheit anschließen.«
»Jeb …«, sagten Jared und Ian gleichzeitig.
»Mein Haus, meine Regeln«, erinnerte Jeb sie. »Vergesst das nie. Und deshalb hör mir jetzt zu, Kyle. Und ich denke, du besser auch, Magnolia. Jeder, der noch einmal versucht, Wanda etwas zu tun, bekommt keinen Prozess, sondern ein Begräbnis.« Er tätschelte den Kolben seines Gewehrs zur Bekräftigung.
Ich zuckte zusammen.
Magnolia starrte ihren Bruder hasserfüllt an.
Kyle nickte, als akzeptiere er die Bedingungen.
Jeb sah sich in der verstreuten Menge um und fixierte jeden Einzelnen außer der kleinen Gruppe neben mir.
»Die Sitzung ist hiermit beendet«, verkündete er dann. »Wer hat Lust auf ein Spiel?«