Berührt
»Was ich denke? Worüber?«
»Über unsere … Diskussion da draußen«, erläuterte Ian.
Was dachte ich darüber? Ich wusste es selbst nicht.
Ian war irgendwie in der Lage, die Dinge aus meiner Perspektive zu sehen, aus meiner außerirdischen Perspektive. Er fand, dass ich das Recht auf ein eigenes Leben hatte.
Aber war er wirklich eifersüchtig? Auf Jared?
Er wusste, was ich war. Er wusste, dass ich nur ein winziges, hinten an Melanies Gehirn angeschlossenes Wesen war. Ein Wurm, wie Kyle mich genannt hatte. Trotzdem glaubte sogar Kyle, dass Ian in mich »verknallt« war. In mich? Das war unmöglich.
Oder wollte er meine Meinung über Jared wissen? Meine Gefühle bezüglich seines Experiments? Mehr Einzelheiten über meine Reaktion auf Körperkontakt? Ich schauderte.
Oder meine Gedanken über Melanie? Melanies Gedanken über ihr Gespräch? Oder ob ich Jareds Meinung war, was ihre Rechte anging?
Ich wusste nicht, was ich dachte. Egal worüber.
»Ich weiß es einfach nicht«, sagte ich.
Er nickte nachdenklich. »Das ist verständlich.«
»Nur, weil du sehr verständnisvoll bist.«
Er lächelte mich an. Es war eigenartig, wie seine Augen einen sowohl versengen als auch wärmen konnten. Und das, obwohl sie eher die Farbe von Eis hatten als von Feuer … Im Moment waren sie ziemlich warm.
»Ich mag dich sehr, Wanda.«
»Das wird mir jetzt erst so langsam bewusst. Ich glaube, ich bin ein bisschen schwer von Begriff.«
»Für mich kommt es auch überraschend.«
Wir dachten beide darüber nach.
Er kräuselte die Lippen. »Und … ich nehme an, das ist einer der Sachen, bei denen du nicht weißt, was du dabei fühlst?«
»Nein. Ich meine, ja, ich weiß es … nicht. Ich … ich …«
»Schon okay. Du hattest noch nicht besonders viel Zeit, um darüber nachzudenken. Und es muss dir … komisch vorkommen.«
Ich nickte. »Ja. Mehr als das. Unmöglich.«
»Kann ich dich was fragen?«, sagte Ian nach einer Weile.
»Wenn ich die Antwort weiß.«
»Es ist keine schwierige Frage.«
Er stellte sie nicht sofort. Stattdessen streckte er den Arm aus und nahm meine Hand. Er hielt sie einen Moment lang zwischen seinen Händen und fuhr dann mit den Fingern seiner linken Hand langsam meinen Arm hinauf, vom Handgelenk bis zur Schulter. Genauso langsam fuhr er wieder zurück. Er blickte mir nicht ins Gesicht, sondern auf die Haut an meinem Arm, auf der sich eine Gänsehaut bildete, wo seine Finger entlangstrichen.
»Fühlt sich das gut oder schlecht an?«, fragte er.
Schlecht, behauptete Melanie.
Es tut doch gar nicht weh, protestierte ich.
Das hat er nicht gemeint. Wenn er gut sagt … o Mann, das ist als würde man mit einem kleinen Kind reden!
Denk daran, ich bin noch nicht mal ein Jahr alt. Oder bin ich das inzwischen? Der Versuch, mich an das Datum zu erinnern, lenkte mich ab.
Melanie war nicht abgelenkt. Gut heißt für ihn, dass es sich genauso anfühlt, wie wenn Jared uns berührt. Die Erinnerung, die sie mir zeigte, stammte nicht aus den Höhlen. Es war ein Sonnenuntergang in dem zauberhaften Canyon. Jared stand hinter ihr und fuhr mit seinen Händen ihre Arme von den Schultern bis zu den Handgelenken entlang. Ich schauderte bei dem Genuss, den mir diese schlichte Berührung verursachte. So.
Oh.
»Wanda?«
»Melanie findet, ›schlecht‹«, flüsterte ich.
»Und was findest du?«
»Ich finde … Ich weiß es nicht.«
Als ich ihm in die Augen sehen konnte, strahlten sie mehr Wärme ab, als ich erwartet hatte. »Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, wie verwirrend das alles für dich sein muss.«
Es tat gut, dass er es verstand. »Ja. Ich bin verwirrt.«
Seine Hand strich immer noch über meinen Arm.
»Möchtest du, dass ich aufhöre?«
Ich zögerte. »Ja«, entschied ich. »Das … was du da tust … macht es schwierig für mich, nachzudenken. Und Melanie ist … wütend auf mich. Das macht es auch schwierig, nachzudenken.«
Ich bin nicht wütend auf dich. Sag ihm, er soll verschwinden.
Ian ist mein Freund. Ich will nicht, dass er verschwindet.
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich nehme nicht an, dass sie uns mal eine Minute lang allein lassen würde?«
Ich lachte. »Ich bezweifle es.«
Ian legte mit nachdenklicher Miene den Kopf schräg.
»Melanie Stryder?«, sprach er sie an.
Wir erschraken beide beim Klang ihres Namens.
Ian fuhr fort: »Ich würde gerne allein mit Wanda sprechen, wenn es dir nichts ausmacht. Ließe sich das einrichten?«
Ich glaub, ich spinne! Sag ihm, dass ich gesagt habe, es kommt überhaupt nicht in Frage! Ich kann diesen Kerl einfach nicht ausstehen.
Ich rümpfte die Nase.
»Was hat sie gesagt?«
»Sie hat Nein gesagt.« Ich versuchte meine Stimme, so freundlich wie möglich klingen zu lassen. »Und dass sie dich … nicht leiden kann.«
Ian lachte. »Ich respektiere das. Ich respektiere sie. Na ja, einen Versuch war es wert.« Er seufzte. »Es setzt den Dingen irgendwie einen Dämpfer auf, wenn immer jemand zuhört.«
Was für Dingen?, knurrte Mel.
Ich schnitt eine Grimasse. Ich mochte ihre Wut nicht. Sie war so viel heftiger als meine.
Gewöhn dich daran.
Ian nahm mein Gesicht in seine Hand. »Ich lasse dich darüber nachdenken, okay? Dann kannst du herausfinden, was du fühlst.«
Ich versuchte, die Hand objektiv wahrzunehmen. Sie fühlte sich an meinem Gesicht weich an. Sie fühlte sich … gut an. Nicht so, wie wenn Jared mich berührte. Aber auch nicht so, wie es sich anfühlte, wenn Jamie mich umarmte. Anders.
»Das kann eine Weile dauern. Es ist alles so verrückt, weißt du«, erklärte ich ihm.
Er grinste. »Ich weiß.«
Als er lächelte, wurde mir klar, dass ich gerne wollte, dass er mich mochte. Über den Rest - seine Hand auf meinem Gesicht, seine Finger auf meinem Arm - war ich mir nicht im Klaren. Aber ich wollte, dass er mich mochte und Gutes von mir dachte. Und deswegen war es schwierig, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Du bringst nicht mir diese Gefühle entgegen, weißt du«, flüsterte ich. »Es ist dieser Körper … Sie ist hübsch, oder?«
Er nickte. »Das ist sie. Melanie ist ein sehr hübsches Mädchen. Eine Schönheit.« Seine Hand berührte meine verletzte Wange und streichelte die raue, aufgeschürfte Haut mit sanften Fingern. »Obwohl ich ihr Gesicht so zugerichtet habe.«
Normalerweise hätte ich das sofort abgestritten. Ihn daran erinnert, dass die Verletzungen in meinem Gesicht nicht sein Fehler waren. Aber ich war so verwirrt, dass mir der Kopf schwirrte und ich nicht in der Lage war, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.
Warum machte es mir etwas aus, dass er Melanie schön fand?
Das frage ich mich auch. Sie war sich genauso wenig über meine Gefühle im Klaren wie ich.
Er strich mir das Haar aus der Stirn.
»Aber so hübsch sie auch ist, sie ist mir fremd. Sie bedeutet mir nichts.«
Jetzt fühlte ich mich besser. Was nur noch verwirrender war.
»Ian, du … niemand hier unterscheidet uns wirklich. Weder du noch Jamie noch Jeb.« Die Wahrheit sprudelte aus mir heraus, hitziger als geplant. »Ich kann dir nichts bedeuten. Wenn du mich an der Hand halten könntest, mich, wärst du angewidert. Du würdest mich auf die Erde werfen und unter deinem Fuß zerquetschen.«
Seine blasse Stirn legte sich in Falten, als sich seine schwarzen Brauen zusammenzogen. »Nicht, wenn ich wüsste, dass du es bist.«
Ich lachte bitter. »Und woher würdest du das bitte wissen wollen? Du könntest uns nicht auseinanderhalten.«
Seine Mundwinkel zogen sich nach unten.
»Es ist nur der Körper«, wiederholte ich.
»Das stimmt überhaupt nicht«, widersprach er mir. »Es geht nicht um das Gesicht, sondern um den Ausdruck darin. Es geht nicht um die Stimme, sondern um das, was du sagst. Es geht nicht darum, wie du in diesem Körper aussiehst, sondern darum, was du damit machst. Du bist schön.«
Er rutschte nach vorn, während er sprach, kniete sich neben das Bett, auf dem ich lag, und nahm meine Hand wieder zwischen seine.
»Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen.«
Ich seufzte.
»Ian, was, wenn ich in Magnolias Körper hergekommen wäre?«
Er verzog das Gesicht und lachte dann. »Okay. Gute Frage. Ich weiß es nicht.«
»Oder in Wes’?«
»Aber du bist weiblich - du selbst.«
»Und ich bitte auf jedem Planeten um einen Körper, der dem entspricht. Es kommt mir … richtiger vor. Aber man könnte mich auch in einen Mann einsetzen und es würde genauso gut funktionieren.«
»Aber du steckst nicht im Körper eines Mannes.«
»Siehst du. Darauf will ich ja hinaus. Körper und Seele. Das sind in meinem Fall zwei verschiedene Dinge.«
»Ich würde deinen Körper ohne dich nicht wollen.«
»Du würdest mich nicht ohne ihn wollen.«
Er berührte erneut meine Wange und ließ seine Hand dort liegen, seinen Daumen unter meinem Kiefer. »Aber dieser Körper ist auch ein Teil von dir. Er ist ein Teil von dem, was du bist. Und solange du nicht deine Meinung änderst und uns alle auffliegen lässt, ist er das, was du für immer sein wirst.«
Ah, diese Endgültigkeit. Ja, ich würde in diesem Körper sterben. Endgültig sterben.
Und ich werde nie wieder in ihm leben, flüsterte Melanie.
So haben wir uns unsere Zukunft beide nicht vorgestellt, was?
Nein. Keine von uns hat geplant, keine Zukunft zu haben.
»Wieder mal ein internes Gespräch?«, vermutete Ian.
»Wir denken über unsere Sterblichkeit nach.«
»Du könntest für immer leben, wenn du uns verlassen würdest.«
»Ja, könnte ich.« Ich seufzte. »Weißt du, Menschen haben von allen Spezies, die ich je gewesen bin, die kürzeste Lebensspanne - außer den Spinnen. Ihr habt so wenig Zeit.«
»Glaubst du dann nicht …«, Ian brach ab und beugte sich näher zu mir, so dass ich nichts außer seinem Gesicht sehen konnte, nur Schnee und Saphire und Ebenholz, »… dass du vielleicht das Beste aus der Zeit, die du hast, machen solltest? Dass du leben solltest, solange du lebst?«
Ich sah es nicht kommen, so wie bei Jared. Ian war mir nicht vertraut. Melanie erkannte vor mir, was er tun würde, nur eine Sekunde bevor seine Lippen die meinen berührten.
Nein!
Es war nicht wie bei Jareds Kuss. Bei Jared gab es keine Gedanken mehr, bloß Verlangen. Keine Kontrolle. Ein Funke auf Benzin - unausweichlich. Bei Ian wusste ich nicht einmal, was ich fühlte. Alles war verschwommen und durcheinander.
Seine Lippen waren weich und warm. Er drückte sie nur leicht auf meine und strich dann mit ihnen über meinen Mund.
»Gut oder schlecht?«, flüsterte er, seine Lippen auf meinen.
Schlecht, schlecht, schlecht!
»Ich … ich kann nicht denken.« Als ich meine Lippen beim Sprechen bewegte, bewegte er seine mit.
»Das klingt … gut.«
Jetzt drückte er seinen Mund fester auf meinen. Er nahm meine Unterlippe zwischen seine Lippen und zupfte sanft daran.
Melanie wollte ihn schlagen - viel dringender, als sie Jared hatte schlagen wollen. Sie wollte ihn wegstoßen und ihm dann ins Gesicht treten. Die Vorstellung war grauenhaft. Sie stand in völligem Widerspruch zu dem Gefühl, das Ians Kuss in mir auslöste.
»Bitte«, flüsterte ich.
»Ja?«
»Bitte hör auf. Ich kann nicht denken. Bitte.«
Er zog sich sofort zurück und verschränkte die Hände. »Okay«, sagte er schüchtern.
Ich presste mir die Handflächen vors Gesicht und wünschte, ich könnte Melanies Wut wegdrücken.
»Na, immerhin hat mich niemand geschlagen«, sagte Ian und grinste.
»Sie hätte am liebsten mehr als das getan. Ich hasse es, wenn sie zornig ist. Davon tut mir der Kopf weh. Wut ist etwas so … Hässliches.«
»Warum hat sie es nicht getan?«
»Weil ich die Kontrolle nicht verloren habe. Sie kann nur ausbrechen, wenn ich … außer mir bin.«
Er beobachtete mich, während ich meine Stirn knetete
Beruhige dich, bat ich sie. Er fasst mich überhaupt nicht an.
Hat er vergessen, dass ich hier bin? Interessiert ihn das überhaupt? Das hier bin immer noch ich!
Ich habe versucht, es ihm zu erklären.
Und was ist mit dir? Hast du Jared schon vergessen?
Sie feuerte Erinnerungen auf mich ab, so wie sie es zu Anfang getan hatte, nur dass sie diesmal wie Hiebe waren. Tausend Schläge seines Lächelns, seiner Augen, seiner Lippen auf meinen, seiner Hände auf meiner Haut …
Natürlich nicht. Hast du vergessen, dass du nicht willst, dass ich ihn liebe?
»Sie spricht mit dir.«
»Sie schreit mich an«, berichtigte ich.
»Das kann ich jetzt erkennen. Ich kann sehen, wie du dich auf das Gespräch konzentrierst. Das ist mir bis heute nie aufgefallen.«
»Sie ist nicht immer so laut.«
»Es tut mir wirklich leid, Melanie«, sagte er. »Ich weiß, dass das unmöglich für dich sein muss.«
Sie stellte sich erneut vor, wie ihr Fuß seine wohlgeformte Nase zerschmetterte und sie so krumm zurückließ wie Kyles. Sag ihm, ich will seine Entschuldigungen nicht hören.
Ich zuckte zusammen.
Ian lächelte gequält. »Sie nimmt meine Entschuldigung nicht an.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das heißt also, sie kann ausbrechen? Wenn du außer dir bist?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Manchmal, wenn sie mich überrascht und ich von meinen … Gefühlen überwältigt werde. Gefühle stören die Konzentration. Aber in letzter Zeit ist es schwerer für sie. Als wäre die Tür zwischen uns verschlossen. Ich weiß nicht, warum. Ich habe richtig versucht, sie rauszulassen, als Kyle …« Ich brach abrupt ab und biss die Zähne zusammen.
»Als Kyle versucht hat dich umzubringen«, beendete er nüchtern den Satz. »Da wolltest du sie rauslassen? Warum?«
Ich sah ihn nur an.
»Um gegen ihn zu kämpfen?«
Ich antwortete nicht.
Er seufzte. »Okay. Dann eben nicht. Was glaubst du, warum die … Tür verschlossen ist?«
Ich runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Vielleicht einfach, weil die Zeit fortschreitet… Es beunruhigt uns beide auch.«
»Aber sie ist schon mal ausgebrochen, um Jared zu schlagen.«
»Ja.« Ich schauderte bei der Erinnerung an meine Faust, die gegen seinen Kiefer gedonnert war.
»Weil du außer dir warst und von deinen Gefühlen überwältigt?«
»Ja.«
»Was hat er gemacht? Dich einfach nur geküsst?«
Ich nickte.
Ians Augen wurden schmal.
»Was?«, fragte ich. »Was ist los?«
»Wenn Jared dich küsst, bist du … von deinen Gefühlen überwältigt.«
Ich sah ihn an und sein Gesichtsausdruck beunruhigte mich. Melanie genoss ihn. Ganz genau!
Er seufzte. »Und wenn ich dich küsse … bist du nicht sicher, ob du das magst. Du bist nicht … überwältigt.«
»Oh.« Ian war eifersüchtig. Was für eine seltsame Welt dies doch war. »Tut mir leid.«
»Das muss dir nicht leidtun. Ich habe dir ja gesagt, ich würde dir Zeit lassen, und es macht mir nichts aus, abzuwarten, bis du darüber nachgedacht hast. Es macht mir überhaupt nichts aus.«
»Was macht dir dann was aus?« Denn irgendetwas gab es da offenbar.
Er holte tief Luft und ließ sie langsam wieder herausströmen. »Ich habe gemerkt, wie sehr du Jamie liebst. Das war immer ganz offensichtlich. Wahrscheinlich hätte ich merken müssen, dass du Jared auch liebst. Vielleicht wollte ich es nicht wahrhaben. Aber es ist natürlich logisch. Du bist wegen den beiden hergekommen. Du liebst sie beide, genau wie Melanie. Jamie wie einen Bruder. Und Jared …«
Er wandte den Blick ab und starrte die Wand über mir an. Ich musste auch wegschauen und sah auf einen Sonnenstrahl auf der roten Tür.
»Wie viel davon ist Melanie?«, wollte er wissen.
»Ich weiß es nicht. Spielt das eine Rolle?«
Ich konnte seine Antwort kaum hören. »Ja. Für mich schon.« Ohne mich anzusehen oder überhaupt zu bemerken, was er da tat, nahm Ian wieder meine Hand.
Eine ganze Weile war es sehr still. Sogar Melanie war still. Das war schön.
Dann, als wäre ein Schalter umgelegt worden, war Ian wieder ganz er selbst. Er lachte.
»Die Zeit ist auf meiner Seite«, sagte er grinsend. »Wir haben hier drin noch den Rest unseres Lebens vor uns. Eines Tages wirst du dich fragen, was du je in Jared gesehen hast.«
Träum weiter.
Ich lachte mit ihm, glücklich, dass er wieder Witze machte.
»Wanda? Wanda, kann ich reinkommen?«
Jamies Stimme war schon vom Anfang des Gangs her zu hören und dann, begleitet vom Geräusch seiner laufenden Schritte, direkt vor der Tür.
»Natürlich, Jamie.«
Ich streckte ihm bereits die Hand entgegen, bevor er die Tür zur Seite geschoben hatte. Ich hatte ihn in letzter Zeit längst nicht oft genug gesehen. Bewusstlos oder gehbehindert, war ich nicht in der Lage gewesen, nach ihm zu suchen.
»Hey, Wanda! Hey, Ian!« Jamie strahlte über das ganze Gesicht und sein strubbeliges Haar wippte auf und ab, wenn er sich bewegte. Er steuerte auf meine ausgestreckte Hand zu, aber Ian war ihm im Weg. Daher ließ er sich auf der Kante meiner Matratze nieder und legte seine Hand auf meinen Fuß. »Wie fühlst du dich?«
»Besser.«
»Hast du schon Hunger? Es gibt luftgetrocknetes Rindfleisch und Maiskolben! Ich könnte dir was holen.«
»Im Moment nicht. Wie geht es dir? Ich habe dich in letzter Zeit so wenig gesehen.«
Jamie verzog das Gesicht. »Sharon hat mich nachsitzen lassen.«
Ich lächelte. »Was hast du denn angestellt?«
»Nichts. Ganz ohne Grund.« Seine unschuldige Miene war ein bisschen übertrieben und er wechselte schnell das Thema. »Weißt du was? Jared hat beim Mittagessen gesagt, es war nicht nett, dass du aus dem Zimmer, an das du dich gewöhnt hattest, wieder ausziehen musstest. Er hat gesagt, wir seien keine guten Gastgeber gewesen und du solltest wieder bei mir einziehen! Ist das nicht genial? Ich hab ihn gefragt, ob ich dir das gleich sagen könnte, und er meinte, das wäre eine gute Idee. Er hat gesagt, du wärst hier.«
»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Ian.
»Also, wie findest du das, Wanda? Wir werden wieder zusammenwohnen!«
»Aber Jamie, wo wird denn Jared schlafen?«
»Warte - lass mich raten«, mischte Ian sich ein. »Ich wette, er hat gesagt, das Zimmer wäre groß genug für drei. Hab ich Recht?«
»Genau, woher wusstest du das?«
»Das war nur ein Glückstreffer.«
»Ist das nicht toll, Wanda? Es wird wieder genauso sein, wie bevor wir hierhergekommen sind!«
Ich zuckte zusammen. Es fühlte sich so ähnlich an wie eine Rasierklinge, die zwischen meinen Rippen hindurchglitt – ein Schmerz, so glatt und präzise, dass er nicht mit einem Schlag oder Bruch verglichen werden konnte.
Jamie musterte meine gequälte Miene alarmiert. »Oh. Nein, ich meine, noch dazu mit dir. Das wird schön. Wir vier zusammen, stimmt’s?«
Ich versuchte den Schmerz wegzulachen; es tat auch nicht mehr weh, als wenn ich nicht lachte.
Ian drückte meine Hand.
»Wir vier zusammen«, murmelte ich. »Schön.«
Jamie krabbelte über die Matratze um Ian herum, um mich zu umarmen.
»Entschuldige. Sei nicht traurig.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken.«
»Du weißt, dass ich dich auch lieb habe.«
Die Gefühle auf diesem Planeten waren so extrem, so durchdringend. So etwas hatte Jamie bisher noch nie zu mir gesagt. Mein ganzer Körper fühlte sich plötzlich ein paar Grad wärmer an.
So extrem, pflichtete Melanie mir bei, die von ihrem eigenen Schmerz durchzuckt wurde.
»Kommst du wieder zurück in unser Zimmer?«, bat Jamie an meiner Schulter.
Ich konnte nicht gleich antworten.
»Was will Mel?«, fragte er.
»Sie will bei euch wohnen«, flüsterte ich. Das musste ich sie nicht fragen.
»Und was willst du?«
»Willst du denn, dass ich bei euch wohne?«
»Das weißt du doch, Wanda. Bitte.«
Ich zögerte.
»Bitte.«
»Wenn du es willst, Jamie. Okay.«
»Juhu!«, krähte Jamie mir ins Ohr. »Cool! Ich gehe Jared Bescheid sagen! Ich bringe dir auch was zu essen, okay?« Er war bereits wieder auf den Beinen und hüpfte auf der Matratze herum, was ich an meinen Rippen spürte.
»Okay.«
»Willst du auch etwas, Ian?«
»Und ob. Ich will, dass du Jared sagst, dass er echt skrupellos ist.«
»Häh?«
»Vergiss es. Geh Wanda was zu essen holen.«
»Klar. Und ich frage Wes nach seinem überzähligen Bett. Kyle kann hierher zurückkommen und alles ist wieder so, wie es sein sollte.«
»Wunderbar«, sagte Ian, und obwohl ich ihm nicht ins Gesicht sah, wusste ich, dass er mit den Augen rollte.
»Wunderbar«, flüsterte ich und spürte erneut die Rasierklinge zwischen den Rippen.