Befragt
Ich hatte Wes umgebracht.
Meine Hände, die vom hektischen Entladen zerkratzt, aufgeschürft und mit rötlichem Staub verschmiert waren, hätten genauso gut rot von seinem Blut sein können.
Wes war tot und es war genauso sehr mein Fehler, als wenn ich selbst abgedrückt hätte.
Jetzt, wo der Lastwagen abgeladen war, saßen wir alle außer fünfen in der Küche beisammen. Wir aßen einige der verderblichen Lebensmittel, die wir von der Einkaufstour mitgebracht hatten - Käse und frisches Brot mit Milch -, und hörten Jeb und Doc zu, die Jared, Ian und Kyle alles erklärten.
Ich saß ein Stück von den anderen entfernt und hatte den Kopf in den Händen vergraben, vor Schmerz und Schuldgefühlen zu taub, um wie sie Fragen zu stellen. Jamie saß neben mir. Ab und zu tätschelte er mir den Rücken.
Wes war bereits in der dunklen Grotte neben Walter beigesetzt worden. Er war vor vier Tagen gestorben, an dem Abend, als Jared, Ian und ich die Familie im Park beobachtet hatten. Ich würde meinen Freund nie wiedersehen, nie wieder seine Stimme hören …
Tränen tropften auf den Stein neben mir und Jamies Tätscheln wurde schneller.
Andy und Paige waren nicht hier.
Sie fuhren den Lieferwagen und den Laster zurück in ihr Versteck. Von dort würden sie den Jeep zurück in seine gewohnte behelfsmäßige Garage bringen und dann den Rest des Weges nach Hause laufen müssen. Vor Sonnenaufgang würden sie zurück sein.
Lily war nicht hier.
»Ihr … geht es nicht so gut«, hatte Jamie gemurmelt, als er sah, wie ich den Raum nach ihr absuchte. Mehr wollte ich gar nicht wissen. Ich konnte es mir gut vorstellen.
Aaron und Brandt waren nicht hier.
Brandt hatte jetzt eine schwach sichtbare, rosafarbene, kreisförmige Narbe in der Vertiefung unterhalb seines linken Schlüsselbeins. Die Kugel hatte sein Herz und seine Lunge nur um Haaresbreite verfehlt und sich dann auf der Suche nach einem Ausgang halb in sein Schulterblatt gebohrt. Doc hatte fast das ganze Heilung aufgebraucht, um sie dort herauszukriegen. Brandt ging es jetzt wieder gut.
Die für Wes bestimmte Kugel hatte besser getroffen. Sie hatte seine hohe, olivbraune Stirn durchschlagen und war aus seinem Hinterkopf wieder ausgetreten. Doc hätte nichts mehr für ihn tun können, selbst wenn er direkt dabei gewesen wäre und literweise Heilung zur Verfügung gehabt hätte.
Brandt, der jetzt in einem Halfter an seiner Hüfte eine kantige, schwere Trophäe dieser Begegnung trug, war bei Aaron. Sie waren in dem Tunnel, wo wir unsere Vorräte gelagert hätten, wenn er nicht besetzt gewesen wäre. Wenn er nicht wieder als Gefängnis gedient hätte.
Als ob es nicht genug gewesen wäre, Wes zu verlieren.
Es kam mir einfach nicht richtig vor, dass die Anzahl der Anwesenden immer noch die gleiche war. Fünfunddreißig lebendige Körper, genau wie vor meiner Ankunft in den Höhlen. Wes und Walter waren fort, aber ich war hier.
Und jetzt auch die Sucherin.
Meine Sucherin.
Wenn ich nur direkt bis nach Tucson weitergefahren wäre. Wenn ich nur in San Diego geblieben wäre. Wenn ich doch diesen Planeten einfach übersprungen hätte und irgendwo ganz anders hingegangen wäre. Wenn ich mich doch als Mutter zur Verfügung gestellt hätte, wie jede andere es nach fünf oder sechs Planeten tat. Wenn, wenn, wenn … Wenn ich nicht hierhergekommen wäre, wenn ich die Sucherin nicht auf diese Spur gebracht hätte, dann wäre Wes noch am Leben. Sie hatte länger gebraucht als ich, um die Angaben zu entschlüsseln, aber als sie so weit war, musste sie nicht mehr vorsichtig sein. Sie war in einem Geländewagen durch die Wüste gebrettert und hatte neue Narben in der empfindlichen Wüstenlandschaft hinterlassen, war immer näher gekommen …
Sie mussten etwas unternehmen. Sie mussten sie stoppen.
Ich hatte Wes getötet.
Ich bin die, die sie erwischt haben, Wanda. Ich habe sie hergeführt, nicht du.
Mir war zu elend zumute, um ihr zu antworten.
Außerdem wäre Jamie tot, wenn wir nicht hergekommen wären. Und Jared vielleicht auch. Heute Nacht wäre er ohne dich umgekommen.
Tod auf allen Seiten. Tod, egal wo ich hinsah.
Warum musste sie mir auch folgen?, stöhnte ich. Ich schade den anderen Seelen hier doch nicht. Ich rette einigen von ihnen durch meine Anwesenheit hier sogar das Leben, indem ich Doc von seinen verhängnisvollen Versuchen abhalte. Warum musste sie mir folgen?
Warum haben sie sie hierbehalten?, fauchte Melanie. Warum haben sie sie nicht sofort umgebracht? Oder auch langsam umgebracht - ist mir ganz egal, wie! Warum ist sie noch am Leben?
Mein Magen zog sich vor Angst zusammen. Die Sucherin war am Leben, die Sucherin war hier.
Ich sollte eigentlich keine Angst vor ihr haben.
Natürlich war die Angst berechtigt, dass ihr Verschwinden die anderen Sucher auf unsere Spur bringen könnte. Alle hatten davor Angst. Als die Menschen ihre Suche nach mir beobachtet hatten, hatten sie gesehen, wie lautstark sie ihre Überzeugung vertrat. Sie hatte versucht, die anderen Sucher davon zu überzeugen, dass sich hier in dieser trostlosen Wüste Menschen versteckten. Niemand schien sie damals ernst genommen zu haben. Sie hatten sich zurückgezogen; sie war die Einzige, die weitergesucht hatte.
Aber jetzt war sie mitten in ihrer Suche verschwunden. Das änderte alles.
Ihr Auto war weit weggebracht und jenseits von Tucson in der Wüste abgestellt worden. Es sah so aus, als wäre sie auf die gleiche Weise verschwunden, wie man es bei mir angenommen hatte: Stücke ihrer zerfetzten Tasche lagen in der Nähe herum, die Verpflegung, die sie dabeigehabt hatte, war aufgerissen und angefressen. Würden die anderen Seelen einen solchen Zufall schlucken?
Wir wussten bereits, dass sie das nicht getan hatten. Zumindest nicht ganz. Sie suchten. Würden sie die Suche noch intensivieren?
Aber Angst vor der Sucherin selbst zu haben … das ergab keinen Sinn. Ihre Körperkraft war zu vernachlässigen, sie war wahrscheinlich sogar kleiner als Jamie und ich war stärker und schneller als sie. Ich war von Freunden und Verbündeten umgehen und sie war allein, zumindest innerhalb dieser Höhlen hier. Zwei Waffen, das Gewehr und ihre eigene Glock - genau die Pistole, um die Ian sie damals beneidet hatte, die Pistole, die meinen Freund Wes umgebracht hatte -, waren ständig auf sie gerichtet. Nur eins hatte sie bisher am Leben erhalten und das konnte sie nicht mehr länger retten.
Jeb hatte gedacht, dass ich vielleicht mit ihr reden wollte. Das war alles.
Jetzt, wo ich zurück war, war sie dazu verurteilt, innerhalb der nächsten Stunden zu sterben, unabhängig davon, ob ich mit ihr sprach oder nicht.
Weshalb also hatte ich das Gefühl, im Nachteil zu sein? Warum diese eigenartige Ahnung, dass sie diejenige sein würde, die als Siegerin aus unserer Konfrontation hervorging?
Ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich mit ihr sprechen wollte. Zumindest war das die Antwort, die ich Jeb gegeben hatte.
Aber ich wollte natürlich nicht mit ihr sprechen. Ich hatte schon Panik davor, nur ihr Gesicht wieder zu sehen - ein Gesicht, das ich mir, sosehr ich es auch versuchte, nicht verängstigt vorstellen konnte.
Wenn ich ihnen sagte, dass ich nicht mit ihr sprechen wollte, würde Aaron sie erschießen. Es wäre so, als würde ich ihm den Schießbefehl erteilen. Als würde ich abdrücken.
Oder schlimmer noch, vielleicht würde Doc versuchen, sie aus ihrem Menschenkörper zu schneiden. Die Erinnerung an das silberne Blut, das die Hände meines Freundes besudelt hatte, ließ mich zusammenzucken.
Melanie wand sich unbehaglich und versuchte den Qualen in meinem Kopf zu entkommen.
Wanda? Sie werden sie einfach nur erschießen. Keine Panik.
Sollte mich das trösten? Das Bild in meinem Kopf verfolgte mich. Aaron, der die Pistole der Sucherin in der Hand hielt, der Körper der Sucherin, der langsam auf dem Steinboden zusammensackte, das rote Blut um sie herum …
Du musst nicht dabei zusehen.
Das würde nicht verhindern, dass es geschah.
Melanies Gedanken bekamen einen verzweifelten Unterton. Aber wir wollen doch, dass sie stirbt, oder etwa nicht? Sie hat Wes umgebracht! Außerdem darf sie einfach nicht am Leben bleiben. Auf keinen Fall.
Sie hatte natürlich in allem Recht. Es stimmte, dass die Sucherin auf keinen Fall am Leben bleiben durfte. Wenn wir sie gefangen hielten, würde sie hartnäckig auf ihre Flucht hinarbeiten. Wenn es ihr gelang zu entkommen, würde das innerhalb kürzester Zeit den Tod meiner ganzen Familie bedeuten.
Es stimmte, dass die Sucherin Wes umgebracht hatte. Er war so jung gewesen und so sehr geliebt worden. Sein Tod hinterließ brennenden Schmerz. Ich konnte verstehen, dass die Menschen zum Ausgleich dafür ihr Leben forderten.
Und es stimmte, dass ich auch wollte, dass sie starb.
»Wanda? Wanda?«
Jamie schüttelte mich am Arm. Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass jemand meinen Namen rief. Vielleicht schon viele Male.
»Wanda?«, fragte Jebs Stimme erneut.
Ich sah auf. Er stand über mir. Sein Gesicht war ausdruckslos, die undurchdringliche Fassade, die mir verriet, dass ihn starke Gefühle im Griff hatten. Sein Pokerface.
»Die Jungs wollen wissen, ob du noch Fragen an die Sucherin hast.«
Ich legte eine Hand an die Stirn und versuchte die Bilder dort auszublenden. »Und wenn nicht?«
»Sie haben genug davon, Wache zu halten. Es ist eine schwere Zeit für sie. Sie wären jetzt lieber bei ihren Freunden.«
Ich nickte. »Okay. Dann gehe ich wohl besser gleich … und rede mit ihr.« Ich stieß mich von der Wand ab und kam auf die Füße. Meine Hände zitterten, weshalb ich sie zu Fäusten ballte.
Du hast keine Fragen.
Mir werden schon welche einfallen.
Warum das Unvermeidliche aufschieben?
Ich habe keine Ahnung.
Du versuchst sie zu retten, warf mir Melanie wütend vor.
Das kann ich nicht.
Nein. Das kannst du nicht. Und außerdem willst du ihren Tod auch. Also erlaube ihnen, sie zu erschießen.
Ich zuckte zusammen.
»Ist alles okay mit dir?«, fragte Jamie.
Ich nickte, da ich meiner Stimme nicht genug traute, um zu sprechen.
»Du musst nicht«, sagte Jeb, der mich scharf ansah.
»Schon okay«, flüsterte ich.
Jamies Hand umfasste die meine, aber ich schüttelte sie ab. »Bleib hier, Jamie.«
»Ich komme mit.«
Meine Stimme war jetzt lauter. »O nein, das tust du nicht.«
Wir starrten uns einen Moment lang an und ausnahmsweise gewann ich die Auseinandersetzung. Er streckte störrisch das Kinn vor, lehnte sich aber wieder an die Wand.
Ian sah ebenfalls so aus, als wollte er mir folgen, aber ein einziger Blick von mir hielt ihn davon ab. Jared sah mit unergründlicher Miene zu, wie ich die Küche verließ.
»Sie meckert die ganze Zeit«, erklärte mir Jeb leise, als wir zum Loch gingen. »Nicht so wie du. Fragt ständig nach mehr Essen, Wasser, Kissen … Außerdem wirft sie mit Drohungen um sich. ›Die Sucher werden euch alle kriegen!‹ Solche Sachen. Vor allem für Brandt ist es schwer. Sie bringt ihn an den Rand seiner Selbstbeherrschung.«
Ich nickte. Das überraschte mich nicht im Geringsten.
»Allerdings hat sie nicht versucht zu fliehen. Viel Gerede und nichts dahinter. Sobald sie die Waffen auf sie richten, kuscht sie.«
Ich schauderte.
»Ich glaube, sie hat verdammt viel Schiss vor dem Tod«, murmelte Jeb vor sich hin.
»Glaubst du wirklich, das ist der … sicherste Platz für sie?«, fragte ich, als wir den schwarzen, gewundenen Tunnel hinuntergingen.
Jeb lachte. »Du hast den Weg nach draußen auch nicht gefunden«, erinnerte er mich. »Manchmal ist das beste Versteck eines, das man direkt vor Augen hat.«
»Ihre Motivation zu entkommen ist aber größer als meine«, erwiderte ich rundheraus.
»Die Jungs lassen sie nicht aus den Augen. Keine Sorge.«
Wir waren fast da. Der Tunnel beschrieb einen scharfen Knick in Form eines V.
Wie oft war ich um diese Kurve gebogen und mit der Hand über die Innenseite der spitzwinkligen Abbiegung gefahren, so wie jetzt? Ich hatte mich nie an der Außenwand entlang getastet. Sie war uneben, mit unvermittelt hervorspringenden Felsen, an denen man sich verletzen konnte oder die einen zum Stolpern brachten. Sich innen entlang zu tasten war schließlich auch der kürzere Weg …
Als sie mir zum ersten Mal gezeigt hatten, dass das V kein V, sondern ein Y war - zwei Wege, die von einem anderen Tunnel abzweigten, von dem Tunnel -, war ich mir ziemlich blöd vorgekommen. Wie Jeb schon sagte, manchmal war es das Schlaueste, etwas vor aller Augen zu verstecken. Die wenigen Male, die ich verzweifelt genug gewesen war, über eine Flucht aus den Höhlen auch nur nachzudenken, hatte mein Gehirn diese Stelle in meinen Überlegungen schlichtweg übersprungen. Das hier war das Loch, das Gefängnis. In meiner Vorstellung war es der dunkelste, tiefste Schacht in den Höhlen. Deshalb hatten sie mich dort vergraben.
Sogar Mel, die gewiefter war als ich, hätte sich niemals träumen lassen, dass sie mich nur ein paar Schritte vom Ausgang entfernt gefangen gehalten hatten.
Es war noch nicht einmal der einzige Ausgang. Aber der andere war klein und eng, ein Spalt, durch den man hindurchkriechen musste. Ich hatte ihn nicht gefunden, weil ich aufrecht durch die Höhlen gelaufen war. Nach so einem Tunnel hatte ich nicht gesucht. Außerdem hatte ich nie die Winkel von Docs Krankenflügel erforscht. Ich hatte ihn von Anfang an gemieden.
Ihre Stimme - vertraut, obwohl sie Teil eines anderen Lebens zu sein schien - unterbrach meine Gedanken.
»Igitt! Ich frage mich, wie ihr bei diesem Fraß überleben könnt.«
Etwas aus Plastik klapperte gegen den Fels.
Ich konnte das blaue Licht um die letzte Ecke scheinen sehen.
»Ich wusste nicht, dass Menschen ausreichend Geduld haben, um jemanden verhungern zu lassen. So ein Plan kommt mir irgendwie zu komplex vor für euch kurzsichtige Kreaturen.«
Jeb lachte. »Ich muss sagen, ich bin beeindruckt von den Jungs. Es wundert mich, dass sie das so lange ausgehalten haben.«
Wir bogen in die beleuchtete Sackgasse ein. Brandt und Aaron, die so weit wie möglich vom Ende des Tunnels, wo die Sucherin hin- und herging, entfernt saßen, jeweils mit einer Waffe in der Hand, seufzten erleichtert, als sie uns sahen.
»Endlich«, murmelte Brandt. Sein Gesicht war von tiefen Kummerfalten durchzogen.
Die Sucherin hielt inne.
Ich war überrascht, als ich sah, unter welchen Bedingungen sie hier festgehalten wurde.
Sie saß nicht in dem winzigen, engen Loch, sondern konnte sich relativ frei bewegen und die paar Schritte, die die Höhle hergab, hin- und herstapfen. Auf dem Boden, ganz am Ende des Tunnels lagen eine Matte und ein Kissen. Ein Plastiktablett stand etwa in der Mitte der Höhle schräg an die Wand gelehnt; ein paar Yambohnenwurzeln und eine Suppenschale lagen daneben. Rundherum war Suppe verspritzt. Das erklärte das Klappern, das ich gerade gehört hatte - sie hatte mit ihrem Essen geworfen. Es sah allerdings so aus, als hätte sie vorher das meiste davon gegessen.
Ich starrte auf dieses relativ humane Bild und spürte ein seltsames Ziehen in der Magengrube.
Wen hatten wir denn umgebracht?, murmelte Melanie schmollend. Auch sie schmerzte dieser Anblick.
»Willst du eine Minute mit ihr allein sein?«, fragte mich Brandt und erneut verspürte ich ein schmerzhaftes Ziehen. Hatte Brandt mich jemals mit einem weiblichen Pronomen bedacht? Ich war nicht überrascht, dass Jeb so von der Sucherin sprach, aber alle anderen?
»Ja«, flüsterte ich.
»Vorsicht«, warnte Aaron. »Sie ist ganz schön wütend.«
Ich nickte.
Es fiel mir schwer, die Augen zu heben, dem Blick zu begegnen, den ich wie kalte Finger auf meinem Gesicht spüren konnte.
»Na so was, hallo, Melanie«, sagte sie höhnisch. »Warum hat es denn so lange gedauert, dass du zu Besuch kommst?«
Ich antwortete nicht. Ich ging langsam auf sie zu und gab mir große Mühe, zu glauben, dass der Hass, der durch meinen Körper strömte, nicht zu mir gehörte.
»Glauben deine kleinen Freunde, ich würde mit dir reden? All meine Geheimnisse ausplaudern, nur weil du eine geknebelte und hirnlose Seele in deinem Kopf herumträgst, die sich in deinen Augen spiegelt?« Sie lachte rau.
Ich blieb zwei große Schritte von ihr entfernt stehen, mein Körper zur Flucht bereit. Sie griff mich nicht an, aber es gelang mir trotzdem nicht, meine Muskeln zu entspannen. Es war nicht wie bei dem Sucher auf dem Highway - ich hatte nicht das übliche Gefühl von Sicherheit, das ich gegenüber den anderen, freundlichen Vertretern meiner Art verspürte. Erneut durchfuhr mich die seltsame Überzeugung, dass sie noch lange nach mir am Leben sein würde.
Sei nicht albern. Stell ihr deine Fragen. Sind dir welche eingefallen?
»Also, was willst du? Hast du um Erlaubnis gebeten, mich persönlich umzubringen, Melanie?«, zischte die Sucherin.
»Man nennt mich hier Wanda«, sagte ich.
Sie zuckte leicht zusammen, als ich den Mund aufmachte, um zu sprechen, als erwartete sie, ich würde brüllen. Meine leise, gleichmäßige Stimme schien sie stärker aus der Fassung zu bringen, als das Geschrei, das sie erwartet hatte.
Ich musterte ihr Gesicht, aus dem mich ihre hervortretenden Augen anstarrten. Es war dreckig, mit rötlichem Staub und getrocknetem Schweiß überzogen. Abgesehen davon war es unversehrt. Ich spürte erneut einen seltsamen Stich.
»Wanda«, wiederholte sie leise. »Nun, worauf wartest du? Haben sie dir das Okay noch nicht gegeben? Wirst du es mit bloßen Händen tun oder meine Waffe benutzen?«
»Ich bin nicht gekommen, um Sie umzubringen.«
Sie lächelte säuerlich. »Wozu dann, um mich zu verhören? Wo sind deine Folterinstrumente, Mensch?«
Ich erschauderte. »Ich werde Ihnen nicht wehtun.«
Eine Spur von Unsicherheit tauchte auf ihrem Gesicht auf und Verschwand dann hinter ihrem höhnischen Grinsen. »Wozu halten sie dich dann hier fest? Glauben sie, sie können mich zähmen so wie die Seele, die du dir als Haustier hältst?«
»Nein. Sie … sie wollten Sie nur nicht töten, ohne mich zu fragen. Falls ich vorher mit Ihnen sprechen will.«
Sie senkte die Lider und ihre Augen verengten sich. »Und? Hast du mir etwas zu sagen?«
Ich schluckte. »Ich habe mich gefragt …«
Ich hatte nur die eine Frage, die ich mir selbst nicht beantworten konnte.
»Warum? Warum konnten Sie mich nicht für tot erklären wie alle anderen? Warum waren Sie so entschlossen, mich aufzuspüren? Ich wollte niemandem Schaden zufügen. Ich wollte nur … meinen eigenen Weg gehen.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schob den Kopf vor. Jemand stellte sich hinter mich, aber mehr konnte ich nicht hören - sie schrie mir ins Gesicht.
»Weil ich Recht hatte!«, kreischte sie. »Mehr als Recht! Sieh sie dir doch an! Ein ekelhaftes Nest von Mördern, die hier auf der Lauer liegen! Genau wie ich es mir gedacht hatte, nur noch viel schlimmer! Ich wusste, dass du hier draußen bei ihnen bist! Eine von ihnen! Ich habe ihnen gleich gesagt, dass wir in Gefahr schweben! Ich habe es ihnen gleich gesagt!«
Sie hielt keuchend inne und trat einen Schritt zurück, wobei sie mir über die Schulter sah. Ich schaute nicht weg, um nachzusehen, was sie zum Rückzug bewogen hatte. Ich nahm an, es hatte etwas damit zu tun, was Jeb mir eben gesagt hatte - sobald sie die Waffen auf sie richten, kuscht sie. Ich musterte einen Moment ihren Gesichtsausdruck, während ihr schwerer Atem langsamer wurde.
»Aber sie haben nicht auf Sie gehört. Also sind Sie allein hergekommen.«
Die Sucherin antwortete nicht. Sie trat noch einen Schritt zurück, und in ihrer Miene schien Zweifel auf. Einen Augenblick lang sah sie seltsam verletzlich aus, als hätten meine Worte den Schild weggerissen, hinter dem sie sich versteckt hatte.
»Sie werden nach Ihnen suchen, aber eigentlich haben sie Ihnen nie geglaubt, stimmt’s?«, sagte ich und beobachtete, wie jedes meiner Worte von ihren verzweifelten Augen bestätigt wurde. Das machte mich vollkommen sicher. »Also werden sie die Suche nicht forcieren. Wenn sie Sie nicht finden, wird ihr Interesse nachlassen. Wir werden vorsichtig sein, wie immer. Sie werden uns nicht finden.«
Jetzt konnte ich zum ersten Mal echte Angst in ihren Augen sehen. Das - für sie - entsetzliche Wissen, dass ich Recht hatte. Und ich schöpfte plötzlich Zuversicht für mein kleines Menschennest, meine kleine Familie. Ich hatte wirklich Recht. Sie waren in Sicherheit. Allerdings war ich im Hinblick auf mich selbst seltsamerweise kein bisschen zuversichtlicher.
Ich hatte keine weiteren Fragen mehr an die Sucherin. Wenn ich wegging, würde sie sterben. Würden sie warten, bis ich weit genug weg war, um den Schuss nicht mehr zu hören? Gab es überhaupt irgendeinen Platz in den Höhlen, der dafür weit genug entfernt war?
Ich blickte in ihr wütendes, angsterfülltes Gesicht und merkte, wie sehr ich sie hasste. Wie sehr ich mir wünschte, dieses Gesicht für den Rest meiner Leben nie wieder sehen zu müssen.
Ein Hass, der es mir unmöglich machte, sie sterben zu lassen.
»Ich weiß nicht, wie ich Sie retten kann«, flüsterte ich so leise, dass die Menschen es nicht hören konnten. Warum klang das in meinen Ohren wie eine Lüge? »Ich weiß nicht, wie …«
»Warum solltest du das auch wollen? Du bist eine von ihnen!« Aber ein kleiner Funken Hoffnung blitzte in ihren Augen auf. Jeb hatte Recht. All das Geschrei, die ganzen Drohungen … sie wollte furchtbar gern am Leben bleiben.
Ich nickte auf ihre Anschuldigung, leicht geistesabwesend, weil ich angestrengt und schnell nachdachte. »Aber ich bin immer noch ich selbst«, murmelte ich. »Ich will nicht … Ich will nicht …«
Wie konnte ich den Satz beenden? Ich wollte nicht … dass die Sucherin starb? Nein. Das stimmte nicht.
Ich wollte nicht … dass ich die Sucherin hasste? Dass ich sie so sehr hasste, dass ich ihren Tod wollte? Dass sie starb, während ich sie hasste? Fast so, als stürbe sie, weil ich sie hasste.
Wenn ich ihren Tod wirklich nicht wollte, würde mir dann nicht einfallen, wie ich sie retten konnte? War es mein Hass, der die Antwort vor mir verbarg? War ich verantwortlich dafür, wenn sie starb?
Bist du wahnsinnig?, protestierte Melanie.
Sie hatte meinen Freund umgebracht, hatte ihn in der Wüste erschossen und Lilys Herz gebrochen. Sie hatte meine Familie in Gefahr gebracht. Solange sie lebte, stellte sie eine Gefahr für sie dar. Für Ian, für Jamie, für Jared. Sie würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um sie alle zu töten.
Das hört sich schon besser an. Dem konnte Melanie zustimmen.
Aber wenn sie stirbt, obwohl ich sie hätte retten können, wenn ich gewollt hätte … wer bin ich dann?
Du musst praktisch denken, Wanda. Dies ist ein Krieg. Auf welcher Seite stehst du?
Du kennst die Antwort.
Genau. Und das ist es, was du bist, Wanda.
Aber … Aber was, wenn ich beides könnte? Was, wenn ich ihr das Leben retten könnte, ohne dass irgendjemand hier in Gefahr geriete.
Eine Welle heftiger Übelkeit ergriff mich, als ich die Antwort erkannte, von der ich versucht hatte zu glauben, dass es sie nicht gab.
Die Wand zwischen Melanie und mir löste sich in nichts auf
Nein!, keuchte Mel. Und dann schrie sie. NEIN!
Die Antwort, von der ich gewusst haben musste, dass ich sie finden würde. Die Antwort, die meine seltsame Ahnung erklärte.
Denn ich konnte die Sucherin retten. Natürlich konnte ich das. Aber es würde mich das Leben kosten. Ein Handel. Was hatte Kyle gesagt? Leben gegen Leben.
Die Sucherin starrte mich an, ihre dunklen Augen voller Hass.