43. KAPITEL
Das Maislabyrinth sieht genauso aus, wie man es sich vorstellt: ein riesiges Maisfeld mit einem Wirrwarr von Gängen.
»Caseys Opa hat es übers Wochenende angelegt«, sagt Wyatt zu mir, als wir mit quietschenden Reifen auf dem Hof der Farm zum Stehen kommen. »In ein paar Wochen öffnet er es dann für Besucher.«
Wir sind wortlos dahingerast; ich habe mich in Todesangst an der Tür festgehalten und nur einmal kurz losgelassen, um Sheriff Billy zuzuwinken.
Wir steigen aus und gehen zum Eingang des Labyrinths. Caseys Opa stellt gerade ein großes, verwittertes Schild auf. »Morgen. Mal’n Blick draufwerfen?«
»Wenn es Ihnen recht ist, Sir«, sagt Wyatt.
Auf dem Schild steht
MAISLABYRINTH
Nicht rauchen
Nicht rennen
Keine Kraftausdrücke
Kein unzüchtiges Benehmen
Keine Abkürzungen durch die Maisstauden!!!
Wyatt geht voran. Man sieht nur Wände aus reifem Mais; die dicken Kolben sind reif zur Ernte, die Blätter gelb und von der Hitze verwelkt. Der Boden unter unseren Füßen ist weich und feucht.
»Wo gehen wir hin?«, frage ich.
»In die Mitte natürlich.«
»Aber ich sollte schon auf dem Weg zum Flughafen sein!«, jammere ich. »Mein Visum läuft heute ab.«
»Das ist kein Problem«, sagt Wyatt.
Ich glaube nicht, dass die US-Einwanderungsbehörde diese Einstellung teilt. Um nicht die Orientierung zu verlieren, schaue ich mich um. O verdammt! Sheriff Billy ist uns gefolgt: Er steht am Eingang zum Labyrinth und redet mit Caseys Opa. Ich hätte ihm nicht zuwinken sollen. Alle Verbrecher begehen einen fatalen Fehler, und das war der meine. Mit Entsetzen sehe ich, dass Caseys Opa ins Labyrinth zeigt und Sheriff Billy offensichtlich erklärt, wo er mich finden kann. Er will mich einsperren! Man wird mir die Fingerabdrücke abnehmen und mich in Handschellen in meinen Flieger nach Hause verfrachten. Was mache ich, wenn ich mal aufs Klo muss?
Ich eile Wyatt hinterher.
»Alice«, sagt er.
»Pscht. Sonst findet er mich«, wispere ich.
»Wer?«
Ich bin in heller Panik, renne los, vorbei an dem völlig verdutzten Wyatt, biege links ab, dann rechts und wieder links. Oder war es rechts? Die Maisstauden sehen alle gleich aus.
»Alice«, höre ich Wyatt rufen.
Jetzt habe ich mich vollständig verfranzt. »Pscht«, flüstere ich wieder.
»Sind Sie das?«, brüllt er. »Alice, bleiben Sie stehen«, kommandiert Wyatt. »Ich komme Sie holen.«
»Wo ist Sheriff Billy?«, rufe ich über die Schulter hinweg und laufe tiefer in das Labyrinth hinein.
»Gibt Caseys Opa das Geld vom Benefizkonzert?«, ruft Wyatt zurück. Er klingt ziemlich weit weg.
»Nein, er ist meinetwegen da«, fauche ich. »Mein letztes Stündlein hat geschlagen! Begreifen Sie nicht?«
»Nein, nicht so ganz.« Wyatt kommt näher. »Alice, wollen Sie wohl stehen bleiben, verdammt noch mal.«
»Ich bin eine illegale Einwanderin. Ich muss flüchten und untertauchen.«
Mein Geständnis scheint Wyatt nicht sonderlich zu beunruhigen. »Nein, sind Sie nicht. Phoebe hat das alles geregelt.«
»Phoebe«, zische ich und renne weiter. »Die zählt nicht zu meinen Freunden. Sie würde das Blaue vom Himmel herunterreden, um Sie dazu zu bringen, das zu tun, was sie will.«
»Das weiß ich. Ich bin kein kompletter Idiot.«
Er ist jetzt sehr nahe, darum raffe ich allen Mut zusammen und bewege mich nur noch im Schritttempo weiter. »Ich dachte, Sie mögen sie«, rufe ich. »Ich dachte, sie bekommt ›Take My Hand‹ von Ihnen.« Ich fühle mich wieder genauso verletzt und verstört wie gestern Abend, als ich Phoebe und Wyatt belauscht habe.
»Nein«, sagt Wyatt. »Sie ist der letzte Mensch auf Gottes weiter Erden, der ich meinen Song überlassen würde.«
Ich gebe mir keine Zeit zum Nachdenken. Ich fühle mich schlicht betrogen und durcheinander. »Wieso haben Sie ihr dann erzählt, Sie hätten ein Album geschrieben? Das haben Sie mir gegenüber nie erwähnt«, platze ich heraus.
Zu spät wird mir klar, dass ich Wyatt jetzt meine Lauscherei beichten muss. »Ich bin ins Haus gekommen, um ein paar Decken zu holen«, sage ich und wiederhole dann alles, was ich mit angehört habe; hoffentlich brülle ich in die richtige Richtung. »Und dann bin ich zurück zu Mary Lou gegangen.«
Ich bilde mir ein, gerade Wyatt durch die Maisstauden hindurch erspäht zu haben.
»Ich habe kein Album geschrieben«, sagt Wyatt geduldig. »Sondern nur einen einzigen Song.«
Jetzt sieht er mich. Wir beäugen uns durch die einen Meter dicke Maiswand.
»Was haben Sie Phoebe dann vorgespielt?«
»›Vale of Tears‹.«
»Was?«
»Es ging nicht anders. Sonst wäre ich sie nie losgeworden. Ich musste sie davon überzeugen, dass mein neues Album vielleicht doch nicht so spannend ist.«
»Hat es funktioniert?«
Statt einer Antwort stimmt Wyatt »Vale of Tears« an. Bloß dass er sich noch viel einschläfernder als Madison anhört. »Shattered dreams, Faded hopes …«
»Großer Gott.« Bittebitte, er soll aufhören.
»Dann habe ich ihr erzählt, dass ich auf meinem nächsten Album das menschliche Elend auslote und am Schluss noch ein paar Songs anhänge, die mögliche Rettung verheißen.«
»Was hat sie dazu gesagt?«, frage ich fassungslos.
»Dass sie erst mit ihrem Kreativteam darüber sprechen müsste. Und dann hat sie Andeutungen gemacht, mich von meinem Vertrag zu entbinden. Ich schätze, sie hat schon was aufgesetzt, womit Carmichael Music drum herumkommt, mein nächstes Album zu produzieren.«
»Aber was ist mit ›Take My Hand‹? Das will sie doch sicher haben?«
»Nicht mehr, nachdem ich ihr erzählt habe, dass ich eine neue Version plane, unterlegt mit Techno der Achtzigerjahre. Das hat sie ruckzuck davon abgebracht. Dann habe ich noch gesagt, dass ich nur ganz einfache Wörter lesen kann, weil ich in Barnsley aufgewachsen bin, und wenn sie etwas am Vertrag ändern will, müssten Sie länger hierbleiben, um mir alles vorzulesen und mir bei der Unterschrift zu helfen.«
Mir bleibt die Spucke weg. »Sie haben ihr gesagt, dass Sie nicht lesen können! Und das hat sie Ihnen abgenommen?«
»Klar. Sie ist aus New York. Vermutlich denkt sie, dass jeder in Ohio Probleme mit dem Lesen hat. Phoebe hat auf der Stelle ihre Anwälte angerufen und gesagt, sie sollen aus dem Bett springen und Ihr Arbeitsvisum verlängern. Sie will so unbedingt aus dem Vertrag raus, dass sie Ihnen sogar eine Gehaltserhöhung gegeben hat.«
Ich brauche ein paar Sekunden, um das alles zu verdauen. Mir schwirrt der Kopf. Geht es wirklich so einfach - kann ich einfach hierbleiben und mit Wyatt arbeiten?
Nein. Nichts in meinem Leben geht je so einfach. Angefangen damit, dass Wyatt jetzt nicht mehr zu sehen ist und alles daransetzt, sich zu mir durchzuschlagen. Außerdem will ich mehr als nur mit Wyatt arbeiten. Ich höre seine Schritte und denke an den Tag, als er mich aufs Pferd gesetzt hat, als wir im Baumschatten lagen und wie alte Freunde miteinander redeten und später, wieder im Haus, uns um ein Haar geküsst hätten wie zwei Liebende … Ich kann nicht ewig so weitermachen und nie etwas riskieren. Ich habe mich damit sicher gefühlt, aber jetzt schnürt es mir die Luft ab. Ich muss wissen, was Wyatt empfindet, und muss ihm sagen, was ich empfinde. Und es ist nicht nur Phoebe, über die ich Bescheid wissen will.
»Verdammt«, sagt Wyatt. »Dieser Mais ist echt die Pest.«
Ich hole tief Luft. Mit irgendwas muss ich anfangen. »Was ist mit Heidi?«
»Was soll mit ihr sein?«, fragt er leicht verdutzt. Er steht jetzt hinter der Maiswand mir genau gegenüber.
»Sie hat Ihnen geholfen, mit den Journalisten fertig zu werden«, rede ich um den heißen Brei herum. Los jetzt, komm zur Sache. »Ich dachte, es wäre vielleicht etwas zwischen Ihnen beiden.«
»Heidi ist nur eine Freundin«, sagt Wyatt zerstreut.
Das möchte ich gern glauben, aber dann fällt mir das Foto von den zweien ein, das ich bei ihr zu Hause gesehen habe. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie das genauso sieht.«
»Heidi wird bei Gerry landen«, sagt er schlicht. »Sie hatte nie irgendwelche Absichten auf mich. Sie war großartig - hat mir geholfen, den Umzug zu organisieren, hat eine Einweihungsparty veranstaltet …«
Eine Party. Es waren also nicht nur sie zwei.
»… Aber wir sind wie Bruder und Schwester«, sagt er abschließend.
Ich will ihn schon korrigieren, überlege es mir dann aber doch anders. »Sie haben recht.«
Aber ich habe immer noch Fragen. Wenn es kein Album gibt und Wyatt nichts aufnehmen will, wieso hat er dann »Take My Hand« geschrieben? »Warum haben Sie denn dann ›Take My Hand‹ geschrieben?«
Wyatt bleibt einen Augenblick lang stumm. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, ohne Sie zu sehen.«
Er spricht von der einen Meter dicken Maiswand, die uns trennt.
»Ich breche da jetzt durch«, sagt er.
»Nein«, kreische ich entsetzt. »Es heißt doch in den Regeln, das soll man nicht!«
»Zum Teufel mit den Regeln. Ich komme.«
»Nein!«, schreie ich. »Wenn einer von uns in Schwierigkeiten gerät, dann lieber ich. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass sie mich deportieren.« Ich trete einen Schritt vor. Der Mais leistet erstaunlichen Widerstand.
»Alice«, sagt Wyatt. »Nimm meine Hand.«
Er hält sie mir hin, und ich ergreife sie. Er zieht mich zu sich, und ich folge. Und als ich auf der anderen Seite bin, lässt keiner von uns los. Er schaut weg und dann wieder zu mir hin.
»Herrgott, das hätte ich nie erwartet«, sagt er.
Ich sehe, dass er nach den richtigen Worten sucht, und warte schweigend ab.
Er zieht mich enger an sich. »Ich meine, ich hätte nie erwartet, dass ich einmal so empfinde. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemanden wie dich treffe. Ich wollte nach Barnsley zurückkehren und hier ein ruhiges Leben führen. Und dann kommst du eines Tages im Schneesturm angerauscht und stellst meine Welt auf den Kopf.« Er pfeift leise durch die Zähne. »Alice, du hast mich wirklich total überrumpelt.«
Er hält weiter meine Hand und setzt sich langsam in Bewegung. »Ich war von Anfang an hin und weg von dir. Und hab die ganze Zeit dagegen angekämpft, hab mich zurückgezogen und versucht dich zu vergessen, mich cool gegeben, mich wie ein Blödmann aufgeführt, aber egal was ich tat, du bist mir einfach nicht aus dem Kopf gegangen.«
Wie leicht das ist, so Hand in Hand zu gehen.
»Du bist diejenige welche, Alice. Ich habe jahrelang in einer total verkorksten Welt voller Blender gelebt, aber ich kann immer noch erkennen, wenn jemand aufrichtig und ehrlich ist und das Richtige tut - ohne einen Gedanken daran, was dabei für einen selbst abfällt. Das habe ich von Anfang an gemerkt, als du mit Casey bei mir in der Küche gesessen bist und ihm bei seinem Referat geholfen hast. Für dich war da nichts zu holen, aber du hast dein Bestes gegeben. Das tun nicht viele.«
Er zögert. »Bei den Frauen vor dir konnte ich immer den Rückzug antreten. Ich habe mich zwar verliebt, aber das war auch schnell wieder vorbei. Und bei dir wollte ich von Anfang an nicht, dass es so läuft. Ich wollte keine miesen Spielchen mit dir treiben.«
Er hält wieder inne, um seine Gedanken zu ordnen. Ich ordne meine. Jetzt ist alles klar. Ich fühle mich glücklich und zufrieden, und zum ersten Mal seit Langem weiß ich mit Bestimmtheit, dass alles gut werden wird.
Wyatt fährt mit warmer Stimme fort. »Du bist in diesen kleinen Ort gekommen und hast vieles verändert. Du hast Casey verändert, hast ihn glücklich gemacht - nicht nur wegen Mary Lou, sondern weil du wie eine Mutter zu ihm gewesen bist. Du hast Mr. Horner verändert, hast ihn zu neuem Leben erweckt. Du hast die Jungs von der Straßeninspektion dazu gebracht, wieder zu proben. Du bist Rachel eine gute Freundin. Und Dolores reibt mir bei jeder Gelegenheit unter die Nase, dass du die Richtige für mich bist.«
»Dolores?«
»Sie ist ein großer Fan von dir. Und da ist sie in dem Städtchen hier beileibe nicht die Einzige.«
Irgendwie haben wir den Weg zum Mittelpunkt des Labyrinths gefunden. Wir schlüpfen durch den letzten Gang und stehen im Inneren eines Kreises aus Maisstauden. Caseys Opa hat auch hier ein abblätterndes Schild aufgestellt: Ende.
»Aber du hast auch mich verändert. Durch dich sind die ganz gewöhnlichen Dinge wieder zu etwas Gutem geworden. Dank dir hatte ich auf einmal Lust, die Scheune zu streichen und auszureiten, den Garten umzugraben und Abendspaziergänge zu machen. Und ja, dank dir hatte ich wieder Lust zu singen.«
Er schaut zum Himmel empor und zurück zu mir.
»›Take My Hand‹ habe ich für dich geschrieben, Alice. Weil es das ist, was ich empfinde, wenn ich an dich denke.«
»An mich?«, frage ich leicht verwirrt und versuche mich an den Text zu erinnern.
Let me take you to that place
That words cannot reach
Don’t let go, feel us fly
Don’t wonder any more, up into the sky
Take my hand
Hold on tight
Let me lift you up
Over the pain
Over the past
Into my arms.
Mir läuft ein Schauer über den Rücken.
Wyatt zieht mich an sich. »Ich liebe dich, Alice. Bitte bleib hier, bei mir.«
Es ist still und warm. In der Ferne höre ich einen Traktor brummen und rieche süßen Kiefernduft. In unserem Rund aus Mais gibt es nur uns zwei. Wir stehen beieinander, Auge in Auge, die Arme umeinandergeschlungen, und nichts und niemand sonst ist wichtig. Und mit dem Menschen, den ich liebe, hier zu sein, macht diesen Platz zum schönsten auf der Welt.
»Ich bleibe«, sage ich. »Es gibt keinen Ort, an dem ich lieber wäre.«
Zuckerguss und Liebeslieder Roman
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