1. KAPITEL
Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich da einließ. Das möchte ich mal gleich von Anfang an klarstellen. Es gab diverse Andeutungen, ich hätte das Ganze geschickt eingefädelt, bis hin zu der Unterstellung, ich hätte sogar einen Masterplan in der Tasche gehabt, bevor ich London verließ. In Wahrheit hatte ich keinen blassen Schimmer, was da eigentlich ablief, und als mir endlich ein Licht aufging, war es, da werden Sie mir sicher zustimmen, schon zu spät, um noch irgendwas daran zu ändern.
Alles, was dann kam - dass ich etwas mit der Prämierung der besten Milchkuh auf der Ohio State Show zu tun hatte, einen Aufruhr unter den Vollzeitmüttern einer Baby-Krabbelgruppe anzettelte und mich zuletzt in einem Maislabyrinth in Barnsley wiederfand - glauben Sie mir, nichts davon war geplant. Und, der guten Ordnung halber: Ich habe mich auch nie als genesende Alkoholikerin ausgegeben.
Ich bin schlicht davon ausgegangen, es handle sich um einen Montagmorgen wie jeden anderen auch. Stephen war schon zur Arbeit gegangen. Er ist Anwalt für Grundstücksrecht in einer Londoner Kanzlei, und wer da nicht ab halb acht hinterm Schreibtisch sitzt, wird im Umsehen als Teilzeitkraft eingestuft.
Stephen und ich sind ein Paar und im Grunde so gut wie verlobt, und wir wohnen in Southfields, einem Vorort im Süden von London für Leute, die gern ein Viertel weiter in Wimbledon leben würden, es sich aber nicht leisten können. Im Juli findet da (in Wimbledon) das berühmte Tennisturnier in dem berühmten All England Lawn Tennis & Croquet Club statt, gerade mal eine halbe Meile von unserer Wohnung entfernt. Das ist immer mordsaufregend: Ein Haufen Straßen sind gesperrt, und einmal stand ich bei Starbucks in der Schlange sogar neben Chris Evert. Wer entlang der Strecke zum Austragungsort der Tennismeisterschaften einen Garten sein Eigen nennt, baut Stände auf und verkauft selbstangepflanzte Erdbeeren und selbstgemachte Limonade. Stephen und ich haben keinen Garten. Wir hausen in einer winzigen Zweizimmermansarde.
Graham, das ist mein Chef, fängt montags immer später an, weil er da erst mal seine Enkel zur Schule bringt. Trotz seines ernsthaften Gehabes ist er eine Seele von Mensch und hat nichts dagegen, dass ich auch später anfange. Also habe ich die Gunst der Stunde genutzt, um die Arbeitsflächen in der Küche mit meinen Reinigungstüchern von Dettol zu desinfizieren, den Boden zu wischen, was keine große Aktion ist, weil er ungefähr die Fläche eines Badehandtuchs hat, und gleich schon mal unsere Einkäufe per Internet bei Tesco zu bestellen, weil ich das Gefühl hatte, dass diese Woche für mich Arbeit rund um die Uhr angesagt sein könnte. Und da ich aller Voraussicht nach den ganzen Tag nicht vom Computer wegkommen würde und keine Besprechungen auf dem Plan standen, habe ich mich für meine gemütliche schwarze Cordjeans von Marks & Spencer und meine malvenfarbene, dicke Häkeljacke entschieden. Ich arbeite bei Carmichael Music, als Assistentin von Graham, dem Leiter der Zentrale in Großbritannien. In zwei Tagen kommt Phoebe Carmichael, die Tochter unseres Firmengründers Terry Carmichael, zu einer einwöchigen Betriebsprüfung nach London. Ich habe das fiese Gefühl, dass »Betriebsprüfung« für sie so viel wie »Leute feuern« bedeutet.
Ich logge mich aus der Website von Tesco aus - die Prozedur ist schnell erledigt, weil Stephen und ich Gewohnheitstiere sind und jede Woche das Gleiche bestellen - und pflanze mich kurz vor dem Badezimmerspiegel auf, um Lippenstift und ein bisschen mattes Gesichtspuder aufzutragen. Ich gehöre zu den Frauen, an deren Make-up sich seit zwanzig Jahren nichts geändert hat. Ich kaufe alles bei Valerie, Dads langjähriger Freundin, die in ihrer Freizeit als Avonberaterin tätig ist.
Im Augenblick sehe ich ein bisschen käsig aus, weil sich in Southfields schon seit Monaten kein Sonnenstrahl mehr hat blicken lassen; also nehme ich allen Mut zusammen und trage etwas von meinem neuen mineralienhaltigen Puder auf - eine Gratisprobe von Valerie -, das zuvorkommenderweise Grundierung, Rouge und Puder in einem darstellt. Laut Dad hat Valerie als Avonberaterin ihre wahre Berufung gefunden. Sie hantiert souverän mit Tonnen von Make-up, ich hingegen komme, wenn ich mir Grundierung und den ganzen übrigen Kram ins Gesicht gekleistert habe und das Resultat im Spiegel des Damenklos begucke, zu der Erkenntnis, dass das Zeug gar nicht daran denkt, halbwegs natürlich auszusehen. Im Gegenteil: Entlang der Kinnlinie verläuft eine Gezeitenmarke, und um die Augen herum sehe ich aus wie ein verunglückter Panda.
Hmmm. Schwer zu sagen, ob mir das heute besser gelungen ist. In unserem Bad gibt es nämlich kein natürliches Licht, und Stephen kauft immer nur 10-Watt-Energiesparlampen. Vielleicht hätte ich mit dem Spezialpinsel, den es für 2.99 Pfund bei jedem Einkauf dazugibt, nicht ganz so großzügig in meinem Gesicht herumfuhrwerken sollen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass das Ganze mindestens zwei Schattierungen zu dunkel sein könnte. Ich drehe das Töpfchen um und entziffere zu meinem Entsetzen: »Beautiful Bronze«. Dabei habe ich doch immer »Elfenbein«, bei meiner blassen Haut, die durchaus braun wird, wenn bei uns je mal die Sonne scheint. Vielleicht sehe ich mit dem Puder ja aus, als wäre ich frisch aus dem Skiurlaub zurück und hätte dabei gut Farbe bekommen.
Na toll, jetzt ist das Waschbecken mit Mineralpuder gesprenkelt und braucht eine kleine Abreibung. Ich putze das Bad gern täglich; seit es MRSA gibt, diesen fiesen, gegen alles resistenten Virus, kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Für Waschbecken und Toilettenschüssel nehme ich am liebsten das Bleichspray von Tesco, für den Spiegel die Reinigungstücher von Windolene. Die sind zwar nicht ganz billig, aber dafür viel bequemer, und sie machen keine Streifen. Bei uns muss immer alles blitzblank sein, was allerdings bei der Größe unserer Wohnung keine allzu schwere Aufgabe darstellt. Unsere Behausung lässt sich, je nachdem wer spricht, am besten als Kleinod (der Makler), kuschelig (ich) oder als Mauseloch (meine Schwester Teresa) beschreiben: ein weißgetünchtes Schlafzimmer, ein winziges, quadratisches Duschbad und ein offener Wohn-Essbereich, der in eine etwas abgehalfterte Kochnische aus den Achtzigerjahren mündet. Bei unserer Einweihungsparty schüttelte meine Schwester Teresa angesichts der klobigen weißen Provence-Küchenfliesen bloß den Kopf. »Seit Jahrhunderten aus der Mode, Alice. Für das Geld hättet ihr in Surbiton ein anständiges Haus gekriegt«, schnaubte sie verächtlich. Doch später nahm mich Dad in den Arm und gratulierte mir zum »ersten Schritt auf der Immobilienleiter« - da Teresa direkt neben uns stand, verriet ich ihm nicht, dass unser trautes Heim laut Grundbuch Stephen allein gehört.
So, jetzt muss ich nur noch meine bequemen Treter von Clarks zuschnüren - wie gesagt, für heute sind keine Besprechungen angesetzt, und es soll Regen geben -, den Mantel anziehen und mir meine Handtasche greifen. Zurzeit verzichte ich darauf, mir die Haare zu bürsten, weil sie sich dann nur noch übler kräuseln. Stattdessen habe ich das Experiment gestartet, sie mit dem Handtuch so trocken wie möglich zu rubbeln und sie dann, mit dem Kopf zwischen den Knien, durchzuwuscheln. Was, wie ich heute Morgen beim Aufwachen feststellte, nicht so ganz das gewünschte Ergebnis zur Folge hat, wenn man die Übung am Abend zuvor exerziert und sich mit noch leicht feuchten Haaren schlafen legt.
Der Mantel ist so ein bauschiges Teil von Per Una, ein Weihnachtsgeschenk von Dad. Er macht sich ständig Sorgen, dass ich mir beim Warten auf die U-Bahn eine Erkältung holen könnte. Teresa nennt das Ding immer nur den »Schlafsack«. »Sehr praktisch, wenn der Zug irgendwo liegen bleibt, Alice. Da drin finden bestimmt vier Pendler ein warmes Plätzchen.« Die »Handtasche« ist mein treuer Rucksack von Karrimore (genau genommen ein Daypack, weil er kein Tragegestell hat), in dem Geldbörse, Schlüssel, Taschenbuch, antiseptische feuchte Reinigungstücher und eine Thermoskanne Kaffee Platz finden. Stephen und ich haben vor drei Wochen beschlossen, auf Starbucks zu verzichten, um Geld und Kalorien einzusparen. Stellen Sie sich vor, schon nach einer Woche haben wir genug zur Seite gelegt, dass es für den einhändig zu bedienenden Küchenrollenspender aus dem Katalog von Scotts of Stow reicht. Wenn das so weitergeht, habe ich berechtigte Hoffnungen, auch noch zu einer kompletten Garnitur Bettwäsche von Dorma einschließlich passender Vorhänge zu kommen. Was die Kalorien angeht, so lassen die Erfolge an dieser Front noch auf sich warten. Dad sagt, ich sei genau richtig so, aber ich könnte ohne Weiteres ein paar Pfund weniger vertragen. Jahr für Jahr mache ich es den Bären nach und setze weiteren Winterspeck an.
Ich ziehe die Wohnungstür hinter mir zu, verriegle sie sorgsam zweimal - erst das Riegelschloss, dann das Zylinderschloss - und schultere beim Abstieg aus dem dritten Stock den Rucksack. Dann wiederhole ich die Zweimal-Abschließen-Prozedur mit der Haustür - trotz diverser mahnender Erinnerungen an die anderen Wohnungsbesitzer sind Stephen und ich die Einzigen, die sich daran halten. Die Mahnungen waren in fetten Großbuchstaben geschrieben - Stephen hatte eigens einen dicken schwarzen Marker gekauft -, doch selbst das zeigte keine Wirkung. Stephen ist echt gut in so was; er ist die Verantwortung in Person.
Der Anfang meiner Beziehung zu Stephen markierte das Ende einer gewissen Durststrecke in meinem Liebesleben. Um korrekt zu sein, war es eine zweijährige Dürreperiode. Blind Dates, Speed-Dating oder Internet-Chats sind nicht so mein Ding. Bevor ich Stephen kennenlernte, arbeitete ich in der Gemeindeverwaltung von Kingston, wo ich Paul traf, einen kleinen Angestellten bei der Planungsbehörde, mit dem ich zwei Jahre stürmischer Aufs und Abs durchlebte. Paul war weder groß, dunkel noch gutaussehend, aber er konnte gut küssen und leckere Wok-Gerichte zubereiten. Nach drei Monaten im siebten Himmel geriet unsere Beziehung allmählich unter Druck, als Paul zum Nachtdienst beim Einsatzkommando für Lärmbekämpfung versetzt wurde. Und sie verschlechterte sich zusehends, nachdem er ans College zurückging, um sein Diplom als Stadtplaner zu machen. Ab da trug er die Nase immer höher und höher. »Tut mir leid, Alice«, sagte er nach dem ersten Trimester. »Ich glaube, ich muss mir jemanden suchen, der mir intellektuell ebenbürtig ist.« Man hört ja immer wieder von Männern, die einen fallen lassen, sobald man mit ihnen geschlafen hat. Paul war aus ähnlichem Holz geschnitzt: Er wartete, bis ich seine erste Seminararbeit getippt hatte - Pflastergestaltung: Eine Stellungnahme zu den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts -, und ließ dann die Bombe platzen.
Welche Erleichterung, die Bekanntschaft von Stephen zu machen, einem Mann, der im Gegensatz zu Paul bisher nicht ein einziges Mal zu spät oder gar nicht an meinen Geburtstag gedacht hat (dank der Erinnerungsfunktion in seinem E-Mail-Programm). Außerdem unterstützt er mich bei meiner Karriere nach Kräften. Vor meinem Bewerbungsgespräch bei Carmichael Music war ich ein einziges Nervenbündel, dabei hatte Stephen dafür gesorgt, dass ich gründlich vorbereitet war. Er fabrizierte Lernkärtchen mit Schlüsselzahlen über die Top-Performer der letzten vier Jahrzehnte. Als ich nach den wichtigsten Trends in der Plattenindustrie gefragt wurde, konnte ich fünf Minuten, ohne zu stocken oder abzuschweifen, über digitale Download-Technik sprechen. Nach drei Minuten stoppten sie mich. Donny Osmond absolvierte übrigens seinen ersten Fernsehauftritt im zarten Alter von vier Jahren mit dem Song »You Are My Sunshine«.
Rein äußerlich wirkt Stephen wie ein etwas weltfremder Gelehrter oder, sagen wir lieber, wie ein Intellektueller. Er ist groß, fast einen Meter dreiundachtzig, was, wie ich finde, einem Mann gut zu Gesicht steht. Er ist außerdem sehr schlank und hat feines, sandfarbenes Haar, das er im Nacken länger trägt, wie Andrew Ridgeley, die eine Hälfte des mittlerweile ausgemusterten 80er-Pop-Duos Wham! Außerdem hat er eine meines Erachtens sehr markante Adlernase. Teresa sagt, mit Kontaktlinsen und einem anständigen Haarschnitt würde er zehn Jahre jünger aussehen, aber er geht nun schon seit einer Weile immer zum Junior-Stylist-Abend beim Friseur um die Ecke und sieht keinen Grund, daran etwas zu ändern.
Draußen ziehe ich zum Schutz vor dem rauen Märzwind, der durch die Straßen pfeift, den Reißverschluss bis zum Kragen hoch. Ungefähr die Hälfte der dreistöckigen Häuser hier ist in Eigentumswohnungen umgewandelt worden, der Rest ist bei Familien heißbegehrt. Alle Häuser haben hübsche Haustüren mit Buntglasfenstern sowie Blumenkästen, die im Sommer ein geschmackvolles Sortiment von Geranien ziert. Im Augenblick enthalten sie nichts außer kahler Blumenerde. Unsere Nachbarn in Southfields sind verheiratet und haben pro Paar zwei Kinder und einen Hund. Die Mütter fahren Volvo-Kombis, die Väter diese Audi-Geschosse. Die Hunde sind entweder Labradors, Scotchterriers oder Spaniels. Wir winken uns zur Begrüßung zu, aber mehr an gesellschaftlichem Kontakt gibt es nicht, weil Stephen und ich kinder- und hundelose Lebensabschnittsgefährten sind.
Ich biege in die Replingham Road ein, gehe an dem großen Lebensmittelladen und schnell auch an Starbucks vorbei, damit ich nicht doch in Versuchung komme, mir eine heiße Schokolade zu holen. Dann bin ich bei der U-Bahn. Während ich auf dem Bahnsteig auf einen Vorortzug Richtung Kensington High Street warte, der laut Anzeigetafel in drei Minuten eintreffen wird, kommt mir die deprimierende Erkenntnis, dass ich den Gedanken an Phoebe Carmichael nicht länger verdrängen kann.
Zuckerguss und Liebeslieder Roman
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