25. KAPITEL
Eine Stunde später, und meine Stimmung ist noch tiefer im Keller als mein Kuchen. Wie kann das bloß sein? Der Kuchen ist absolut, definitiv nicht so, wie er sein sollte. Was da die beiden Formen »füllt«, gleicht jeweils einem Pfannkuchen, der an der dicksten Stelle vielleicht gerade mal knapp einen Fingerbreit hoch ist, und das ist noch optimistisch geschätzt. Ich bin der Verzweiflung nahe. Nein, ich bin verzweifelt.
Ich glaube, ich habe das Backpulver vergessen.
Wen soll ich um Hilfe bitten? Wyatt kann nur warmes Frühstück zubereiten. Rachel hat mir gestanden, dass sie für ihre Brownies immer eine Fertigmischung von Betty Crocker nimmt. Und Bruce, der Profikoch, wird sagen, dass mein Teig nicht ohne Grund beim Backen sitzen geblieben ist.
In England wäre das alles halb so wild. Dort sähe mein Kuchen ganz normal aus. Aber hier in den USA haben die meisten Torten drei oder gar vier Schichten, jeweils mit Füllung dazwischen und Glasur rundherum. Die reinsten Wolkenkratzer. Wie sollen wir da mithalten?
Ich muss weiter positiv denken. Also hole ich tief Luft und stelle mir die Frage: »Was würde Dr. Vaizey in dieser Situation tun?« Ich schließe die Augen. Er sitzt in seinem braunen Ledersessel und schenkt mir ein warmes Lächeln mit, wie ich finde, mehr als nur einem Hauch von Zuneigung. »Alice«, sagt er ruhig, »Sie haben Ihr Pulver noch nicht verschossen - Ihr Backpulver! Schneiden Sie beide Tortenböden in der Mitte durch und schichten Sie sie mit viel Buttercreme übereinander zu einer halben Vierlagentorte. Denken Sie sich irgendwas dazu aus, was mit der anderen Hälfte passiert ist. Lieber lügen als sich von dieser blöden Kuh Heidi lächerlich machen lassen.«
Ich öffne die Augen wieder. Wow! Dr. Vaizey hat sich in den drei Monaten, die ich nun schon in Ohio bin, gewaltig verändert. Er ist sehr viel entspannter und lebensklüger geworden. Ich greife zum Messer.
Zwei Stunden später steht eine wahrhaft imposante halbe Torte vor mir, eben hoch genug, um als amerikanisches Backwerk durchzugehen, obwohl mir für die Glasur des Deckels die Buttercreme ausgegangen ist. Macht nichts, ich bestreue ihn einfach mit Zucker. Außerdem schaffe ich es jetzt nicht mehr, die Scones zu backen, und die Gurkensandwichs sind nicht ganz so proper, wie sie sein sollten. Fürs Umziehen, Schminken und Haarewaschen wird die Zeit ebenfalls zu knapp, aber Hauptsache, ich habe eine (halbe) Geburtstagstorte vorzuweisen.
Als Erste kommt Dolores hereingehumpelt - ihr neues Kniegelenk macht ihr weiter zu schaffen. »Oh, Alice, hübsche Torte«, sagt sie. »Hast du etwa schon ein bisschen davon genascht?«
»Hmm.«
Sie präsentiert zwei Tupperdosen. »Spinat-Dip«, sagt sie, »und ein paar Brownies.« Sie schaut sich in der Küche um und nickt anerkennend. »Ich sehe schon, du hast Wyatt ordentlich arbeiten lassen.«
Dolores ist Wyatts Putzfrau, aber in Wahrheit hat sie das Sagen. Ein oder zwei Mal habe ich ihn dabei erwischt, wie er vor ihrem Eintreffen heimlich aufgeräumt hat. Nachdem Dolores darauf bestand, wieder zur Arbeit anzutreten, nahm Wyatt mir das Versprechen ab, ihr nicht beim Putzen zu helfen.
»Wenn Dolores es nicht schafft, mache ich es selbst«, erklärte er energisch. »Versprechen Sie’s mir, Alice«, fügte er noch ernst hinzu.
»Versprochen«, sagte ich, kreuzte dabei allerdings hinter dem Rücken die Finger. Sobald er draußen war, machte ich mich an die Fenster und Fußböden. Erwartet er im Ernst, dass ich faul herumsitze und Däumchen drehe, wenn es etwas zu putzen gibt?
Dolores ist eine Frohnatur und völlig vernarrt in Madison, ihre Enkelin. »Die wird das Schicksal dieser Familie wenden«, sagt sie, »wenn du ihr bei Barnsley sucht den Superstar hilfst.«
Wenn wir Fenster putzen und sie zu den Dächern von Barnsley hinüberschaut, gerät Dolores manchmal in Grübelstimmung. »Ehrlich, Alice, ich weiß einfach nicht, was ich bei Madisons Mutter falsch gemacht habe. Jeden Sonntag bin ich mit ihr in die Kirche, jeden Abend habe ich mit ihr die Bibel gelesen. Unter der Woche gab’s kein Fernsehen, und so was wie Cosmopolitan kam mir nicht ins Haus. Und kaum ist das Mädel achtzehn, brennt sie mit diesem Nichtsnutz nach Kalifornien durch.« Der Nichtsnutz ist Madisons Vater - weiter ist über ihn aus Dolores nichts herauszuholen. An dieser Stelle schüttelt Dolores jedes Mal den Kopf. »Wieso war’s ihr denn nicht gut genug hier?«
Dolores ist kein Klatschmaul, aber manchmal lässt sie die eine oder andere pikante Andeutung fallen. Gerry und Heidi, erzählte sie mir einmal so nebenbei, seien in der Highschool ein Pärchen gewesen. »Oooh, er hat ein böses Spiel mit ihr getrieben. Aber mehr sage ich nicht dazu.«
Nach dieser Eröffnung war ich gottfroh, dass ich die Beziehung zu Wyatt auf einer strikt beruflichen Ebene belassen habe. Nichts gegen einen flotten Dreier, aber am Ende hätte ich mich noch in einem stürmischen Vierer mit Heidi, Gerry und Wyatt wiedergefunden.
Natürlich habe ich mich beim Putzen immer auf das Erdgeschoss beschränkt und mich nie nach oben zu Wyatts Schlafzimmer vorgewagt. Gut, okay, einmal habe ich hineingelugt. Ein sehr männliches Zimmer, mit einem großen Doppelbett aus Eiche, einer antiken Kommode und einem begehbaren Schrank voller sehr männlicher Kleidungsstücke wie Jeans und robusten Flanellhemden.
Dolores packt ihre Brownies aus. Als Nächste kommt Rachel mit Baby Dale, gefolgt von Bruce mit einer Mordsblätterteigpastete.
»Die Füllung besteht aus Ziegenkäse, sonnengetrockneten Tomaten und Spinat«, erläutert er.
Dann kommt Wyatt mit Casey und dessen beiden Freunden Connor und Jackson vom Feld hinterm Haus zurück. Es rührt mich sehr, dass Casey nun doch seine Kumpels mit eingeladen hat!
»Ihr müsst das englische Zeug nicht essen, wenn ihr nicht wollt«, höre ich im nächsten Moment Casey, nicht leise genug, zu seinen Freunden sagen, als sie durch die Küchentür geschossen kommen. »Es gibt auch was Richtiges.«
Wyatt schickt sie zum Händewaschen und schenkt allen etwas zu trinken ein. Dann macht Casey die restlichen Päckchen auf - von mir hat er eine Jeans von Abercrombie & Fitch bekommen und von Dolores ein Buch mit Bibelgeschichten. Ich plaudere ganz entspannt mit Bruce und erfahre dabei, dass er früher in der Küche des berühmten New Yorker Hotels Carlyle gearbeitet hat. Er sagt, es sei berühmt, ich habe noch nie davon gehört. »Es war harte Arbeit, Alice, aber eine fantastische Ausbildung. Was nicht perfekt war, hat diese Küche nicht verlassen. Wenn ich das so sagen darf, mit meinen Soufflés habe ich mir dort durchaus einen Namen gemacht.«
Bruce ist eigentlich ganz okay. Er nimmt sein AA-Ding sehr ernst, aber das ist gut, weil Alkoholiker nicht tratschen dürfen und er, soweit ich weiß, Wyatt nichts von Gerrys kleinem Ausrutscher auf schlüpfrigem Untergrund erzählt hat.
Ja, alles ist bestens; allmählich werde ich entspannter und habe Spaß an der Feier.
Dann tritt Heidi auf den Plan.
Sie trägt ein ärmelloses weißes Sommerkleid, das ihre sonnengebräunte Haut zur Geltung bringt, hochhackige Riemchensandalen, aus denen ihre Füße nicht links und rechts herausquellen, und eine lässig ins Haar geschobene Sonnenbrille von Ralph Lauren. Klar, sie hat ja auch den ganzen Tag Zeit gehabt, um sich schön zu machen, wo jetzt Schulferien sind. Sie kommt in die Küche geklackert, ruft zur allgemeinen Kenntnisnahme laut »Hiiiii« - und sieht mich. Einen Augenblick bleibt sie stocksteif stehen. Ich beäuge den riesigen runden Tupperbehälter in ihren Händen, und sie starrt auf meine Schürze.
Ihre Lippen kräuseln sich.
»Die Schürze kommt mir bekannt vor, Alice. Wieso bloß? Ach, das ist ja meine.« Sie geht auf mich zu. Die anderen sind durch Casey abgelenkt, der eben das Geschenk von Bruce auspackt - ein Pflegeset für Mary Lou. Das nutzt Heidi und zischt mir zu: »Die Schürze einer anderen Frau zu tragen. Gibt es denn gar nichts, wozu ihr Briten euch nicht erniedrigt?«
Bevor ich antworten kann, kommt Casey mit einer Striegelbürste in der Hand zu mir geflitzt. »Schauen Sie mal, Alice. Genau so was habe ich mir schon immer gewünscht.«
Mit einem eingefrorenen Lächeln auf den Lippen geht Heidi zum Küchentisch, schiebt verächtlich meinen Victoria-Biskuitkuchen beiseite und enthüllt mit großer Geste die riesigste Torte, die ich je gesehen habe.
»Eine Devil’s Food-Torte mit drei Schichten Schokolade und Schlagsahne und weißer Schokolade-Buttercreme-Glasur«, sagt sie obenhin. »Hoffentlich magst du sie, Casey. Die Idee ist mir erst in letzter Minute gekommen.« Sie schaut auf meinen Kuchen. »Zum Glück.«
Oben ziert die Torte Caseys Name in Zuckerguss, neben einer Marzipankuh auf einer Weide aus Schokosplittergras. Casey ist wie der Blitz beim Küchentisch, flankiert von Connor und Jackson, und alle drei starren mit weit aufgerissenen Augen und hungrigem Blick Heidis Torte an.
»Kann ich was davon haben?«, fragt Casey.
»Kann ich auch was davon haben?«, fragen Connor und Jackson.
»Erst ein bisschen Pastete mit Ziegenkäse und Spinat«, sagt Wyatt rasch.
Heidi dreht sich um und kommt langsam wieder auf mich zu, wie ein Hai, der sich einem Kabeljau nähert. Sie deutet zum Tisch. »Das ist also Ihr kleiner britischer Kuchen, Alice.« Sie lächelt geziert. »Wie charmant. Sie haben ihn oben ja gar nicht glasiert. Was für eine nette, schlichte Note!« Dann runzelt sie melodramatisch die Stirn. »Wo ist denn die andere Hälfte?«
»Ich glaube, Alice hat schon ein bisschen was probiert, bevor wir gekommen sind«, sagt Dolores zuvorkommend.
Wyatt und Bruce tauschen einen Blick. »Sie haben einen halben Kuchen gegessen, Alice?«, fragt Bruce irritiert.
»Nein!« Ich spüre, wie ich rot werde. Ich muss eine Erklärung liefern - und zwar schleunigst, bevor Bruce bei mir eine Essstörung diagnostiziert.
»Es ist eine britische Tradition«, sage ich. Hoffentlich stellt niemand weitere Fragen dazu.
»Woher kommt diese Tradition, Alice?«, fragt Heidi.
»Die ist schon uralt«, sage ich. »Wie geht’s mit dem Knie, Dolores?«
Dolores guckt etwas überrascht, vermutlich weil sie mir bei unserer gestrigen Putzaktion alles Wissenswerte über ihr Knie mitgeteilt hat.
»Du siehst schon wieder viel besser aus, Dolores«, sagt Heidi munter. »Also, Alice. Sie wollten uns etwas über die uralte britische Tradition erzählen, nach der man seinen Gästen bei einer Geburtstagsparty einen halben Kuchen serviert.« Sie lacht schrill. »Es klingt schier unglaublich. Sicher wollen Sie es uns erklären?«
»Meine Güte, Alice, wie interessant«, sagt Rachel, setzt sich hin und füttert Baby Dale mit Bananenbrei. »Erzähl uns mehr davon!«
Mein Hirn ist ratzeputz leer gefegt. Unzusammenhängende Fakten aus der britischen Geschichte blitzen vor mir auf.
Queen Victoria.
Heinrich VIII. und seine sechs Frauen.
Die spanische Armada.
Hoffnungslos. Nichts davon ist brauchbar.
Die Magna Carta.
Die Pest.
Ja, das ist es! Die Pest! »Es hat mit der Pest zu tun«, sage ich zuversichtlich.
»Mit der Pest«, echot Bruce, legt ein Gurkensandwich beiseite und glotzt meinen Kuchen an.
»Die Pest«, wiederhole ich planlos. Ich kann mich nicht an das Datum erinnern. »Die Pest in alten Zeiten. Manchen Schätzungen zufolge ist dabei die Hälfte der Bevölkerung dahingerafft worden. Und wenn dann ein Fest gefeiert wurde, kam die Hälfte der Gäste nicht, weil sie tot waren. Deshalb ging man dazu über, nur einen halben Kuchen zu machen.«
»Wow«, sagt Bruce. »Das ist aber wirklich eine interessante geschichtliche Tatsache, Alice.«
»Hmmm«, kommt es von Heidi. »Ich habe noch nie was davon gehört.«
»Wir Briten sprechen nicht allzu viel darüber. Aber es zählt zu unseren stolzen Traditionen. Heinrich der Achte ist bei den Geburtstagen all seiner sechs Frauen danach verfahren.« Wyatt wirft mir einen langen, prüfenden Blick zu. Aber jetzt habe ich mich schon zu tief hineingeritten. »Traditionell beginnen sämtliche Kindergeburtstage in Großbritannien mit einer Schweigeminute zum Gedenken an alle, die der Pest zum Opfer gefallen sind.«
Dolores stellt ihren Teller ab, den sie mit Pastete, Sandwichs, Brownies und Spinat-Dip vollgeladen hat. »Oooh, Alice. Ich fühle mich ganz schrecklich, jetzt was zu essen, wo ihr damals so gelitten habt.«
Rachel ist immer sehr einfühlsam. »Du liebe Zeit, Alice. Du musst ja denken, wir hätten keine Manieren.« Sie greift nach Wyatts Teller. »Leg das Sandwich hin, Wyatt.«
Bruce kommt her und legt mir die Hand auf die Schulter. »Es tut mir so leid, Alice. Bitte - nur zu.«
»Was?«
»Wir müssen eine Schweigeminute einlegen.«
»O ja, Alice«, sagt Heidi. »Und dann können Sie ein paar passende Worte zu dem Anlass sagen.«
»Stellt euch im Kreis auf«, sagt Bruce. »Halten wir uns an den Händen!«
Wir bilden eine Runde. Ich halte Caseys und Bruces Hand und räuspere mich. »Wir werden nunmehr nach britischer Tradition eine Schweigeminute einlegen«, sage ich. Vielleicht vergessen sie ja, dass ich was sagen soll.
»Bevor Sie zu uns sprechen«, setzt Heidi hinzu.
Ich schließe die Augen. Es ist totenstill, nur Casey schuffelt neben mir mit dem Fuß. Wieder herrscht gähnende Leere in meinem Hirn. Das einzige Bild, das mir vor Augen steht, ist Bob, der einen Krabbentoast isst und über die Pest redet. Wir stehen eine Minute so da, und dann noch eine. Bruce hüstelt. Heidi hüstelt.
Ich mache den Mund auf und wieder zu. Genau, ich muss einfach lockerlassen und sagen, was mir gerade in den Sinn kommt. Ich öffne die Augen. Alle anderen haben ihre noch geschlossen und die Köpfe gesenkt, außer Wyatt, der mich angrinst. Ich starre ihn in heller Panik an wie ein Kaninchen, das bei einer fetten Lüge erwischt worden ist. Ich bin vollständig gelähmt.
Dann sagt Wyatt beiläufig: »Haben Sie nicht etwas vergessen, Alice? Als ich so was zum letzten Mal miterlebt habe, gab es danach einen Tanz.«
»Einen Tanz«, wiederhole ich mit schwacher Stimme.
»Ja«, sagt er sachlich. »Einen Tanz zur Feier für alle, die die Pest überlebt haben.«
Bevor ich einen Gedanken fassen kann, fängt er an, »Greensleeves« zu pfeifen, kommt quer durch das Zimmer auf mich zu und hakt sich bei mir ein, wirbelt mich herum und lädt mich neben Bruce ab, der seinem Beispiel folgt. Dolores humpelt zu Heidi und nimmt ihren Arm, und nach kurzem Zögern packt Rachel sich Baby Dale auf die Hüfte und hakt sich bei Casey ein. Connor und Jackson wechseln einen Blick und verziehen sich. Dann tauschen wir allesamt die Partner und absolvieren drei weitere Runden.
Bruce strahlt übers ganze Gesicht. »Alice, vielen Dank, dass Sie uns an uralten britischen Traditionen teilhaben lassen. Es ist uns eine Ehre. Sie haben mich wirklich beflügelt, Großbritannien zu besuchen. Ich nehme an, Sie haben noch viele weitere solcher Gepflogenheiten.«
Wyatt schaltet sich ein. »Jede Menge. Aber jetzt sollten wir uns mal dem köstlichen Kuchen widmen.« Er nimmt Casey beim Arm und lotst ihn zum Tisch. »Du willst doch sicher ein Stück von beiden, nicht wahr, Casey?« Er mustert ihn eindringlich.
»Ich hätte gern ein Stück von beiden, bitte«, sagt Casey pflichtschuldig, ohne den Blick von Heidis Marzipankuh zu wenden.
Zuckerguss und Liebeslieder Roman
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