33. KAPITEL
Es ist Mittwochmorgen, und ganz ehrlich: Ich weiß nicht, wie ich die Woche bis jetzt ohne Stephen und seinen farbig markierten Stundenplaner für den Cupcake-Wettbewerb überstanden hätte. Montag hatten wir eine Strategiebesprechung, Dienstag fuhren wir nach Columbus, um uns bei Cake Universe, Ohios größtem Einzelhandelsgeschäft für Dekorationszubehör im Backwarensektor, mit der entsprechenden Ausrüstung einzudecken, und heute Abend testen wir die ersten sechs Rezepte, drei mit Vanille, zwei mit Schokolade und eins mit Zitrone - bei Letzterem gehen wir auf Tuchfühlung mit der Welt der Extravaganz. Mein Hirn ist völlig ausgelaugt. Gestern mussten wir uns entscheiden, ob die Fahrt nach Columbus auf dem Cupcake-Planer mit blauer (für »Recherche«) oder mit brauner Tinte (für »Planung«) markiert werden sollte. Letztendlich konnten wir uns nicht entscheiden und haben eine neue, gelbe Kategorie (für »Einzelhandelsaktionen«) eingeführt.
Als wir auf dem Parkplatz von Cake Universe den Kofferraum fertig beladen hatten, begutachtete Stephen unsere Bestände. »Sechzig Einmal-Glasiertüten. Zwanzig Fläschchen mit Lebensmittelfarbe. Und zweihundert bunte Papierförmchen.« Mit hoch erhobenem Kopf und vorgerecktem Kinn schlug er den Kofferraumdeckel zu. »Auf in die Schlacht!«
Wir werden natürlich nicht zweihundert Cupcakes präsentieren - diese Zahl erlaubt uns das, was Stephen als »komfortablen Sicherheitsspielraum« sowohl beim Backen als auch beim Glasieren bezeichnet. Stephen erachtet es außerdem als wichtig, dass ich so sehr wie irgend möglich einer nicht mehr ganz jungen Einheimischen gleiche, weswegen wir uns morgen auf die Suche nach einem sackartigen Halloween-Sweatshirt machen werden. Ja, es sind noch Wochen bis Halloween, aber hier sind die Vorbereitungen bereits in vollem Gang und alle schwer damit beschäftigt, ihre Häuser und sich selbst entsprechend zu dekorieren. Orangefarbene Sweatshirts mit Kürbissen sind groß in Mode, und entlang der Straße nach Barnsley stehen überall schwarze Hexenkessel aus Plastik neben den Zufahrten. Hexen baumeln von Bäumen, und künstliche Spinnweben hängen an den Haustüren. Mengenweise Plastikgrabsteine im Vorgarten erfreuen sich ebenfalls großer Beliebtheit.
Wir sind jetzt gerade mit dem Frühstück fertig, und Stephen hat den Cupcake-Planer auf dem Küchentisch ausgebreitet. Jede vergangene Stunde ist säuberlich mit Rotstift waagerecht durchgestrichen. Daneben liegen die Wettbewerbsregeln, und wiederum daneben das Allerwichtigste, die Tabelle mit den Glasurentwürfen. Es war Stephens Idee, uns eine Kopie der Wettbewerbsregeln zu besorgen, und er hat mit seinem geschliffenen juristischen Verstand alle vertrackten Passagen durchleuchtet. Stephen hat auch höchstpersönlich mein Teilnahmeformular ausgefüllt und zur Gemeindeverwaltung von Barnsley gebracht, deren Büroräume in etwa die Größe eines Dixi-Klos haben. Die Frau bei der Abteilung für Freizeitgestaltung und Erholung (die außerdem auch noch die Ressorts Planung und Schulen verwaltet, weil Barnsley nicht besonders groß ist) hat gesagt, bisher habe noch nie jemand auf einer Quittung bestanden. Aber offenbar war sie sehr freundlich - in der Gemeindeverwaltung von Barnsley geht es recht formlos zu. Laut Stephen standen auf ihrem Schreibtisch eine brennende Duftkerze in Form eines fülligen weißen Gespensts und eine Schale mit Halloween-Süßigkeiten.
Stephen erzählte mir, er habe sie mit seinem britischen Akzent becirct und ein paar Insiderinformationen aus ihr herausgelockt. Bisher sind einschließlich Heidi und mir sieben Teilnehmerinnen registriert, und die Jury besteht aus Mr. Horner, dem Bürgermeister und einer Hauswirtschaftslehrerin von der Highschool. Ich war derweil zu Hause geblieben und hatte mit meinem neuen Spritzguss-Set (fünfundzwanzig verschiedene Aufsätze) geübt, Sterne, Rosen und Girlanden aus Buttercreme zu fabrizieren. Stephen behauptet, angesichts unserer knappen Personalsituation und der Tatsache, dass wir auf feindlichem Territorium operieren, bliebe uns nur die Guerillataktik mit Blitzangriffen.
Im Augenblick halten wir eine geheimdienstliche Besprechung ab.
»Wir müssen davon ausgehen, dass die Hauswirtschaftslehrerin, sollte es unentschieden stehen, für Heidi stimmt«, sagt Stephen und klopft mit seinem Druckbleistift auf den Küchentisch. »Bleibt noch der Bürgermeister.«
»Ich gehe heute ins Diner und versuche an ein paar Informationen zu kommen …«, sage ich.
»… während ich weiter an den Entwürfen arbeite«, setzt Stephen meinen Satz fort. »Sieh dich vor da draußen, Alice. Wände haben Ohren!« Er deutet durchs Fenster zu Wyatts Haus.
Ich muss zugeben, dass wir ein eindrucksvolles Team abgeben. Und dass Stephen mit seiner Warnung vor Wyatt recht hat. Er würde Heidi unsere Pläne nicht mit Vorbedacht verraten, das nicht. Aber es könnte ihm ja unabsichtlich etwas herausrutschen. Aus diesem Grund haben wir uns verschiedene Gegenspionagetaktiken angeeignet, die wir Stephens Lieblingsschriftsteller verdanken: Andy McNab, dem berühmten, verdeckt arbeitenden Agenten der Speziallufteinheit SAS, der später zum Bestsellerautor mutiert ist. Die alles entscheidenden Entwurfsunterlagen befinden sich in einer Mappe mit der listigen Aufschrift »Stephens Flugticket«, und die Cupcakes backen wir erst heute Abend im Schutz der Dunkelheit. Natürlich haben wir auch ein Codewort - Operation Martha.
Stephen fährt mit dem Finger über das Din-A-4-Blatt mit den Wettbewerbsregeln und seufzt. »Sehr schlampig formuliert, aber zum Glück kommt uns das zugute.« Er zitiert: »Der erste Preis wird derjenigen Teilnehmerin verliehen, die nach Ansicht der Jury die beste Auswahl an selbstgebackenen glasierten Cupcakes eingereicht hat. Die Mindestanzahl der einzureichenden Gebäckstücke beträgt sechs.«
Wohlgemerkt, er liest das nicht vor, nein, er sagt es auf, weil er mittlerweile sämtliche Regeln auswendig kennt. »Hier steht nirgendwo, dass die Cupcakes von der Teilnehmerin selbst gebacken sein müssen«, sagt er kopfschüttelnd. »Ein elementarer Fehler, der es mir jedoch erlaubt, dir behilflich zu sein, ohne fürchten zu müssen, dafür haftbar gemacht zu werden.« Er lehnt sich zurück. »Bewertet werden sowohl Geschmack als auch Gestaltung und Verzierung.« Ein weiteres Zitat. Er schüttelt wieder den Kopf. »Aber in welchem Verhältnis zueinander? Zehn Prozent Geschmack, neunzig Prozent Gestaltung? Oder umgekehrt? Skandalös, dass die Bewertungskriterien nicht schriftlich festgehalten sind. Die unterlegenen Teilnehmerinnen könnten das Oberste Gericht von Ohio anrufen, mit der Begründung, dass die Regeln nicht hinreichend deutlich formuliert sind.«
Bei dem Wort »unterlegen« wird mir flau im Magen.
Stephen seufzt. »Es ist zwingend erforderlich, dass wir heute Abend alle sechs Cupcake-Rezepte ausprobieren. Wenn wir um acht Uhr anfangen, sollten wir um vier Uhr morgens fertig sein. Ich sage nicht, dass es ein Kinderspiel wird, Alice. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«
Was Andy McNab, der erfolgreiche Schriftsteller und vormalige Kampfpilot, wohl sagen würde, wenn er uns jetzt so sehen könnte?
Beim Anblick von Stephen, der nun Lineal und roten Stift zur Hand nimmt und das Kästchen »8 bis 9« für Mittwoch auf dem Planer durchstreicht, durchzuckt mich zum ersten Mal seit seiner Ankunft etwas wie Zuneigung zu ihm. Er hat sich mit wahrer Begeisterung in dieses Unternehmen gestürzt und dabei bisher schon mit einigen tief sitzenden, persönlichen Ängsten zu kämpfen gehabt. Die Strecke zu Cake Universe und zurück bin ich gefahren. Aber er hat unterwegs mehrmals tief Luft geholt und immerhin den Haltegriff über der Tür losgelassen.
Stephen legt den Stift hin und sieht mit einem Mal verändert aus. So seltsam es klingt, sein Gesichtsausdruck lässt sich am besten als eine Kombination aus Erleichterung und körperlichem Unwohlsein beschreiben und ist mir von unseren bisherigen gemeinsamen Reisen wohlbekannt.
Wichtig ist vor allem, ihn in dieser entscheidenden Phase bei Laune zu halten. Ich werfe ihm einen aufmunternden Blick zu. »Wie stehen die Chancen?«
Er antwortet mit Verzögerung. »Ich bin vorsichtig optimistisch.«
Alles klar. Ich schnappe mir meinen BlackBerry und stehe auf. »Dann räume ich mal das Feld.«
Hier zählt jede Minute. Ich sollte an dieser Stelle wohl erklären, dass Stephen seit jeher unter einem Reizdarmsyndrom leidet und die Überquerung des Atlantiks verheerende Auswirkungen auf seine unabdingbare Morgenroutine gehabt hat, die zu Hause so abläuft, dass er sich um sieben Uhr früh mit der neuesten Ausgabe des Spectator ins Bad zurückzieht. Was für ein Segen, dass es in den USA Actimel zu kaufen gibt. Und Kleiemüsli, aber davon hat Stephen selbst eine Packung mitgebracht.
Wie der Blitz stopfe ich meinen BlackBerry in die Handtasche und bin auch schon bei der Tür. Das Haus darf ich mindestens zwanzig Minuten lang nicht wieder betreten. Wenn Stephen unterbrochen wird oder ihn etwas nervös macht, stehen ihm am Ende weitere unerquickliche Tage bevor.
»Wünsch mir Glück!«, ruft er mir nach, als ich die Tür öffne.
Es kommt mir vor, als wären wir nie getrennt gewesen.
Zuckerguss und Liebeslieder Roman
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