14. KAPITEL
Vor lauter Angst, Sheriff Billy hinten
draufzufahren, bekomme ich von der Strecke nach Barnsley kaum was
mit. Aus den Augenwinkeln erspähe ich weitere Felder und ungefähr
jede Viertelmeile ein schmuckes Haus mit einem Flaggenmast im
Vorgarten. Dann haben wir den Ort erreicht und passieren eine weiß
getünchte Kirche sowie, etwas weiter, ein Riesenschild mit der
Aufschrift »Barnsley High School. Bowling-Champions des Staates
Ohio«.
Wir biegen auf einen kleinen Hauptplatz mit einer
Statue in der Mitte und diversen Läden in hübschen Ziegelbauten
ein. Obwohl es erst Mittag ist, sind alle Lichter an und leuchten
gelb durch das dichte Schneetreiben. Es gibt einen
Gemischtwarenladen und ein Postamt, einen Drugstore, einen
Doughnut-Laden und ein altmodisches Friseurgeschäft mit einem
rotweiß gestreiften Mast davor.
Sheriff Billy parkt vor einem Restaurant, dessen
zwei Flachglasfenster bis zur halben Höhe mit blauen
Baumwollgardinen verhängt und mit der bogenförmig gemalten
Aufschrift »The Blue Ribbon Diner« verziert sind. Über der Tür
hängt ein beleuchtetes Schild, das die Form einer
blauen Rosette hat. Ich komme schlitternd neben Sheriff Billy zum
Stehen. In England wären die Straßen mittlerweile wie ausgestorben,
aber hier scheint sich niemand von dem Wetter aufhalten zu
lassen.
»Nicht nötig abzuschließen«, sagt er lachend, als
er mich mit dem elektronischen Schlüsselanhänger herumfuchteln
sieht.
Wir machen, dass wir hineinkommen. Sheriff Billy
nimmt den Hut ab, als er die Tür aufdrückt, an der oben eine laut
bimmelnde Kuhglocke befestigt ist.
Hinter einem langen Tresen, auf dem Kuchen und
Pasteten unter Glashauben stehen, braten zwei weiß beschürzte
Köchinnen Speck, schleudern Pfannkuchen in die Luft und albern mit
den Gästen, die auf hohen Hockern an dem Tresen sitzen. Die andere
Seite des Raums nehmen zwei Reihen Tische und Polsterbänke aus
marineblauem Vinyl ein.
»Celeste!«, ruft Sheriff Billy.
Eine spindeldürre Kellnerin mit Rüschenschürze und
knallrotem Lippenstift eilt herbei.
»Das ist meine Frau Celeste«, sagt er und gibt ihr
ein Wangenküsschen.
Sie strahlt mich an. »Herzlich willkommen,
Schätzchen. Tasse Kaffee?«
Sie wartet meine Antwort nicht ab. Hoffentlich ist
er nicht zu stark. Ich werde schnell ein bisschen reizbar, wenn ich
zu viel davon erwische.
Sheriff Billy geht zur Tür und greift nach der
Kuhglocke. Für den Bruchteil einer Sekunde kommt mir eine
scheußliche Vorahnung, was folgen könnte. Es folgt.
Doing, Doing, Doing macht
die Kuhglocke. Alle drehen sich um und starren mich an.
»Hey!«, ruft Sheriff Billy. Er zeigt auf mich.
»Die junge Dame hier ist den ganzen weiten Weg von England
hergekommen, um uns im Blue Ribbon einen Besuch abzustatten.«
Er wendet sich zu mir. »Wie heißen Sie,
Schätzchen?«
»Alice«, murmle ich.
»Alan«, brüllt er. Gott, ist das furchtbar. Die
Gäste winken im Kollektiv. So muss es sich anfühlen, wenn man
Madonna heißt.
Sheriff Billy sieht mich nachdenklich an.
»Interessant. In Amerika ist Alan ein Männername.«
»Ja«, setze ich zu einer Erklärung an, »in England
auch.«
Aber er hört mich nicht, weil er schon zum Tresen
unterwegs ist. »Ich stell Ihnen die anderen vor«, ruft er über die
Schulter hinweg.
Und dann geht’s rund.
»Das ist Jim. Ihm gehört die Bowlingbahn.«
»Das ist Paul. Genau der Richtige, falls es
irgendwelche Termitenprobleme gibt.« Ich komme nicht dazu zu
fragen, was ein Termitenproblem ist.
»Und das ist Gerry.« Sheriff Billy macht keine
Angaben zu Gerrys Tätigkeit, und so wie Gerry aussieht, hat er es
womöglich nicht nötig zu arbeiten. Er trägt eine teuer wirkende
braune Lederjacke, und seine Autoschlüssel, die vor ihm auf dem
Tresen liegen, haben einen Schlüsselanhänger von Mercedes. Er hat
glatt nach hinten gekämmtes, strohblondes Haar und sehr
eindringliche blaue Augen. Er schüttelt mir die Hand und hält sie
ein bisschen zu lange fest. »Wie geht’s, Alan?«
»Alice.«
»Alice«, wiederholt er langsam, den Blick auf mich
geheftet.
Er sieht wirklich sehr gut aus. Aber dann platzt
Sheriff Billy dazwischen. »Auseinander, ihr zwei!«
Wir begrüßen die Köchinnen, Nancy und Dolores,
schreiten dann durch den Mittelgang die beiden Tischreihen ab und
bleiben bei jedem Mittagsgast auf ein freundliches Wort stehen:
Farmertypen in Latzhosen, zwei ältliche Damen mit eisblau gefärbten
Haaren und die vier Mitglieder der Straßeninspektion von Scott
County, von denen mir einer ein bisschen sehr vertraulich
zuzwinkert. »In der Trail Tavern gibt’s heute Abend Karaoke.«
Alle finden meinen Akzent toll und möchten gern
mal nach England. Ich will bloß meine Ruhe und entdecke gegen Ende
unseres Rundgangs voller Erleichterung zwei leere Sitznischen im
hintersten Eck des Diners. Ich muss meine Gedanken ordnen - neue
Leute kennenzulernen, ist für uns Angsthasen immer ein
Megastress.
Doch Sheriff Billy macht bei einem Tisch halt, an
dem eine junge Mutter mit einem brüllenden Baby sitzt. »Alan, Sie
wollen doch bestimmt gern ein bisschen Gesellschaft. Das ist
Rachel, und das ist Baby Dale.« Dann wendet er sich zu einem
älteren Mann am Tisch gegenüber. »Und das ist Mr. Horner, unser
pensionierter Highschool-Direktor.«
Mr. Horner trägt als Einziger der hier Anwesenden
Jackett und Krawatte: ein Tweedjackett und eine Strickkrawatte. Er
hebt den Blick von der letzten Seite des Barnsley Messenger. »Guten Tag.«
Ich sitze noch nicht ganz, da knüpft Rachel
bereits ein Gespräch an. »Freut mich, Sie kennenzulernen,
Alan.«
»Eigentlich heiße ich Alice«, sage ich, aber sie
hört mich nicht, weil Baby Dale noch lauter plärrt als zuvor.
Wir werden von Celeste unterbrochen, die meine
Bestellung aufnehmen will. Ich fange an, die Speisekarte zu
studieren, doch Celeste hat offensichtlich keine Zeit für
saumselige Unentschlossene und nimmt mir die Entscheidung ab. »Ich
empfehle das Farmerfrühstück, das gibt’s hier den ganzen
Tag.«
Dale brüllt mittlerweile wie am Spieß, und Rachel
spielt Hoppereiter mit ihm, so wie Carolyn es mit Maisie tut. Dale
hat ungefähr die gleiche Größe wie Maisie. Und Rachel hat den
gleichen, leicht verzweifelten Blick einer jungen Mutter wie
Carolyn, wenn Maisie nicht das tut, was sie laut Babybuch tun
sollte. Rachel hat ihr dickes rostrotes Haar zu einem
Schulmädchen-Pferdeschwanz gebunden und trägt einen weißen
Stehkragenpullover unter einem, das erkenne ich sofort, mohnroten
Fleecepulli mit halblangem Reißverschluss von Lands’ End. Eindeutig
eine sehr nette Person.
»Vier Monate?«, rate ich.
»Genau.« Sie runzelt die Stirn. »Heute ist er sehr
unruhig.«
Dale heult auch genauso wie Maisie.
»Vielleicht hat er Blähungen«, schlage ich
vor.
Rachel sieht mich zweifelnd an, legt sich dann
aber Dale über die Schulter, und ein paar Sekunden später macht er
ein kräftiges Bäuerchen.
Rachels Miene hellt sich auf. »Sie verstehen was
von Babys.«
Celeste kommt mit dem Kaffee, den ich nicht
bestellt habe.
»Sie kennt sich mit Babys aus«, sagt Rachel zu
Celeste.
»Man nennt mich auch die Babyflüsterin von
Southfields«, witzle ich.
»Wirklich?«, fragen sie im Chor.
»Nein«, sage ich, aber Celeste hat sich schon zu
Mr.
Horner, dem pensionierten Highschool-Direktor, umgedreht. »Man
nennt sie die Babyflüsterin von Southfields.«
»Oh. Dann gibt es sicher auch ein Buch von Ihnen?«
Mr. Horner seufzt. »Oder heutzutage wäre es wohl eher eine
Fernsehshow?« Mr. Horner spricht die universelle Sprache aller
Schuldirektoren auf der Welt - Silbe für Silbe missbilligend
betont.
Rachel guckt von ihrer Wickeltasche hoch, in der
sie nach einem Musselintuch gekramt hat. »Eine Fernsehshow!« Rachel
kommt offensichtlich nicht viel unter Leute, so erpicht wie sie
aufs Reden ist. »Ich wette, Sie haben ein total aufregendes Leben.«
Sie sieht mich verdutzt an. »Was machen Sie denn in
Barnsley?«
»Recherche«, sage ich unverbindlich. Ich habe
nicht vor, das Thema Wyatt und meinen peinlichen Auftritt zur
Sprache zu bringen.
»Für Ihre Sendung«, sagt sie. »Kennen Sie denn
auch diese Supernanny?«
»Nein, ich habe nämlich gar keine -«
»Sind Sie je der Queen begegnet?«
»Nein. Und ich habe auch keine -«
»Simon Cowell?«
Sie ist durch nichts aufzuhalten.
Und ich kann der Versuchung nicht widerstehen,
jetzt doch ein bisschen anzugeben. Letztes Jahr hat Graham Lisa,
die Empfangsdame, und mich zu dem Stehempfang vor den Brit Awards
mitgenommen. »Ich bin ihm einmal bei einer Preisverleihung
begegnet. Er ist persönlich sehr nett.«
»Alan sagt, Simon Cowell ist persönlich sehr
nett«, ruft Rachel zu den beiden alten Damen hinüber.
Mr. Horner blickt auf. »Wenn ich es recht
verstehe, ist Simon Cowell für die Jugend durchaus eine kulturelle
Ikone.« Er wischt sich mit seiner Serviette steif den Mund ab.
»Gerüchten zufolge erging der Vorschlag, beim diesjährigen
Stadtfest etwas wie ›Barnsley sucht den Superstar‹ zu
veranstalten.«
»Beim Stadtfest?«, frage ich nach.
»Das ist so was wie ein kleines Volksfest«,
erläutert Rachel. »Jeder Ort veranstaltet eins. Und jedes Fest hat
ein Thema.« Sie rattert eine Liste herunter. »Enon hat Äpfel,
Fairborn hat Zuckermais. Und Barnsley hat Cupcakes.«
»Cupcakes?«
»Das sind diese kleinen, glasierten Muffins«,
erklärt Mr. Horner. »Früher haben wir die Sojabohne gefeiert. Aber
trotz unserer besten Bemühungen und der Einführung eines
Schönheitswettbewerbs um den Titel der Bohnenkönigin waren die
Besucherzahlen enttäuschend. Darum sind wir vor fünf Jahren auf
Cupcakes umgeschwenkt.«
»Und jetzt ist es eins der größten Feste im
Landkreis«, sagt Rachel. »Dafür sollten Sie glatt noch mal
herkommen. Es ist im September.«
Ich will Rachel nicht mit der Mitteilung
enttäuschen, dass ich bis dahin längst wieder in London oder in New
York sein werde.
Das Restaurant ist jetzt so gut wie voll besetzt,
der Boden nass von geschmolzenem Schnee, und die Fenster sind
beschlagen. Es duftet nach Kaffee, Celeste lässt ihr Lachen und die
Kuhglocke an der Tür ihr Geläut erklingen. Eine, zugegeben,
einigermaßen entspannende Atmosphäre. Ich sitze mit dem Rücken zur
Tür und schaue auf die Wand gegenüber, die Kränze aus
Trockenblumen, Fotos von preisgekrönten Kühen und ein von Hand
gemaltes Schild mit der juxigen Aufschrift »1892 war hier absolut nichts los« zieren.
Celeste kommt mit meinem Farmerfrühstück: Drei
Riesenpfannkuchen, eingebettet in Speck, Würstchen, Kartoffelrösti
und einem Stapel Toastbrotscheiben.
»Alan ist mit Simon Cowell befreundet«, teilt
Rachel ihr mit.
»Berühmtheiten wie der haben sich hier die Tür in
die Hand gegeben, als Wyatt noch gesungen hat«, sagt Celeste und
tauscht einen Blick mit Rachel. »Die brauchten was Anständiges zu
essen nach ihren wilden Partys.«
Rachel verdreht die Augen. »Was ungefähr eine
Million Jahre her ist.«
»Der junge Mann gehört zurück ins Aufnahmestudio«,
kommt es von Mr. Horner. »Harte Arbeit hat noch keinem
geschadet.«
Schätzungsweise war Mr. Horner früher einmal
Wyatts Lehrer. Ich hätte gern mehr erfahren, aber die warmherzigen
Bewohner dieses Weilers werden Wyatts Privatsphäre mit Sicherheit
treu wahren.
»Blödmann«, sagt Celeste und schenkt mir Kaffee
nach. »Igelt sich da auf seiner Farm ein.«
»Wir haben alle versucht, ihn wieder zum Singen zu
überreden«, sagt Rachel. »Aber er ist stur wie ein Maulesel.«
Einen Moment lang ist sie still in Gedanken
versunken. Doch dann fällt ihr Blick auf meinen Ring mit dem
Zirkonia-Diamanten und den falschen Saphiren zu 99,99 Pfund. »Oooh,
schaut euch den Ring an. Ist der schön.«
Sie wendet sich an Mr. Horner. »So machen sie es
drüben in Europa. Das weiß ich noch von unserer Klassenfahrt nach
Paris. Sie tragen die Ringe an der falschen Hand. Wann ist denn die
Hochzeit?«
Ich fühle mich verpflichtet, Rachel nicht zu
enttäuschen,
was bedeutet, dass ich ihr nicht die Wahrheit sagen kann - dass
ich mir den Ring am Flughafen selbst gekauft habe, weil mein Freund
mir keinen Heiratsantrag gemacht hat. Und da ich weder sie noch
dieses Örtchen je wiedersehen werde, wenn der Schnee weggeschmolzen
ist, was spielt es dann schon für eine Rolle? »Wir haben noch kein
Datum festgelegt«, sage ich, was streng genommen stimmt.
»Eine lange Verlobungszeit also. Sehr
traditionell«, sagt sie beifällig. »Was macht er?«
»Er ist Anwalt.«
Rachel wirkt beeindruckt. Ihr Blick signalisiert,
dass sie nach weiteren Informationen giert.
»Er ist so etwas wie eine Koryphäe auf dem Gebiet
der Nutzungsbeschränkungen«, fahre ich fort und beiße von meinem
Toast ab, um ein bisschen Zeit zu schinden.
»Ja …«
Ich schlucke ganz langsam herunter. »Und nächsten
Monat nimmt er bei der eintägigen Konferenz der Anwaltskammer für
Agrargesetzgebung nachmittags an einer Podiumsdiskussion teil, in
Manchester.«
»Manchester«, wiederholt Rachel.
Weitere Ausführungen bleiben mir erspart; Celeste
kommt und betrachtet bekümmert meinen Teller. »Ist alles in
Ordnung?«
»Ja. Es schmeckt köstlich.«
»Sie haben ja noch kaum was gegessen«, sagt sie
vorwurfsvoll.
Ich habe eigentlich ganz ordentlich gegessen, man
sieht nur nicht viel davon.
Etwas vor dem Fenster weckt Celestes
Aufmerksamkeit. »Aufgepasst«, murmelt sie Rachel zu und weist mit
dem Kopf zum Fenster. »Die Bienenkönigin parkt gerade ein.«
»Heidi«, sagt Rachel mäßig begeistert. »Keine
Bange. Sie wird schon nett zu Ihnen sein.«
Ich zwinge mich, nicht zur Tür zu schauen, die
sich unter großem Geschepper öffnet. Außerdem habe ich Sorge,
Celeste, Nancy und Dolores zu kränken, weil ich nicht genug esse,
und mache mich über die Pfannkuchen her.
»Heidi und ich waren zusammen in der Schule«,
flüstert Rachel, doch zu mehr kommt sie nicht; schon steht eine
elegante Gestalt in einer figurnah geschnittenen, weißen Skijacke,
einem edlen Wollrock und schwarzen Lederstiefeln an unserem Tisch.
Heidi hat schulterlanges blondes Haar, das sorgsam zu einer
Außenrolle frisiert ist, ihre Grundierung ist perfekt, und sie hat
Tonnen von Lipgloss in Pink aufgetragen.
Rachel stellt uns einander vor, während ich noch
an einem Riesenbissen Pfannkuchen würge. Heidi schenkt mir ein
breites Lächeln.
»Wie schrecklich für Sie, dass Sie hier
festsitzen. Der Schneesturm soll angeblich sogar noch schlimmer
werden. Wir haben gerade den Nachmittagsunterricht abgesagt, damit
die Kinder rechtzeitig nach Hause kommen.«
»Heidi unterrichtet Englisch an der Highschool«,
erklärt Rachel.
»Dale«, gurrt Heidi. »Was bist du schon für ein
großer Junge, hm?« Sie wirft Rachel einen Blick zu. »Du machst
wirklich gute Fortschritte, Rachel. Nur noch ein paar hartnäckige
Pfunde weg, dann hast du wieder dein altes Gewicht.«
Seltsam - ich kenne Heidi erst seit zwei Minuten,
und trotzdem kommt sie mir merkwürdig vertraut vor.
Aber mir bleibt keine Zeit, dem Gedanken weiter
nachzuhängen, denn schon wieder geht die Tür auf und fällt mit
einem Knall ins Schloss. Heidi sieht auf und betastet unsicher
ihre Frisur. Rachel winkt, und Mr. Horner hebt den Blick von seiner
Zeitung.
»Das ist mein Bruder«, sagt Rachel. »Um die Zeit
kommt er normalerweise immer her.«
Ich kämpfe gerade mit einem zweiten Mundvoll
Pfannkuchen, als Wyatt zu uns an den Tisch tritt.
Rachel redet wie ein Maschinengewehr. »Wyatt, das
ist Alan aus London, aus England. Man nennt sie die Babyflüsterin
von Southfields. Sie hat eine eigene Fernsehshow. Und sie ist mit
einem internationalen Topanwalt verlobt.«
Wyatt betrachtet mich fragend. »Alan?«
Ich muss erst herunterschlucken. »Das ist ein
Spitzname«, erläutere ich schließlich und starre auf die
Tischplatte. Ist es zu fassen: Kaum eine Stunde nach der
blamabelsten Begegnung meines Lebens stehe ich dem Mann wieder
gegenüber, den ich dabei Dork genannt habe.
Rachel sieht Wyatt mit unverhohlenem Stolz an.
»Das ist mein Bruder Wyatt.« Sie guckt von ihm zu mir. »Ihr zwei
habt so viel gemeinsam. Wyatt ist schon in der ganzen Welt
herumgekommen.«
»Ja«, sagt er seelenruhig, »sofern ich mich nicht
in diesen Riesenflughäfen verlaufe.«
Mit einem Mal ist mir der Appetit vergangen. Ich
schiebe den Teller weg. Jawohl, ich werde einfach gar nichts mehr
sagen. Dann kann wenigstens nichts schiefgehen.
Heidi stellt sich dicht neben Wyatt. »Sie können
sicher viele interessante Geschichten aus England erzählen, Alice?«
Sie mustert mich von Kopf bis Fuß. »Ich dachte immer, in London
sind alle topmodisch gekleidet?«
Rachel durchbohrt sie mit Blicken. »Wo werden Sie
denn übernachten, Alice?«
Jetzt komme ich um eine Antwort nicht mehr herum.
»In der Frühstückspension«, sage ich rasch. Bloß raus hier, so
schnell wie möglich. Ich greife nach meinem Parka und schlüpfe in
den ersten Ärmel.
Rachel runzelt die Stirn. »Da habe ich aber eine
bessere Idee. Alan kann doch in dem Gästehäuschen wohnen«, kräht
sie begeistert.
Welches Gästehäuschen?
Sie wendet sich Wyatt zu. »Alan kann doch in
deinem Cottage wohnen.«
Wessen Cottage?
»Ob das so eine gute Idee ist?«, mischt Heidi sich
ein, anscheinend sehr um mein Wohlbefinden besorgt. »Das ist doch
schon seit Jahren nicht mehr in Benutzung.«
»Es passt perfekt«, sagt Rachel. »Muss nur einmal
durchgeputzt werden.«
Sie sieht zu Wyatt hin, der ausdrucksvoll
schweigt. Meine Anspannung legt sich: ausgeschlossen, dass er mich
wieder mit zu sich auf die Farm nimmt.
Dann höre ich eine weitere Stimme. »Kann ich
irgendwie behilflich sein?« Gerry, der Mercedesmann mit der braunen
Lederjacke. »Wie wäre es, und Sie kommen mit zu mir in mein
Elternhaus, Alice? Da hätten Sie es sehr bequem.«
»Das ist nicht nötig«, sagt Wyatt mit einer Spur
von Schärfe in der Stimme; die beiden fixieren sich kurz. »Ich
fahre sie zu der F-«
»Ausgezeichnet!«, fällt Mr. Horner ihm ins Wort.
»Sehr gut, Wyatt. Dann fährst du sie also zur Farm.« Er steht auf
und faltet sorgsam seine Zeitung zusammen. »Die junge Dame ist den
ganzen weiten Weg von England hierhergekommen.« Er dreht sich zu
mir und setzt eine Fellmütze
mit Ohrenklappen auf. »Als ob wir Sie in eine Frühstückspension
abschieben würden. Nein, so sind wir hier in Barnsley, Ohio nicht
erzogen. Unser guter Wyatt nimmt Sie mit zurück zu sich und wird
Sie fürstlich behandeln. Königlich englisch«, gluckst er vor sich
hin und wendet sich wieder Wyatt zu. »Dann wäre das also
abgemacht.«
Wyatt sagt nichts; alle Augen ruhen auf ihm.
Schließlich nickt er kaum merklich.
Mr. Horner tippt sich an die Mütze. »Einen schönen
Tag allerseits.«
»Schönen Tag«, erwidern wir im Chor.
Ich sehe in die Runde: Gerry grinst mich an,
Rachel wirkt hochzufrieden, Heidi ein bisschen verschnupft, und
Wyatts Miene verrät nichts.