41. KAPITEL
Zwei Stunden später bin ich so weit. Mein Make-up
ist makellos und mein Haar so glatt und füllig und glänzend, wie es
nur eben geht. Ich trage meine neuen Levi’s 542, meine neue Bluse
von J. Crew und schwarze Lederstiefel, wohlgemerkt über den Jeans.
Solche Stiefel wollte ich immer schon haben, aber früher ließ sich
der Reißverschluss regelmäßig nur bis zur halben Wade hochziehen.
Ich sehe echt schick aus, was vermutlich daran liegt, dass nicht
ich, sondern Gerry das ganze Outfit bei unserem Einkaufsbummel
ausgesucht hat.
Ich hole tief Luft und spaziere zuversichtlich im
spätnachmittäglichen Dämmerlicht zum Haus hinüber. Ich weiß ganz
genau, wie ich vorgehen werde. Ich werde Heidi bitten, uns allein
zu lassen, und dann Wyatt ohne Umschweife sagen, was ich für ihn
empfinde. Wenn er dann sagt, dass es für ihn nicht mehr als
Freundschaft ist, verbringe ich den Rest meines Lebens mit
gebrochenem Herzen und in ungebrochener Monotonie in England.
Eben will ich zur Haustür hinein, da entdecke ich
die Scheinwerfer eines Autos, das sich über die Zufahrt nähert.
Ich schaue genauer hin, kann es aber nicht zuordnen, weil es eine
lange, schwarze Limousine ist und es so etwas in Barnsley nicht
gibt. Sie rollt langsam aus. Jetzt erkenne ich, dass hinter dem
Steuer ein Chauffeur sitzt. Dann öffnen sich gleichzeitig die
beiden hinteren Wagentüren. Auf der mir zugewandten Seite wird ein
langes, schlankes Bein sichtbar, und auf den Kies senkt sich ein
Fuß in einer (schätze ich) Kreation von Jimmy Choo.
Ach du grüne Neune - es ist Phoebe. Und auf der
anderen Seite steigt Brent aus.
Sie stehen auf dem Hof und sehen sich verdutzt um.
Es ist wie in einer Szene aus Raumschiff
Enterprise, wenn die Crew auf einem fremden Planeten
landet.
Ich eile zu ihnen. Sollte ich einen Knicks machen?
»Miss Carmichael«, sage ich und kämpfe gegen den Impuls, ein Knie
zu beugen.
»Alice«, sagt sie so überschwänglich wie bei
keiner unserer bisherigen Begegnungen. »Wie schön, Sie zu sehen.
Bringen Sie mich zu Wyatt. Ich übernehme jetzt hier das
Kommando.«
»Wir haben den Privatjet genommen«, erklärt Brent
mir blasiert. »Höchst angenehm.«
Dann marschiert Phoebe los, verschwindet im Haus -
Brent und ich sprinten hinterher - und geht, als sie das Wohnzimmer
leer vorfindet, schnurstracks in die Küche, wo Heidi sitzt und
etwas auf ihrem Laptop tippt.
Phoebe streift ihre schwarzen Lederhandschuhe ab
und wirft sie auf den Küchentisch. »Kaffee. Schwarz. Ohne
Zucker.«
Heidi wirkt verständlicherweise einigermaßen
perplex. »Wer sind Sie?«
Phoebe übergeht die Frage. »Wo ist Wyatt?«, kläfft
sie.
Heidi zögert. »Er … ruht sich ein bisschen aus.«
Sie und ich wechseln einen Blick. An diesem Sonntagnachmittag läuft
ein wichtiges Footballspiel, und ich schätze mal, dass er unten im
Keller ist und es sich anschaut.
»Das ist Miss Phoebe Carmichael«, teile ich Heidi
mit. »Carmichael wie Carmichael Music.«
Phoebe durchmisst die Küche und späht über Heidis
Schulter auf den Bildschirm ihres Laptops. »Meine Güte. So ein
altes Teil habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Schau dir das
an, Brent.«
»Stellen sie dafür noch Ersatzteile her?«, gackert
Brent.
Heidi steht auf. »Ich bin Heidi«, sagt sie und
streckt die Hand aus. »Ich kümmere mich um Wyatts Belange.«
Anstelle einer Antwort stemmt Phoebe die Hände in
die Hüften und zieht eine Augenbraue hoch. »Bekomme ich jetzt den
Kaffee?«
»Ich bin eine sehr gute Freundin von Wyatt«, sagt
Heidi, nun schon etwas selbstsicherer. Offenbar ist sie nicht
gewillt, klein beizugeben. »Den kann Alice Ihnen machen.«
»Alice gehört zu mir«, kontert Phoebe. Ich
überlege, ob ich unter den Küchentisch kriechen soll. Die beiden
durchbohren einander mit Blicken. Aber Phoebe zuckt nicht mit der
Wimper. »Und, was qualifiziert Sie beruflich und für die
Öffentlichkeitsarbeit, Helga? Harvard oder Yale?«
Unglaublich, aber wahr: Ich fühle mich genötigt,
für Heidi in die Bresche zu springen. »Heidi ist Lehrerin.«
Phoebe lächelt. »Wie überaus verdienstvoll. Wir
dürfen Sie nicht länger von Ihren wichtigen Korrigierarbeiten
abhalten. Auf Wiedersehen.«
»Ich gehe nirgendwohin«, sagt Heidi verbissen.
»Sie haben kein Recht, hier hereinzumarschieren und mir Anweisungen
zu erteilen.«
»Sie werden sehen, das habe ich sehr wohl«, blafft
Phoebe. »Wyatt steht bei meiner Firma unter Vertrag. Ich produziere
sein nächstes Album und regle alles, was damit zu tun hat.« Phoebe
schaltet Heidis Laptop aus und lässt ihn zuschnappen. »Müssen Sie
nicht noch irgendwas aus einer Klorolle und einem Papierdeckchen
basteln?«
Sie rückt Heidi näher auf den Pelz. O nein. Gleich
frisst sie sie. »Hier sind jetzt Profis gefragt.«
Heidi macht den Mund auf, aber es kommt kein Wort
heraus. Phoebe holt ihren BlackBerry heraus, und Brent fängt an,
den Wagen auszuladen. Schon bald füllen zwei Laptops, ein Faxgerät,
Schnellhefter, Papierrollen und ein Aktenordner mit der Aufschrift
»Wyatt Brown - Marketingplan« jede freie Fläche des Küchentischs.
Zuletzt greift sich Brent Heidis Laptop und ihre Handtasche und
geht damit zur Tür. Heidi bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu
folgen.
Ich stehe zehn Minuten lang herum, in denen Phoebe
einen dringenden Anruf bei ihrer Massagetherapeutin erledigt und
vereinbart, sie von New York aus einfliegen zu lassen. Zu meiner
geringen Freude schließe ich daraus, dass Phoebe nicht so schnell
wieder abzureisen gedenkt. Schließlich wendet sie sich mir zu.
»Ausgezeichnete Arbeit, Alice. Gut gemacht. Sie sollen wissen, dass
Ihnen im Team Wyatt ein entscheidender Platz zukommt.«
»Danke.« O Mann, das ist es. Die
Beförderung!
»Ich brauche Folgendes. Entkoffeinierten Kaffee,
Sojamilch, Wasser von Evian und ein paar Power-Snacks.« Sie holt
kurz Luft und rasselt dann weitere Posten herunter.
»Sonnenblumenkerne, Rosinen und Weizengrassaft. Können Sie sich das
merken?«
Keine Chance, irgendwas davon in Barnsley
aufzutreiben.
»Aber -« Weiter komme ich nicht. Brent packt mich
am Arm und scheucht mich zur Tür hinaus. »Fahren Sie
vorsichtig!«
Dreieinhalb Stunden später bin ich von meinem
Ausflug zum Biosupermarkt in Columbus zurück. Phoebe, Bruce, Wyatt
und Brent sitzen am Küchentisch. Bruce hat Soufflé gemacht, Phoebe
lacht sorglos und glockenhell. Keiner nimmt Notiz von mir, als ich
mit vier braunen Papiertragetaschen wie ein Maulesel bepackt
hereinkomme. Aus Angst, das Falsche zu erwischen, habe ich
sämtliche in Frage kommenden Varianten gekauft.
»Mein Gott, das ist ja fantastisch«, sagt Phoebe
nach dem ersten Bissen Soufflé.
»Die Zubereitung habe ich im Hotel Carlyle
gelernt«, sagt Bruce.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich nach Ohio fahren
müsste, um das beste Soufflé meines Lebens vorgesetzt zu bekommen.
Alice«, ruft Phoebe - ihr erstes Wort an mich, seit ich wieder da
bin -, »Sie haben mir ja gar nicht gesagt, wie herrlich es hier
ist.«
Ich habe alle Hände voll damit zu tun, die Kartons
mit Sojamilch (Natur, Vanille, Schokolade und fettarm) im
Kühlschrank zu verstauen.
»Ein paar mehr E-Mails wären nicht verkehrt
gewesen«, merkt Brent an. »Wir haben leider komplett im Dunkeln
getappt, Wyatt.«
Ich fahre herum. »Ich habe sehr wohl -«
Phoebe lässt mich nicht ausreden. »Verweilen wir
nicht länger bei den Fehlern von gestern.«
Ich schaue zu Wyatt hin, doch seine Miene ist
völlig ausdruckslos. Er beobachtet das Geschehen und unternimmt
keinerlei Anstrengungen, mich zu verteidigen. Ich ziehe
mir einen Stuhl heran und will mich setzen. Phoebe hebt die
Hand.
»Alice, Sie müssen das Gästehaus räumen. Wyatt hat
mir lang und breit davon erzählt - klingt, als wär’s das perfekte
Büro für mich.«
Das darf doch nicht wahr sein. »Was?«
»Na gut. Wenn es sein muss, bleiben Sie eben noch
da, bis Sie morgen nach London aufbrechen.« Sie wendet sich wieder
Wyatt zu. »Unser Eliteteam fliegt morgen aus New York ein. Brent
kümmert sich darum, dass die Leute in einem Luxuswohnwagen auf
Ihrem Hof untergebracht werden.«
Das wird Wyatt doch mit Sicherheit nicht
zulassen!
Aber er sagt nichts.
Ich trete von einem Fuß auf den anderen und fühle
mich wie der letzte Dreck.
»Möchten Sie auch etwas essen?«, fragt Bruce
gewinnend.
»Nein«, sagt Phoebe. »Alice hat bis zu ihrer
Abreise einen äußerst straffen Zeitplan.«
Wyatt sagt immer noch nichts. So viel zu seiner
Auffassung von Gastfreundschaft im Mittleren Westen. Er beugt sich
vor und schenkt Phoebe Wasser nach.
Sie schenkt mir ein gönnerhaftes Lächeln. »Wir
verlassen uns auf Sie, Alice, dass Sie bis dahin noch die Ablage
erledigen und das interne Telefonverzeichnis auf den neuesten Stand
bringen.«
Mir fällt keine Erwiderung ein, also stehe ich nur
weiter dumm da. Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass Wyatt
kein einziges gutes Wort für mich einlegt.
»Brauchen Sie noch irgendwas, Alice?«, fragt Bruce
ungeduldig.
Ich bringe nicht den Hauch einer Antwort zustande.
Es herrscht grauenvolles Schweigen. Niemand sagt etwas. Es fühlt
sich an, als gäbe der Boden unter mir nach. Ich schaffe es, wortlos
aus der Küche zu gehen und erst vor der Haustür in Tränen
auszubrechen. Dass Wyatt mich so gnadenlos im Regen stehen lässt,
trifft mich völlig unerwartet.
Tränenblind stolpere ich über den Hof und renne in
jemanden hinein. Eine kleine Gestalt, die Halt suchend meinen Arm
umklammert. »Miss Alice! Kommen Sie schnell!«
Ich reibe mir die Augen. Es ist Casey, mit
leichenblassem Gesicht und angstvoll aufgerissenen Augen. »Mary
Lou«, schreit er. »Ich glaube, sie stirbt.«