5. KAPITEL
Später am selben Abend rufe ich mir Carolyns Worte
ins Gedächtnis, als Stephen sich auf unser mit cremefarbenem
Nesselstoff bezogenes IKEA-Sofa sinken lässt.
»Du gehst nach New York«, japst er. »Wieso?«
»Weil das die Chance meines Leben ist. Und weil
ich die Alternative, nämlich mit Brent zusammenzuarbeiten,
unerträglich finde.«
Stephens Blick zuckt wild hin und her, während er
die beiden Optionen analysiert. »Hast du zugesagt?«
Als Lügnerin bin ich ein hoffnungsloser Fall.
»Gewissermaßen.«
»Gewissermaßen!«
»Es ist die Chance meines Lebens, und sie steht
mir nicht ein Leben lang offen.«
Mit Veränderungen hat Stephen schwer zu kämpfen.
Der Gesprächsgruppe für Patienten mit Angststörungen ist er nach
einem unglückseligen Kurzabenteuer mit der Abteilung für Strafrecht
beigetreten. Es ging um einen kleinen Betrugsfall, und am zweiten
Beratungstag der Geschworenen musste Stephens Mandant ihm eine
braune Papiertüte über den Mund stülpen und ihm seine Atemzüge
vorzählen. Als der Mandant zu achtzehn Monaten verurteilt wurde,
klappte Stephen endgültig zusammen. Doch dank der Bemühungen von
Dr. Vaizey ließ Stephen sich von der Idee abbringen, sich zum
Versicherungsgutachter umschulen zu lassen. Stattdessen warf er
sich aufs Grundstücksrecht und heimst seither einen Erfolg nach dem
anderen ein. Mittlerweile ist er quasi eine Koryphäe auf dem weiten
Feld landwirtschaftlicher Nutzungsbeschränkungen. Sein Artikel für
das Farming Law Journal mit dem Titel
»Pflügrechte - eine Streitschrift für behutsame Reformen« wurde von
seinem Chef als »absolut folgerichtig« erachtet.
»Selbst wenn du gehst«, sagt er flehentlich, »was
ist mit deinem Gehalt, den Sozialleistungen, der
Krankenversicherung und dem Anteil des Arbeitgebers zu deinen
Rentenbezügen?«
Ich nicke. Er hat ja recht. Ich weiß, was die
Leute über ihn denken. Dad sagt, er ist grundsolide, Carolyn sagt,
er ist verlässlich, und Teresa sagt, er ist ein Vollidiot, aber sie
alle kennen den wahren Stephen nicht. Er ist nicht nur eine große
Stütze, sondern außerdem auch noch nett und aufmerksam. Menschen
mit Angststörungen bringen Tage damit zu, das perfekte
Geburtstagsgeschenk einzukaufen, und wenn es ausgepackt wird,
brabbeln wir alle exakt das Gleiche: Wenn es
dir nicht gefällt, kannst du es umtauschen - ich hab die Quittung
aufgehoben. Stephen ist da keine Ausnahme. Wie seine
Internetrecherche ergab, ist Brotmaschine keinesfalls gleich
Brotmaschine (wie Teresa hartnäckig behauptete). Die, die er mir zu
meinem letzten Geburtstag geschenkt hat, war ein absolutes
Topmodell. »Alice, das ist etwas für dich und etwas für den Haushalt.«
Außerdem ist er mir in vielem sehr ähnlich: Er
begleicht am Monatsende all seine Kreditkartenrechnungen, hält sich
an Geschwindigkeitsbegrenzungen und hängt seine Sachen auf
identischen weißen Plastikkleiderbügeln immer in dieselbe Richtung
auf. Dazu hat Stephen noch Riesenfortschritte mit seinen Problemen
- Geld und Versagensangst - gemacht, die anfingen, als er noch ein
Kind war und seine Eltern mit ihrem Restaurant pleitegingen.
Stockend sagte er zu der Gruppe: »Stellt euch vor, euer ganzes
Leben ändert sich über Nacht. Wir haben das Geschäft und
das Haus verloren, und mein Dad war nie mehr der Alte. Der
Bankrott hat ihn seelisch gebrochen. Ich habe mich seither nie mehr
sicher gefühlt - weil ich nun wusste, dass schlimme Dinge nicht
immer nur den anderen passieren. Sie konnten genauso gut mir
passieren.«
Stephen tat mir so leid, wie er das sagte. Man tut
sich leicht, auf anderen wegen ihrer Schwächen herumzuhacken, aber
wenn man weiß, was dahintersteht und was diejenigen durchgemacht
haben, sieht man die Dinge aus ihrer Perspektive. Wir sind jetzt
seit fast vier Jahren zusammen, was für eine Beziehung doch eine
nicht unbeträchtliche Zeitinvestition bedeutet. Insbesondere wenn
man sich nicht allzu sicher ist, ob man wohl jemals noch wen
anderen kennenlernen wird. Die meisten kapieren einfach nicht, was
Angstgestörte für Probleme haben; sie halten einen Satz wie »Sieh’s
nicht so eng, wird schon alles wieder« für einen hilfreichen
Ratschlag. »Ach, echt«, bin ich dann versucht zu sagen, »da wäre
ich nie draufgekommen.« Sage ich natürlich nicht, weil ich Angst
habe, sie damit zu beleidigen. Donny Osmond würde es kapieren - er
ist unter www.donny.com mit
seinen Angststörungen an die Öffentlichkeit gegangen, aber er ist
verheiratet, hat diverse Kinder und lebt in den USA.
Wenn man um die ganze Geschichte weiß, ist es
leichter zu begreifen, warum Stephen alle seine Ausgaben in einem
Spiralnotizheft festhält und warum er sich noch nicht aufs Heiraten
oder Kinderkriegen einlassen kann. »Ich liebe dich, Alice, gar
keine Frage«, sagte er, als er mich nach drei Jahren Beziehung
fragte, ob ich mit ihm zusammenziehen wolle. »Ich muss die Dinge
bloß langsam angehen.«
Jetzt reibt er sich die Schläfen. »Der Zeitpunkt
ist denkbar
ungünstig. Ich stehe mit der vorbereitenden Lektüre für die
Traktorreifengeschichte unter enormem Druck.«
»Das tut mir leid, ich habe es mir wirklich nicht
so ausgesucht«, sage ich, bemüht, die Situation zu
entschärfen.
Er sieht mit Bettelblick zu mir hoch. »Geh nicht,
Alice. Es ist viel zu weit weg und für so lange Zeit.« Er hebt
hoffnungsvoll die Hände. »Vielleicht vertragt ihr beide, du und
Brent, euch ja mit der Zeit ganz prima.« Mein Gesichtsausdruck
entgeht ihm nicht. »Und wenn nicht, gibt’s für jemanden wie dich
doch noch haufenweise andere Jobs. Graham würde dir bestimmt ein
fantastisches Zeugnis ausstellen.«
Ich schaue mich um, mein Blick fällt auf alles,
was so sicher und vertraut wirkt: der Zierbecher aus dem
Brontë-Museum, den wir von unserem ersten Wanderurlaub im Lake
District mitgebracht haben; der Küchenabfalleimer aus Edelstahl,
von uns gemeinsam auf der Website von Homebase ausgesucht; das
Erinnerungsfoto von uns beiden auf dem London Eye (ein
Riesendurchbruch, angesichts unserer wechselseitigen Höhenangst.
Wir hielten Händchen und machten unsere Atemübungen, was eine
Gruppe österreichischer Teenager zum Totlachen fand). Ich weiß,
dass Stephen, wenn man ihm nur Zeit lässt, sich auch aufs Heiraten
und Kinderkriegen einlassen wird - obwohl Gott allein weiß, wie ich
ihn unbeschadet durch die Geburt bringen soll.
»Wir könnten doch einen Urlaub buchen«, sagt er
und meint es offensichtlich ernst. »Wohin du willst.« Er holt tief
Luft. »Und wir könnten die eiserne Reserve plündern, für eine neue
Küche.«
Ich schaue ihn ungläubig an. »Echt?«
Er nickt entschieden. »Ober- und Unterschränke,
Arbeitsflächen - und neue Fliesen.«
Ich zögere. Für Stephen, das weiß ich, ist das ein
ähnlich großer Schritt wie ein Fallschirmsprung für einen
Normalmenschen. Doch mir geht Carolyns Mahnung nicht aus dem Kopf -
du hast es verdient.
»Aber so eine Chance bekomme ich nie wieder«, sage
ich ruhig.
»Es sei denn, wir machen zusammen eine Reise nach
New York«, sagt er eindringlich. »Nachdem wir die Küche renoviert
haben.«
Die Spannung ist schier unerträglich.
Doch dann greift Stephen mit dramatischer Geste
nach dem Katalog von Scotts of Stow, der auf dem Sofatisch liegt.
Für einen Moment setzt mein Herzschlag aus. Abends blättere ich
immer wieder mal gern darin und flüchte mich in eine Fantasiewelt
aus Kücheninseln. Er nimmt ihn zur Hand und schlägt flugs Seite
vier auf. »Wir könnten gleich loslegen«, sagt er gebieterisch.
»Hier, der einhändig zu bedienende Küchenrollenspender. Gehen wir
online und bestellen ihn.«
Er springt auf, ist voller Tatendurst. Ich weiß
nicht, was ich sagen oder tun soll. Stephen hat noch nie etwas
online bestellt - er und Dad sind immer auf der Hut vor
Identitätsbetrügern. Schockiert sehe ich zu, wie er seine Geldbörse
herausholt und ihr seine Kreditkarte entnimmt. »Wer nicht wagt, der
nicht gewinnt.« Doch halt, damit nicht genug. Er schlägt eine
andere Seite auf. »Wenn wir schon dabei sind, bestellen wir doch
auch gleich noch den schnurlosen Akkubesen.« Seine Stimme klingt
leise und verführerisch. »Dann braucht man für ein paar Krümel
nicht mehr den Staubsauger anzuwerfen, Alice.«
Stephen ist bereit, mir nicht nur ein, sondern
gleich zwei Reinigungsprodukte zu kaufen; dazu noch die Aussicht
auf
eine funkelnagelneue Küche und eine Reise nach New York.
Was hatte ich dem schon entgegenzusetzen? »Ist
gut. Ich sage ihnen ab.«