28. KAPITEL
»Heidi ist seit fünf Jahren die ewige Siegerin beim
Cupcake-Wettbewerb von Barnsley«, sagt Rachel düster. »Sie kriegt
immer, was sie will.«
Wir sind schon beim Abwasch. Alle anderen sitzen
noch im Wohnzimmer, nur Heidi und Sara haben sich entschuldigt und
sind gleich nach dem abrupten Ende meines Vortrags aufgebrochen.
Meine Illustrationstafeln zum Thema gesunde Ernährung kann ich
unbenutzt zurück in die Tasche stopfen.
Heidi hat mir zum Abschied fast die Hand
zerquetscht. »Kein Rückzieher, Alice«, sagte sie lachend. »Soll
doch niemand sagen, Sie wären der Aufgabe nicht gewachsen!«
Ich ziehe Rachels Geschirrtuch glatt. »Ach, das
wird schon nicht so wild sein«, sage ich. »Ist doch nur ein
Cupcake-Wettbewerb.«
»Alice«, sagt Rachel gedehnt. »Fang lieber schon
mal an. Da kommt ein Haufen Leute hin.«
»So?«
»Ungefähr tausend. Ganz Barnsley.«
Ich verspüre spontan das dringende Bedürfnis nach
ein bisschen frischer Luft und trage meine Utensilien hinaus zum
Auto. Dann gehe ich noch mal zurück, um mich rasch von Rachel zu
verabschieden. Ich höre Baby Dale brüllen und Rachel gurren, die
offenbar nach oben gegangen ist
und ihn zu einem Nickerchen zu überreden versucht. Wie ich da so
im Flur stehe und überlege, ob ich Rachel bei ihren
Babyflüsterbemühungen stören soll, höre ich Dolores klar und
deutlich aus dem Wohnzimmer sagen:
»Dieser Stiesel soll endlich eine ehrbare Frau aus
ihr machen. Sie ist genau die Richtige für ihn - das sieht doch ein
Blinder mit Krückstock.«
»Vielleicht hat er’s nicht mit dem Heiraten«, sagt
Stacey.
»Es heißt, er wäre nicht grad der Zuverlässigste«,
merkt Brandy an. »Trotzdem würde ich ihn nicht von der Bettkante
schubsen.«
Brüllendes Gelächter. Erstaunlich, wie obszön die
braven Muttis werden können. Muss wohl ein Zuckerflash sein.
»Es braucht schon ein starkes Weib, um Wyatt Brown
im Zaum zu halten«, sagt Candy.
Mir dreht sich der Magen um.
»Die Leute sollten lieber ihre Zunge im Zaum
halten«, sagt Dolores spitz. »Er hat seine wilden Jahre gehabt,
wohl wahr. Aber das ist alles lange vorbei. Ich finde, er ist reif
dafür, einen Hausstand zu gründen. Und sie ist die Richtige für
ihn. Sie wäre eine wunderbare Ehefrau und Mutter - sie ist ein
Naturtalent, was Kinder angeht.«
Natürlich. Heidi ist nicht nur aus der Gegend
hier, sondern auch noch Lehrerin. Ich stehe da und fühle mich
elend, unzulänglich und scheußlich britisch.
»Aber bist du denn sicher, dass sie ihn will?«,
fragt Brandy.
»Sicher?«, sagt Dolores verächtlich. »Ich hab
schließlich Augen im Kopf.«
Ja, genau. Von Anfang an - seit dem Schneetag, an
dem wir uns im Blue Ribbon zum ersten Mal begegnet sind - war Heidi
alles andere als begeistert von der Vorstellung, dass
ich im Cottage logieren sollte. Seither hat sie jede Gelegenheit
genutzt, mir gegenüber Warnungen auszusprechen und mich vor den
anderen schlecht dastehen zu lassen. Und im Großen und Ganzen ist
es ihr gelungen.
Mehr halte ich nicht aus. Ohne mich von Rachel zu
verabschieden, schleiche ich zur Haustür. Als ich sie leise hinter
mir schließe, höre ich Dolores’ abschließende Worte zum Thema. »Und
was ihre Kochkünste angeht …«
Ich steige in den Ford Focus und fahre langsam
zurück zur Farm. Nicht einmal der Anblick der endlosen
Sojabohnenfelder hebt meine Stimmung. Der Cupcake-Wettbewerb geht
mir nicht aus dem Kopf. Ich weiß jetzt schon haargenau, wie es sich
abspielen wird: Ich stehe neben Heidi in dem großen weißen
Festzelt. Der Applaus der Menge will und will nicht enden, nachdem
Heidi (ein historisches Ereignis) zum sechsten Mal in Folge zur
Gewinnerin des Wettbewerbs bestimmt worden ist. Dann tritt Wyatt,
der bis dahin unbeachtet hinten in der Menge gestanden hat,
unerwartet vor. Er trägt ein weißes, kragenloses Hemd, Kniehosen
mit Trägern und einen braunen Filzhut, den er mit einem
ritterlichen Lächeln in Richtung der Hauswirtschaftslehrerin
abnimmt. Die aufgekrempelten Ärmel lassen seine stark gebräunten,
muskulösen Arme sehen. Tiefes Schweigen senkt sich über die Menge.
Ruhig und gelassen schreitet er zu uns Kandidatinnen hin und wirft
einen höflichen, aber flüchtigen Blick in meine Richtung. »Gut
gemacht, Alice. Ein wackerer Versuch.« Halbherziger Beifall. Dann
wendet er sich Heidi zu. »Ihr habt mich und ganz Barnsley heute
sehr stolz gemacht.« Die Zuschauer brechen in Jubelrufe aus. Kleine
Kinder schwenken aufgeregt herumhüpfend Fähnchen, und eine alte
Dame tupft sich mit einem Spitzentaschentuch eine Träne aus dem
Auge. »Darum
möchte ich Euch hier vor diesen prächtigen Dorfbewohnern fragen,
ob Ihr meine Frau werden wollt.«
Heidi schnappt nach Luft, wird entzückend rot und
blickt mit schräg geneigtem Kopf kokett zu Wyatt empor. »Meiner
Treu, Mr. Brown. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Wyatt legt die Hand aufs Herz. »Ich habe nicht
viel«, sagt er. »Ein paar gute Pferde, eine Scheune und ein Stück
Land jenseits des Hügels. Doch ich gelobe, dass ich Euch ein braver
und treuer Ehemann sein werde. Und, wenn es dem HERRN gefällt,
unseren Kindern ein strenger, aber gerechter Vater. Sechs an der
Zahl, hoffe ich.« Er räuspert sich. »Nun denn, was sagt Ihr, Miss
Heidi?«
»Ich sage Ja, Mr. Brown!«
Alle werfen die Hüte in die Luft, glücklicherweise
ist sogleich eine Fiedel zur Hand, und zu ihren Klängen tanzen die
jungen Männer und Frauen von Barnsley spontan eine Gigue. Die alte
Dame nickt beifällig zu den beiden hin. »Bis zum Frühjahr wird sie
ein Kind unter ihrem Herzen tragen.«
Im Cottage angekommen, mache ich meine Atemübungen
- zum ersten Mal seit drei Monaten. Eine verzweifelte Lage
erfordert verzweifelte Maßnahmen: Ich gehe auf alle viere, lege den
Küchenfußboden mit Zeitungspapier aus und schrubbe den
Backofen.
Nach einer Stunde - die Einschübe glänzen wie neu
- bin ich wieder so weit hergestellt, dass ich online gehen und das
Cupcake-Rezept von Martha Stewart ausdrucken kann. Und schon geht
es mir wieder schlechter. Es gibt so viele Wahlmöglichkeiten:
Vanille- oder Schokolade-Cupcakes? Einfarbige oder gemusterte
Papierförmchen? Buttercreme oder Zuckerguss als Glasur? Ich muss
mich irgendwie berappeln, also durchbreche ich Stephens
Einmal-pro-Woche-Regel
für Telefonate und rufe ihn an, weil ich dringend moralische
Unterstützung brauche.
Er klingt überrascht. »Alice? Ist alles in
Ordnung?«
Bevor ich etwas sagen kann, redet er weiter.
»Warte einen Moment, ich gehe ins Schlafzimmer.« Ich höre
undeutliche Geräusche, als ob er die Hand über die Sprechmuschel
hält.
»Stephen, was ist denn los?«
In den letzten Wochen hat unsere Kommunikation
sich schwierig gestaltet, weil Stephen praktisch jeden Abend mit
Brettspielen beschäftigt ist.
»Nichts«, sagt er ausweichend.
Ich versuche angestrengt, aus dem Geräusch im
Hintergrund schlau zu werden. Klick, Klick,
Klick.
»Was ist das?«
Sein Lachen klingt nicht überzeugend. »Ich höre
nichts. Vielleicht ist es die Leitung.«
Klick, Klick, Klick. Surr,
Surr, Surr.
»Stephen«, sage ich eindringlich.
Ein tiefer Seufzer. »Ich dachte mir schon, dass du
es irgendwann herausfinden würdest.« Er zögert. »Das ist Zaras
Strickmaschine.«
Ich verstehe nur Bahnhof. »Aber du hast doch
gesagt, dass Andy und Jennifer ausgezogen sind.«
Ominöses Schweigen. »Sie schon«, sagt er
betont.
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was das
zu bedeuten hat.
»Es ist einfach passiert, Alice«, versucht Stephen
sich zu rechtfertigen. »Zwischen uns hat etwas klick
gemacht.«
Stephen hat gerade einen Witz gerissen, aber nicht
mit Absicht, das weiß ich. »Wie lange geht das
schon so?«, schnauze ich.
»Das ist schwer zu sagen. Ich habe auf den
richtigen Moment gewartet, um es dir zu erzählen.«
Mir kommt ein grässlicher Gedanke. »Schläfst du
mit ihr?«
»Es steht mir nicht frei, darauf zu antworten«,
sagt Stephen kühl.
»Du Dreckskerl!« Ich bin am Boden zerstört. Wie
konnten sich zwei Mitglieder der Selbsthilfegruppe für
Angstgestörte nur zu so etwas zusammenrotten?
»Es lag nie in meiner Absicht, dass es sich so
entwickelt hat«, sagt Stephen, als handle es sich bei dem Ganzen um
so etwas wie einen unglücklichen Zufall.
Ich schäume vor Wut. »Was dachtest du denn, wie es
sich entwickeln würde, als du Zara gebumst hast?«
»Es ist bedauerlich, dass du dich auf solch eine
Ebene hinabbegeben musst«, sagt Stephen hochmütig. »Wenn du es
unbedingt wissen willst, Zara und ich sind seelenverwandt. In den
vergangenen paar Wochen sind wir unzertrennlich geworden. Ich hatte
die Idee, die Strickmaschine zu kaufen, und das hat Zaras Leben
verändert. Jetzt kann sie sich ein geregeltes Einkommen verdienen,
bequem und sicher von Zuhause aus.«
»Es ist immer noch mein Zuhause«, protestiere
ich.
»Wie es aussieht, werde ich deine Sachen im
Self-U-Store in New Malden einlagern.«
Ich muss schlucken. »Du verschwendest keine Zeit,
hm?«
Das perlt an Stephen offenbar ab. »Die Platzfrage
ist vorrangig, nachdem wir nun die Strickmaschine hier
haben.«
Ich knalle das Telefon hin, schmeiße mich aufs
Bett und breche in Tränen aus. Ich kann nicht anders. Auch wenn
Stephen mich jahrelang bis zur Weißglut getrieben hat,
ich bin einfach völlig durch den Wind. Er macht mit mir Schluss
wegen einer Frau, die noch verrückter ist als ich. Das ist doch so
was von unfair! Und wenn man wie eine heiße Kartoffel fallen
gelassen wird, führt das unweigerlich dazu, dass einem der andere
mit einem Mal unendlich viel attraktiver vorkommt. Plötzlich
vermisse ich Stephen und all seine vertrauten Gewohnheiten
schmerzlich: wie er immer die Kaffeebecher im Küchenschrank
aufgereiht hat, die Henkel im 45-Grad-Winkel nach rechts, und wie
präzise er die Zahnpastatube vom Ende her aufgerollt hat.
Ich sehe sie vor mir in unserer Wohnung: Stephen
massiert Zara, die gerade einen weiteren Shetlandpullover
fabriziert, die Schultern und lässt zärtlich seine Zunge über ihren
Nacken schnellen. Er trägt eine Hausjacke aus dunkelgrünem Samt und
hält eine Zigarettenspitze mit einer Mentholzigarette zwischen den
Fingern, obwohl er doch gar nicht raucht. Zara hat ein freches
Cocktailkleid im Stil der Zwanzigerjahre an. »Denkst du noch
manchmal an Alice?«, fragt sie mit einer Spur Eifersucht in der
Stimme. Stephen lacht schrill auf und zwirbelt seinen Schnauzer.
»Du dummes kleines Ding. Sie kann dir nicht das Wasser reichen,
meine Teuerste. Wir wollen nie mehr von ihr
sprechen. Abgemacht!« Dann stoßen sie mit ihren Martinigläsern an
und ziehen sich ins Schlafgemach zurück.
Ich wälze mich auf den Bauch. Londoner Modewoche.
Die Schau von Stephen und Zara ist das absolute Muss unter den
Kollektionen. Naomi Campbell trägt einen figurnahen cremefarbenen
Arran-Pullover, der ihr bis zu den Knien reicht, und Elizabeth
Jagger ist warm verpackt in einem malvenfarbenen Stehkragenpulli
aus Angorawolle. Im Blitzlichtgewitter springen hartgesottene
Journalisten unter Jubelrufen auf, als Stephen und Zara, beide von
Kopf
bis Fuß in schwarzem Mohair, sich am Ende der Modenschau inmitten
einer Heerschar mit Schals bewehrter Models auf dem Laufsteg
zeigen. Ihr anschließender Börsengang macht sie über Nacht zu
Milliardären.
Ich drehe mich auf die Seite, rolle mich zusammen
und fange mit meinen Atemübungen an. Aber bald schon finde ich mich
in meiner Einzimmerwohnung in Surbiton wieder, wo ich der Katze von
meinem Tag in der Bibliothek berichte und in einem Brief an den
Premierminister die Mängel der Dewey-Dezimalklassifikation
umreiße.
An Entspannung ist nicht zu denken, also stehe ich
auf und gehe in die Scheune. Casey wird schon da sein und wie immer
ein Schwätzchen mit mir halten. Danach ist für ihn Teestunde im
Haus, zu der sich auch Heidi immer ziemlich pünktlich
einfindet.
Ja, Casey ist da und striegelt Mary Lou. Sie ist
jetzt in der Gegend weit und breit berühmt. Letzte Woche hat sie
bei der Scott County Show nicht nur den Preis als beste Milchkuh
eingeheimst, sondern ist auch noch zur Siegerin aller Rassen und
Klassen gekürt worden und hat dabei zwei Schafe und eine Ziege auf
den zweiten, dritten und vierten Rang verwiesen. Casey und Mary Lou
waren in der Lokalzeitung, und es wird gemunkelt, dass sie nächstes
Jahr bei der Ohio State Show in den Ring geschickt wird.
»Hi, Casey. Wie geht’s?«
Ich tätschle Mary Lou und werde mit einem dumpfen
Brummen belohnt. Mary Lou ist eine sehr umgängliche Kuh.
Keine Antwort. Casey reibt sich mit dem Saum
seines T-Shirts über die Augen. Bei genauerem Hinsehen stelle ich
zu meinem Entsetzen fest, dass er weint.
Ich gehe zu ihm hin und fasse ihn sacht bei der
Schulter. »Casey, was ist denn?«
Er schüttelt den Kopf. »Es ist was
Privates.«
»War was zu Hause?«
Er schüttelt den Kopf.
Das könnte sich hinziehen.
Aber dann sieht Casey zu Mary Lou hin, und seine
Augen werden wieder feucht.
»Geht es um Mary Lou?«
Ich glaube, ich weiß, was es ist - der Druck wegen
der Ohio State Show. »Casey, falls es wegen der State Show ist, da
musst du dir keine Gedanken machen. Es geht nicht um Gewinnen und
Verlieren. Dabei sein ist alles.« Ein sehr origineller
Zuspruch.
»Sie kann da nicht hin!«, bricht es aus ihm
heraus. »Opa will sie verkaufen.«
Ich bin platt. »Aber sie gewinnt doch mit links.«
Das stimmt wirklich. Ob man’s glaubt oder nicht, Mary Lou weiß
genau, wann eine Schau ansteht. Sobald der Anhänger vorgefahren
wird, hebt sie den Kopf und trottet stolz die Rampe hinauf, exakt
wie später im Vorführpferch. »Wieso das denn?«
»Opa hat gesagt, ich darf es niemandem
erzählen.«
»Ich bin aber nicht niemand. Ich bin deine
Freundin.«
Casey knickt ein. Als Spion wäre er unbrauchbar.
»Wegen der Rechnungen vom Tierarzt.«
»Oh.«
»Wir haben große Schulden. Es sind Rechnungen von
da, wo wir noch die Herde hatten. Opa hat versucht, sie abzuzahlen.
Aber jetzt haben wir einen Brief vom Gericht gekriegt. Der Tierarzt
verklagt uns auf Tausende von Dollars.« Casey sinkt in sich
zusammen. »Opa sagt, der einzige Ausweg ist, Mary Lou zu
verkaufen.«
Der Tag hat es wahrhaftig in sich. Erst werde ich
zur Teilnahme
an einem Cupcake-Wettbewerb herausgefordert, dann für eine
professionelle Strickerin fallen gelassen, und jetzt droht der
Verkauf einer heißgeliebten Kuh. Wer sagt, das Leben im Mittleren
Westen sei öde, ist noch nie in Barnsley gewesen.
»Weiß Wyatt davon?« Er würde bestimmt auf der
Stelle aushelfen.
Casey schüttelt den Kopf. »Ich hab’s Ihnen doch
gesagt. Opa sagt, das geht gegen die Familienehre, und wir reden
mit niemandem über unsere Privatangelegenheiten.«
Ob in Reaktion auf die Ereignisse des Tages oder
einfach nur auf Caseys niedergeschmetterte Miene, jedenfalls packt
mich die Wut auf Opa - ein Mann, dem sein verbohrter Stolz
wichtiger ist als die Gefühle seiner Lieben. Meine Güte, allmählich
höre ich mich an, als gehörte ich hier dazu.
»Sie müssen mir versprechen, keinem was davon zu
sagen«, bittet Casey ängstlich.
»Großes Indianer- und Piratenehrenwort.«
Das scheint ihn zu beruhigen.
»Keine Sorge, Casey«, sage ich bestimmt. »Wir
finden schon eine Lösung.«
Er sieht mich an. »Opa sagt, es geht nicht
anders.« Er guckt genauer hin. »Warum sind Ihre Augen so
rot?«
»Sind sie nicht.«
»Doch, sind sie.«
Na gut. »Mein Freund und ich haben uns gerade
getrennt.« Ich zwinge mich, munter zu klingen. »Aber ich betrachte
das Ganze von der positiven Seite. Letztlich wird etwas Gutes dabei
herauskommen. So musst du auch die Sache mit Mary Lou sehen.«
Casey lässt sich nicht beirren. »Wieso hat er mit
Ihnen Schluss gemacht?«
Wieso geht er davon aus, dass nicht ich diejenige
bin, die Schluss gemacht hat? Egal, er hat ja recht. »Weil er
jemand anderen kennengelernt hat. Ich glaube, es lag an der
Entfernung zwischen uns.«
»Sie meinen, er hat Sie total vergessen, als Sie
nicht mehr da waren?«
Ich mache mir im Geist eine Notiz, nie wieder mit
einem Zwölfjährigen über mein Liebesleben zu diskutieren. »Ja,
ziemlich genau so.«
»Na, ich finde, der ist eine Null«, sagt Casey,
»und das wird ihm bestimmt noch leidtun.«
Ich nehme ihn in die Arme. »Recht hast du.« Ich
bin in Versuchung, ihm Details über Zara zu erzählen - dass sie zum
Beispiel zwanghaft die Schokolade von Kit-Kat-Riegeln ablutscht und
ihr Augen-Make-up im Kühlschrank aufbewahrt, seit sie was von
Milben in Wimpern gehört hat. Dann fällt mir ein, dass ich die
Erwachsene bin und er das Kind. »Casey, wir müssen uns einen Plan
ausdenken, wie wir Mary Lou retten können«, sage ich so munter wie
möglich.
Casey schaut mit vertrauensvollem Kinderblick zu
mir auf. »Wirklich?« Mit einem Mal erstrahlt Hoffnung auf seinem
Gesicht. »Können Sie sie retten?«
Keine Ahnung, aber das darf ich ihn nicht merken
lassen, sondern muss erst mal Zeit gewinnen. »Haben wir dein
Kentucky-Referat gemeistert?«
Er nickt.
»Hast du eine Eins plus für die Flora und Fauna
von Ohio bekommen?«
Er nickt.
»Dann finden wir auch etwas, wie wir Mary Lou
behalten können«, sage ich im Brustton der Überzeugung, »und
sie zu der Ohio State Show bringen«, setze ich kühn noch eins
drauf.
Seine Miene erhellt sich. »Wow.«
Er springt auf und sagt aufgekratzt zu Mary Lou:
»Wir gewinnen die State Show!«
Ich bereue bereits meinen verwegenen Nachsatz,
aber jetzt ist es schon zu spät. Casey zeigt auf Mary Lous
Siegerrosette von der Scott County Show. »Du kriegst hier eine
Riesenrosette hingenagelt«, versichert er ihr und deutet zur
Scheunenwand. »Alice denkt sich was aus und löst alle unsere
Probleme!«
Er schlingt die Arme um Mary Lous Hals und
vergräbt das Gesicht in ihrem samtigen Fell. In dem Moment kommt
Wyatt in die Scheune. Casey wirft mir einen warnenden Blick zu und
legt den Finger auf die Lippen. Ich nicke. Schließlich habe ich es
versprochen.
Als Wyatt vor uns steht, tun wir ganz gelassen wie
zwei schlechte Schauspieler: Ich blicke, beide Hände in den
Hosentaschen, zur Decke, Casey pfeift vor sich hin und scharrt mit
dem Füßen.
Wyatt lässt sich keine Sekunde täuschen. »Was
gibt’s?«, fragt er und schaut von mir zu Casey und wieder zurück zu
mir.
Wir reden beide gleichzeitig los.
»Nichts«, sage ich.
»Es ist wegen Alice«, sagt Casey. »Ihr Freund hat
mit ihr Schluss gemacht.«
Ist es zu fassen! Welch ein Mangel an
Loyalität!
Casey grinst mich ungerührt an. »Alice hat gesagt,
er hat sie total vergessen, und es wird ihm noch leidtun.«
»Das war nicht ganz das, was ich gesagt
habe.«
Wyatt blickt mich fragend an.
»Stephen und ich sind wechselseitig zu dem
Beschluss gekommen, eine Auszeit zu nehmen«, sage ich
würdevoll.
»Aber Sie haben doch gesagt, dass er mit Ihnen
Schluss gemacht hat«, sagt Casey, um mir auf die Sprünge zu
helfen.
Wyatt nimmt sich einen Moment Zeit, um die
Nachricht zu verdauen. »Das tut mir leid, Alice. Kann ich irgendwas
tun?«
»Nein. Wirklich. Mir geht’s gut«, sage ich,
allerdings klingt meine Stimme ein bisschen zittrig, und ich merke,
dass ich wohl doch leicht unter Schock stehe.
»Du könntest uns was zu essen machen«, sagt Casey.
»Das hilft Alice bestimmt. Wie wäre es mit Käsetoast?«
Wyatt mustert mich eindringlich. »Gute Idee. Wenn
du hier drin fertig bist, Casey, dann komm rüber.«
Dann nimmt er mich beim Arm und führt mich aus der
Scheune.
»Ich würde Ihnen ja gern einen Brandy anbieten,
wenn ich welchen dahätte«, sagt Wyatt, als ich mich an den
Küchentisch setze.
Eigentlich wäre mir danach, ein schönes Glas Wein
zu vernichten, aber ich schüttle vehement den Kopf. »Ich bin mir
sicher, dass Alkohol meine Probleme nur noch verschlimmert«,
zitiere ich gewissenhaft eine Zeile aus der Broschüre, die mir
bisher noch verschwindend wenig von praktischem Nutzen gewesen
ist.
Wyatt zieht eine Braue hoch. »Alice, um
meinetwillen müssen Sie so was nicht sagen.«
Tue ich aber, weil ich mich schließlich nicht gut
darüber verbreiten kann, wie schön doch jetzt ein kühles Gläschen
Chardonnay wäre.
»Kaffee wäre toll«, sage ich enthusiastisch.
Er setzt Wasser auf.
»Es tut mir wirklich leid, Alice«, sagt er. »Ich
fühle mich irgendwie mitverantwortlich.«
»Mitverantwortlich?«
»Ja. Wenn Sie nicht hergekommen wären, wären Sie
beide noch zusammen.«
Komisch, aber obwohl ich nach dem Bruch immer noch
ziemlich benommen bin, bereue ich es in keiner Hinsicht, nach
Barnsley gekommen zu sein.
»Nein«, sage ich entschieden. »Es hat nichts mit
meinem Aufenthalt hier zu tun.« Wyatt darf nicht denken, dass die
Schuld irgendwie bei ihm läge. »Es ist so, dass Stephen jetzt mit
Zara zusammen ist.«
Wyatt fährt herum. »Mit der bekloppten
Strickliesel?«
»Ja.«
Wyatt schüttelt den Kopf. »Unglaublich.« Er nimmt
eine Packung Käsescheiben aus dem Kühlschrank und fängt an, Caseys
Sandwich zusammenzubauen. Ich lehne mich zurück und schaue ihm zu,
während Travis mit der Schnauze an mein Bein stupst. Wyatts
Nachmittagssession mit Bruce muss gut gelaufen sein, denn Wyatt
summt ein paar Takte aus »Pretty Woman«. Dazu inspiriert ihn
vermutlich der Song über Heidi, an dem er gerade schreibt -
verständlich, schließlich ist sie diejenige, die das Schicksal ihm
zur Gattin bestimmt hat.
Noch was ist komisch: Wie ich so hier bei Wyatt in
der Küche sitze, fühle ich mich längst nicht mehr so mies.
Vielleicht regt der Duft nach Käsetoast ja meine Endorphine an?
Wyatt reicht mir eine Tasse Kaffee, Travis begibt sich auf die Jagd
nach Sandwichkrümeln, und Casey stürmt durch die Küchentür herein.
»Ich bin am Verhungern!«
Wyatt serviert Klapptoast mit Käse, ich stelle
Casey ein
großes Glas Milch hin. Casey verputzt sein erstes Sandwich im
Handumdrehen und blickt Wyatt erwartungsvoll an.
»Du frisst mir die Haare vom Kopf«, sagt Wyatt
seufzend und macht ihm ein zweites.
Dann erzählt uns Casey ziemlich detailliert von
Mary Lous überstandener Euterentzündung. Es ist erstaunlich
interessant. Wirklich verblüffend, wie meine Sichtweise sich in den
drei Monaten, die ich nun schon hier bin, verändert hat. Heute
Morgen habe ich durchs Fenster hoffnungsvoll nach Regen Ausschau
gehalten, den die Farmer dringend brauchen, damit die Maiskolben
rund und voll werden. Erhöhte Aufmerksamkeit erfordert auch der
Wetterbericht wegen etwaiger Tornadowarnungen; zum Glück mussten
wir bisher noch nie Zuflucht im Keller suchen. Außerdem habe ich
gelernt, nachts stets wachsam zu sein. Zwar wird in Barnsley nie
jemand überfallen, dennoch lauert hinter jeder Ecke Gefahr:
Tollwütige Fledermäuse sind hier eine ziemliche Plage, und in
diesem Jahr hat die Zahl der Stinktiere ein Rekordhoch
erreicht.
Wer hätte gedacht, dass ich mich in Barnsley so
schnell zugehörig fühlen würde? Ich lehne mich wieder zurück und
warte darauf, dass Wyatt mich zu einem Käseklapptoast überredet.
Fast könnte ich mich entspannt der Vorstellung hingeben, wie es
wäre, wenn ich ständig hier lebte. Ich betrachte Wyatt, den
vertrauten Umriss seines breiten Rückens, sein länger nicht
geschnittenes Haar, das ihm so gut steht, seine Hände, die von der
Arbeit im Freien dunkelbraungebrannt sind. Ich schaue mich in der
Küche um, wobei mir klar wird, dass ich mittlerweile an den meisten
Tagen hier morgens, mittags und abends esse. Dann sehe ich zu Casey
hin und denke, dass Wyatt nicht der Einzige ist, den ich schweren
Herzens zurücklassen werde.
Und dann befehle ich mir, Vernunft anzunehmen. Ich
darf so nicht denken. Ich werde mir auch nicht einen Augenblick
lang erlauben, mich Träumereien hinzugeben. Das habe ich schon
einmal gemacht, und als unsere Hoffnungen zerschlagen waren, als
alles, von dem wir dachten, es würde gut ausgehen, sich als
schrecklich verkehrt herausstellte, da wurde mir klar, wie
gefährlich Träume sein können. »Es ist nur eine
Routineuntersuchung«, sagte Mum am Abend vor ihrem Termin im
Krankenhaus, zwei Jahre nach der Operation und der Chemotherapie
und den Bestrahlungen. Mum und die Ärzte hatten alles im Griff, so
dachten wir jedenfalls. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich ihr
morgens viel Glück gewünscht habe. Ich war selbstzufrieden
geworden, und falls Mum nervös war, ließ sie es sich nicht
anmerken. Als ich von der Schule nach Hause kam, saßen Mum und Dad
im Wohnzimmer. Sie hatten vergessen, Licht zu machen.
»Es ist zurückgekommen, Alice«, sagte Dad
leise.
Ich war geschockt, lachte aber nur ein bisschen
nervös, wenn ich mich recht erinnere. »Das können sie doch wieder
verschwinden lassen.« Es war keine Frage. Es war das, was ich
glauben wollte.
Dann sprach Mum. »Es sitzt in den Knochen,
Liebes.«
In dem Moment schwor ich mir, das Träumen
aufzugeben. Manchmal glaube ich, es war der Moment, in dem ich die
Hoffnung aufgab. Doch jetzt sehe ich zu Casey hin, sehe das
Vertrauen in seinem Blick, die feste Überzeugung, dass ich
irgendwie Mary Lou retten werde und alles gut ausgeht. Nein, ich
habe die Hoffnung nicht aufgegeben. Nicht für Casey jedenfalls. Ich
beschließe, dass ich Opa morgen einen Besuch abstatten werde.