28. KAPITEL
»Heidi ist seit fünf Jahren die ewige Siegerin beim Cupcake-Wettbewerb von Barnsley«, sagt Rachel düster. »Sie kriegt immer, was sie will.«
Wir sind schon beim Abwasch. Alle anderen sitzen noch im Wohnzimmer, nur Heidi und Sara haben sich entschuldigt und sind gleich nach dem abrupten Ende meines Vortrags aufgebrochen. Meine Illustrationstafeln zum Thema gesunde Ernährung kann ich unbenutzt zurück in die Tasche stopfen.
Heidi hat mir zum Abschied fast die Hand zerquetscht. »Kein Rückzieher, Alice«, sagte sie lachend. »Soll doch niemand sagen, Sie wären der Aufgabe nicht gewachsen!«
Ich ziehe Rachels Geschirrtuch glatt. »Ach, das wird schon nicht so wild sein«, sage ich. »Ist doch nur ein Cupcake-Wettbewerb.«
»Alice«, sagt Rachel gedehnt. »Fang lieber schon mal an. Da kommt ein Haufen Leute hin.«
»So?«
»Ungefähr tausend. Ganz Barnsley.«
Ich verspüre spontan das dringende Bedürfnis nach ein bisschen frischer Luft und trage meine Utensilien hinaus zum Auto. Dann gehe ich noch mal zurück, um mich rasch von Rachel zu verabschieden. Ich höre Baby Dale brüllen und Rachel gurren, die offenbar nach oben gegangen ist und ihn zu einem Nickerchen zu überreden versucht. Wie ich da so im Flur stehe und überlege, ob ich Rachel bei ihren Babyflüsterbemühungen stören soll, höre ich Dolores klar und deutlich aus dem Wohnzimmer sagen:
»Dieser Stiesel soll endlich eine ehrbare Frau aus ihr machen. Sie ist genau die Richtige für ihn - das sieht doch ein Blinder mit Krückstock.«
»Vielleicht hat er’s nicht mit dem Heiraten«, sagt Stacey.
»Es heißt, er wäre nicht grad der Zuverlässigste«, merkt Brandy an. »Trotzdem würde ich ihn nicht von der Bettkante schubsen.«
Brüllendes Gelächter. Erstaunlich, wie obszön die braven Muttis werden können. Muss wohl ein Zuckerflash sein.
»Es braucht schon ein starkes Weib, um Wyatt Brown im Zaum zu halten«, sagt Candy.
Mir dreht sich der Magen um.
»Die Leute sollten lieber ihre Zunge im Zaum halten«, sagt Dolores spitz. »Er hat seine wilden Jahre gehabt, wohl wahr. Aber das ist alles lange vorbei. Ich finde, er ist reif dafür, einen Hausstand zu gründen. Und sie ist die Richtige für ihn. Sie wäre eine wunderbare Ehefrau und Mutter - sie ist ein Naturtalent, was Kinder angeht.«
Natürlich. Heidi ist nicht nur aus der Gegend hier, sondern auch noch Lehrerin. Ich stehe da und fühle mich elend, unzulänglich und scheußlich britisch.
»Aber bist du denn sicher, dass sie ihn will?«, fragt Brandy.
»Sicher?«, sagt Dolores verächtlich. »Ich hab schließlich Augen im Kopf.«
Ja, genau. Von Anfang an - seit dem Schneetag, an dem wir uns im Blue Ribbon zum ersten Mal begegnet sind - war Heidi alles andere als begeistert von der Vorstellung, dass ich im Cottage logieren sollte. Seither hat sie jede Gelegenheit genutzt, mir gegenüber Warnungen auszusprechen und mich vor den anderen schlecht dastehen zu lassen. Und im Großen und Ganzen ist es ihr gelungen.
Mehr halte ich nicht aus. Ohne mich von Rachel zu verabschieden, schleiche ich zur Haustür. Als ich sie leise hinter mir schließe, höre ich Dolores’ abschließende Worte zum Thema. »Und was ihre Kochkünste angeht …«
Ich steige in den Ford Focus und fahre langsam zurück zur Farm. Nicht einmal der Anblick der endlosen Sojabohnenfelder hebt meine Stimmung. Der Cupcake-Wettbewerb geht mir nicht aus dem Kopf. Ich weiß jetzt schon haargenau, wie es sich abspielen wird: Ich stehe neben Heidi in dem großen weißen Festzelt. Der Applaus der Menge will und will nicht enden, nachdem Heidi (ein historisches Ereignis) zum sechsten Mal in Folge zur Gewinnerin des Wettbewerbs bestimmt worden ist. Dann tritt Wyatt, der bis dahin unbeachtet hinten in der Menge gestanden hat, unerwartet vor. Er trägt ein weißes, kragenloses Hemd, Kniehosen mit Trägern und einen braunen Filzhut, den er mit einem ritterlichen Lächeln in Richtung der Hauswirtschaftslehrerin abnimmt. Die aufgekrempelten Ärmel lassen seine stark gebräunten, muskulösen Arme sehen. Tiefes Schweigen senkt sich über die Menge. Ruhig und gelassen schreitet er zu uns Kandidatinnen hin und wirft einen höflichen, aber flüchtigen Blick in meine Richtung. »Gut gemacht, Alice. Ein wackerer Versuch.« Halbherziger Beifall. Dann wendet er sich Heidi zu. »Ihr habt mich und ganz Barnsley heute sehr stolz gemacht.« Die Zuschauer brechen in Jubelrufe aus. Kleine Kinder schwenken aufgeregt herumhüpfend Fähnchen, und eine alte Dame tupft sich mit einem Spitzentaschentuch eine Träne aus dem Auge. »Darum möchte ich Euch hier vor diesen prächtigen Dorfbewohnern fragen, ob Ihr meine Frau werden wollt.«
Heidi schnappt nach Luft, wird entzückend rot und blickt mit schräg geneigtem Kopf kokett zu Wyatt empor. »Meiner Treu, Mr. Brown. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Wyatt legt die Hand aufs Herz. »Ich habe nicht viel«, sagt er. »Ein paar gute Pferde, eine Scheune und ein Stück Land jenseits des Hügels. Doch ich gelobe, dass ich Euch ein braver und treuer Ehemann sein werde. Und, wenn es dem HERRN gefällt, unseren Kindern ein strenger, aber gerechter Vater. Sechs an der Zahl, hoffe ich.« Er räuspert sich. »Nun denn, was sagt Ihr, Miss Heidi?«
»Ich sage Ja, Mr. Brown!«
Alle werfen die Hüte in die Luft, glücklicherweise ist sogleich eine Fiedel zur Hand, und zu ihren Klängen tanzen die jungen Männer und Frauen von Barnsley spontan eine Gigue. Die alte Dame nickt beifällig zu den beiden hin. »Bis zum Frühjahr wird sie ein Kind unter ihrem Herzen tragen.«
Im Cottage angekommen, mache ich meine Atemübungen - zum ersten Mal seit drei Monaten. Eine verzweifelte Lage erfordert verzweifelte Maßnahmen: Ich gehe auf alle viere, lege den Küchenfußboden mit Zeitungspapier aus und schrubbe den Backofen.
Nach einer Stunde - die Einschübe glänzen wie neu - bin ich wieder so weit hergestellt, dass ich online gehen und das Cupcake-Rezept von Martha Stewart ausdrucken kann. Und schon geht es mir wieder schlechter. Es gibt so viele Wahlmöglichkeiten: Vanille- oder Schokolade-Cupcakes? Einfarbige oder gemusterte Papierförmchen? Buttercreme oder Zuckerguss als Glasur? Ich muss mich irgendwie berappeln, also durchbreche ich Stephens Einmal-pro-Woche-Regel für Telefonate und rufe ihn an, weil ich dringend moralische Unterstützung brauche.
Er klingt überrascht. »Alice? Ist alles in Ordnung?«
Bevor ich etwas sagen kann, redet er weiter. »Warte einen Moment, ich gehe ins Schlafzimmer.« Ich höre undeutliche Geräusche, als ob er die Hand über die Sprechmuschel hält.
»Stephen, was ist denn los?«
In den letzten Wochen hat unsere Kommunikation sich schwierig gestaltet, weil Stephen praktisch jeden Abend mit Brettspielen beschäftigt ist.
»Nichts«, sagt er ausweichend.
Ich versuche angestrengt, aus dem Geräusch im Hintergrund schlau zu werden. Klick, Klick, Klick.
»Was ist das?«
Sein Lachen klingt nicht überzeugend. »Ich höre nichts. Vielleicht ist es die Leitung.«
Klick, Klick, Klick. Surr, Surr, Surr.
»Stephen«, sage ich eindringlich.
Ein tiefer Seufzer. »Ich dachte mir schon, dass du es irgendwann herausfinden würdest.« Er zögert. »Das ist Zaras Strickmaschine.«
Ich verstehe nur Bahnhof. »Aber du hast doch gesagt, dass Andy und Jennifer ausgezogen sind.«
Ominöses Schweigen. »Sie schon«, sagt er betont.
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was das zu bedeuten hat.
»Es ist einfach passiert, Alice«, versucht Stephen sich zu rechtfertigen. »Zwischen uns hat etwas klick gemacht.«
Stephen hat gerade einen Witz gerissen, aber nicht mit Absicht, das weiß ich. »Wie lange geht das schon so?«, schnauze ich.
»Das ist schwer zu sagen. Ich habe auf den richtigen Moment gewartet, um es dir zu erzählen.«
Mir kommt ein grässlicher Gedanke. »Schläfst du mit ihr?«
»Es steht mir nicht frei, darauf zu antworten«, sagt Stephen kühl.
»Du Dreckskerl!« Ich bin am Boden zerstört. Wie konnten sich zwei Mitglieder der Selbsthilfegruppe für Angstgestörte nur zu so etwas zusammenrotten?
»Es lag nie in meiner Absicht, dass es sich so entwickelt hat«, sagt Stephen, als handle es sich bei dem Ganzen um so etwas wie einen unglücklichen Zufall.
Ich schäume vor Wut. »Was dachtest du denn, wie es sich entwickeln würde, als du Zara gebumst hast?«
»Es ist bedauerlich, dass du dich auf solch eine Ebene hinabbegeben musst«, sagt Stephen hochmütig. »Wenn du es unbedingt wissen willst, Zara und ich sind seelenverwandt. In den vergangenen paar Wochen sind wir unzertrennlich geworden. Ich hatte die Idee, die Strickmaschine zu kaufen, und das hat Zaras Leben verändert. Jetzt kann sie sich ein geregeltes Einkommen verdienen, bequem und sicher von Zuhause aus.«
»Es ist immer noch mein Zuhause«, protestiere ich.
»Wie es aussieht, werde ich deine Sachen im Self-U-Store in New Malden einlagern.«
Ich muss schlucken. »Du verschwendest keine Zeit, hm?«
Das perlt an Stephen offenbar ab. »Die Platzfrage ist vorrangig, nachdem wir nun die Strickmaschine hier haben.«
Ich knalle das Telefon hin, schmeiße mich aufs Bett und breche in Tränen aus. Ich kann nicht anders. Auch wenn Stephen mich jahrelang bis zur Weißglut getrieben hat, ich bin einfach völlig durch den Wind. Er macht mit mir Schluss wegen einer Frau, die noch verrückter ist als ich. Das ist doch so was von unfair! Und wenn man wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen wird, führt das unweigerlich dazu, dass einem der andere mit einem Mal unendlich viel attraktiver vorkommt. Plötzlich vermisse ich Stephen und all seine vertrauten Gewohnheiten schmerzlich: wie er immer die Kaffeebecher im Küchenschrank aufgereiht hat, die Henkel im 45-Grad-Winkel nach rechts, und wie präzise er die Zahnpastatube vom Ende her aufgerollt hat.
Ich sehe sie vor mir in unserer Wohnung: Stephen massiert Zara, die gerade einen weiteren Shetlandpullover fabriziert, die Schultern und lässt zärtlich seine Zunge über ihren Nacken schnellen. Er trägt eine Hausjacke aus dunkelgrünem Samt und hält eine Zigarettenspitze mit einer Mentholzigarette zwischen den Fingern, obwohl er doch gar nicht raucht. Zara hat ein freches Cocktailkleid im Stil der Zwanzigerjahre an. »Denkst du noch manchmal an Alice?«, fragt sie mit einer Spur Eifersucht in der Stimme. Stephen lacht schrill auf und zwirbelt seinen Schnauzer. »Du dummes kleines Ding. Sie kann dir nicht das Wasser reichen, meine Teuerste. Wir wollen nie mehr von ihr sprechen. Abgemacht!« Dann stoßen sie mit ihren Martinigläsern an und ziehen sich ins Schlafgemach zurück.
Ich wälze mich auf den Bauch. Londoner Modewoche. Die Schau von Stephen und Zara ist das absolute Muss unter den Kollektionen. Naomi Campbell trägt einen figurnahen cremefarbenen Arran-Pullover, der ihr bis zu den Knien reicht, und Elizabeth Jagger ist warm verpackt in einem malvenfarbenen Stehkragenpulli aus Angorawolle. Im Blitzlichtgewitter springen hartgesottene Journalisten unter Jubelrufen auf, als Stephen und Zara, beide von Kopf bis Fuß in schwarzem Mohair, sich am Ende der Modenschau inmitten einer Heerschar mit Schals bewehrter Models auf dem Laufsteg zeigen. Ihr anschließender Börsengang macht sie über Nacht zu Milliardären.
Ich drehe mich auf die Seite, rolle mich zusammen und fange mit meinen Atemübungen an. Aber bald schon finde ich mich in meiner Einzimmerwohnung in Surbiton wieder, wo ich der Katze von meinem Tag in der Bibliothek berichte und in einem Brief an den Premierminister die Mängel der Dewey-Dezimalklassifikation umreiße.
An Entspannung ist nicht zu denken, also stehe ich auf und gehe in die Scheune. Casey wird schon da sein und wie immer ein Schwätzchen mit mir halten. Danach ist für ihn Teestunde im Haus, zu der sich auch Heidi immer ziemlich pünktlich einfindet.
Ja, Casey ist da und striegelt Mary Lou. Sie ist jetzt in der Gegend weit und breit berühmt. Letzte Woche hat sie bei der Scott County Show nicht nur den Preis als beste Milchkuh eingeheimst, sondern ist auch noch zur Siegerin aller Rassen und Klassen gekürt worden und hat dabei zwei Schafe und eine Ziege auf den zweiten, dritten und vierten Rang verwiesen. Casey und Mary Lou waren in der Lokalzeitung, und es wird gemunkelt, dass sie nächstes Jahr bei der Ohio State Show in den Ring geschickt wird.
»Hi, Casey. Wie geht’s?«
Ich tätschle Mary Lou und werde mit einem dumpfen Brummen belohnt. Mary Lou ist eine sehr umgängliche Kuh.
Keine Antwort. Casey reibt sich mit dem Saum seines T-Shirts über die Augen. Bei genauerem Hinsehen stelle ich zu meinem Entsetzen fest, dass er weint.
Ich gehe zu ihm hin und fasse ihn sacht bei der Schulter. »Casey, was ist denn?«
Er schüttelt den Kopf. »Es ist was Privates.«
»War was zu Hause?«
Er schüttelt den Kopf.
Das könnte sich hinziehen.
Aber dann sieht Casey zu Mary Lou hin, und seine Augen werden wieder feucht.
»Geht es um Mary Lou?«
Ich glaube, ich weiß, was es ist - der Druck wegen der Ohio State Show. »Casey, falls es wegen der State Show ist, da musst du dir keine Gedanken machen. Es geht nicht um Gewinnen und Verlieren. Dabei sein ist alles.« Ein sehr origineller Zuspruch.
»Sie kann da nicht hin!«, bricht es aus ihm heraus. »Opa will sie verkaufen.«
Ich bin platt. »Aber sie gewinnt doch mit links.« Das stimmt wirklich. Ob man’s glaubt oder nicht, Mary Lou weiß genau, wann eine Schau ansteht. Sobald der Anhänger vorgefahren wird, hebt sie den Kopf und trottet stolz die Rampe hinauf, exakt wie später im Vorführpferch. »Wieso das denn?«
»Opa hat gesagt, ich darf es niemandem erzählen.«
»Ich bin aber nicht niemand. Ich bin deine Freundin.«
Casey knickt ein. Als Spion wäre er unbrauchbar. »Wegen der Rechnungen vom Tierarzt.«
»Oh.«
»Wir haben große Schulden. Es sind Rechnungen von da, wo wir noch die Herde hatten. Opa hat versucht, sie abzuzahlen. Aber jetzt haben wir einen Brief vom Gericht gekriegt. Der Tierarzt verklagt uns auf Tausende von Dollars.« Casey sinkt in sich zusammen. »Opa sagt, der einzige Ausweg ist, Mary Lou zu verkaufen.«
Der Tag hat es wahrhaftig in sich. Erst werde ich zur Teilnahme an einem Cupcake-Wettbewerb herausgefordert, dann für eine professionelle Strickerin fallen gelassen, und jetzt droht der Verkauf einer heißgeliebten Kuh. Wer sagt, das Leben im Mittleren Westen sei öde, ist noch nie in Barnsley gewesen.
»Weiß Wyatt davon?« Er würde bestimmt auf der Stelle aushelfen.
Casey schüttelt den Kopf. »Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Opa sagt, das geht gegen die Familienehre, und wir reden mit niemandem über unsere Privatangelegenheiten.«
Ob in Reaktion auf die Ereignisse des Tages oder einfach nur auf Caseys niedergeschmetterte Miene, jedenfalls packt mich die Wut auf Opa - ein Mann, dem sein verbohrter Stolz wichtiger ist als die Gefühle seiner Lieben. Meine Güte, allmählich höre ich mich an, als gehörte ich hier dazu.
»Sie müssen mir versprechen, keinem was davon zu sagen«, bittet Casey ängstlich.
»Großes Indianer- und Piratenehrenwort.«
Das scheint ihn zu beruhigen.
»Keine Sorge, Casey«, sage ich bestimmt. »Wir finden schon eine Lösung.«
Er sieht mich an. »Opa sagt, es geht nicht anders.« Er guckt genauer hin. »Warum sind Ihre Augen so rot?«
»Sind sie nicht.«
»Doch, sind sie.«
Na gut. »Mein Freund und ich haben uns gerade getrennt.« Ich zwinge mich, munter zu klingen. »Aber ich betrachte das Ganze von der positiven Seite. Letztlich wird etwas Gutes dabei herauskommen. So musst du auch die Sache mit Mary Lou sehen.«
Casey lässt sich nicht beirren. »Wieso hat er mit Ihnen Schluss gemacht?«
Wieso geht er davon aus, dass nicht ich diejenige bin, die Schluss gemacht hat? Egal, er hat ja recht. »Weil er jemand anderen kennengelernt hat. Ich glaube, es lag an der Entfernung zwischen uns.«
»Sie meinen, er hat Sie total vergessen, als Sie nicht mehr da waren?«
Ich mache mir im Geist eine Notiz, nie wieder mit einem Zwölfjährigen über mein Liebesleben zu diskutieren. »Ja, ziemlich genau so.«
»Na, ich finde, der ist eine Null«, sagt Casey, »und das wird ihm bestimmt noch leidtun.«
Ich nehme ihn in die Arme. »Recht hast du.« Ich bin in Versuchung, ihm Details über Zara zu erzählen - dass sie zum Beispiel zwanghaft die Schokolade von Kit-Kat-Riegeln ablutscht und ihr Augen-Make-up im Kühlschrank aufbewahrt, seit sie was von Milben in Wimpern gehört hat. Dann fällt mir ein, dass ich die Erwachsene bin und er das Kind. »Casey, wir müssen uns einen Plan ausdenken, wie wir Mary Lou retten können«, sage ich so munter wie möglich.
Casey schaut mit vertrauensvollem Kinderblick zu mir auf. »Wirklich?« Mit einem Mal erstrahlt Hoffnung auf seinem Gesicht. »Können Sie sie retten?«
Keine Ahnung, aber das darf ich ihn nicht merken lassen, sondern muss erst mal Zeit gewinnen. »Haben wir dein Kentucky-Referat gemeistert?«
Er nickt.
»Hast du eine Eins plus für die Flora und Fauna von Ohio bekommen?«
Er nickt.
»Dann finden wir auch etwas, wie wir Mary Lou behalten können«, sage ich im Brustton der Überzeugung, »und sie zu der Ohio State Show bringen«, setze ich kühn noch eins drauf.
Seine Miene erhellt sich. »Wow.«
Er springt auf und sagt aufgekratzt zu Mary Lou: »Wir gewinnen die State Show!«
Ich bereue bereits meinen verwegenen Nachsatz, aber jetzt ist es schon zu spät. Casey zeigt auf Mary Lous Siegerrosette von der Scott County Show. »Du kriegst hier eine Riesenrosette hingenagelt«, versichert er ihr und deutet zur Scheunenwand. »Alice denkt sich was aus und löst alle unsere Probleme!«
Er schlingt die Arme um Mary Lous Hals und vergräbt das Gesicht in ihrem samtigen Fell. In dem Moment kommt Wyatt in die Scheune. Casey wirft mir einen warnenden Blick zu und legt den Finger auf die Lippen. Ich nicke. Schließlich habe ich es versprochen.
Als Wyatt vor uns steht, tun wir ganz gelassen wie zwei schlechte Schauspieler: Ich blicke, beide Hände in den Hosentaschen, zur Decke, Casey pfeift vor sich hin und scharrt mit dem Füßen.
Wyatt lässt sich keine Sekunde täuschen. »Was gibt’s?«, fragt er und schaut von mir zu Casey und wieder zurück zu mir.
Wir reden beide gleichzeitig los.
»Nichts«, sage ich.
»Es ist wegen Alice«, sagt Casey. »Ihr Freund hat mit ihr Schluss gemacht.«
Ist es zu fassen! Welch ein Mangel an Loyalität!
Casey grinst mich ungerührt an. »Alice hat gesagt, er hat sie total vergessen, und es wird ihm noch leidtun.«
»Das war nicht ganz das, was ich gesagt habe.«
Wyatt blickt mich fragend an.
»Stephen und ich sind wechselseitig zu dem Beschluss gekommen, eine Auszeit zu nehmen«, sage ich würdevoll.
»Aber Sie haben doch gesagt, dass er mit Ihnen Schluss gemacht hat«, sagt Casey, um mir auf die Sprünge zu helfen.
Wyatt nimmt sich einen Moment Zeit, um die Nachricht zu verdauen. »Das tut mir leid, Alice. Kann ich irgendwas tun?«
»Nein. Wirklich. Mir geht’s gut«, sage ich, allerdings klingt meine Stimme ein bisschen zittrig, und ich merke, dass ich wohl doch leicht unter Schock stehe.
»Du könntest uns was zu essen machen«, sagt Casey. »Das hilft Alice bestimmt. Wie wäre es mit Käsetoast?«
Wyatt mustert mich eindringlich. »Gute Idee. Wenn du hier drin fertig bist, Casey, dann komm rüber.«
Dann nimmt er mich beim Arm und führt mich aus der Scheune.
»Ich würde Ihnen ja gern einen Brandy anbieten, wenn ich welchen dahätte«, sagt Wyatt, als ich mich an den Küchentisch setze.
Eigentlich wäre mir danach, ein schönes Glas Wein zu vernichten, aber ich schüttle vehement den Kopf. »Ich bin mir sicher, dass Alkohol meine Probleme nur noch verschlimmert«, zitiere ich gewissenhaft eine Zeile aus der Broschüre, die mir bisher noch verschwindend wenig von praktischem Nutzen gewesen ist.
Wyatt zieht eine Braue hoch. »Alice, um meinetwillen müssen Sie so was nicht sagen.«
Tue ich aber, weil ich mich schließlich nicht gut darüber verbreiten kann, wie schön doch jetzt ein kühles Gläschen Chardonnay wäre.
»Kaffee wäre toll«, sage ich enthusiastisch.
Er setzt Wasser auf.
»Es tut mir wirklich leid, Alice«, sagt er. »Ich fühle mich irgendwie mitverantwortlich.«
»Mitverantwortlich?«
»Ja. Wenn Sie nicht hergekommen wären, wären Sie beide noch zusammen.«
Komisch, aber obwohl ich nach dem Bruch immer noch ziemlich benommen bin, bereue ich es in keiner Hinsicht, nach Barnsley gekommen zu sein.
»Nein«, sage ich entschieden. »Es hat nichts mit meinem Aufenthalt hier zu tun.« Wyatt darf nicht denken, dass die Schuld irgendwie bei ihm läge. »Es ist so, dass Stephen jetzt mit Zara zusammen ist.«
Wyatt fährt herum. »Mit der bekloppten Strickliesel?«
»Ja.«
Wyatt schüttelt den Kopf. »Unglaublich.« Er nimmt eine Packung Käsescheiben aus dem Kühlschrank und fängt an, Caseys Sandwich zusammenzubauen. Ich lehne mich zurück und schaue ihm zu, während Travis mit der Schnauze an mein Bein stupst. Wyatts Nachmittagssession mit Bruce muss gut gelaufen sein, denn Wyatt summt ein paar Takte aus »Pretty Woman«. Dazu inspiriert ihn vermutlich der Song über Heidi, an dem er gerade schreibt - verständlich, schließlich ist sie diejenige, die das Schicksal ihm zur Gattin bestimmt hat.
Noch was ist komisch: Wie ich so hier bei Wyatt in der Küche sitze, fühle ich mich längst nicht mehr so mies. Vielleicht regt der Duft nach Käsetoast ja meine Endorphine an? Wyatt reicht mir eine Tasse Kaffee, Travis begibt sich auf die Jagd nach Sandwichkrümeln, und Casey stürmt durch die Küchentür herein. »Ich bin am Verhungern!«
Wyatt serviert Klapptoast mit Käse, ich stelle Casey ein großes Glas Milch hin. Casey verputzt sein erstes Sandwich im Handumdrehen und blickt Wyatt erwartungsvoll an.
»Du frisst mir die Haare vom Kopf«, sagt Wyatt seufzend und macht ihm ein zweites.
Dann erzählt uns Casey ziemlich detailliert von Mary Lous überstandener Euterentzündung. Es ist erstaunlich interessant. Wirklich verblüffend, wie meine Sichtweise sich in den drei Monaten, die ich nun schon hier bin, verändert hat. Heute Morgen habe ich durchs Fenster hoffnungsvoll nach Regen Ausschau gehalten, den die Farmer dringend brauchen, damit die Maiskolben rund und voll werden. Erhöhte Aufmerksamkeit erfordert auch der Wetterbericht wegen etwaiger Tornadowarnungen; zum Glück mussten wir bisher noch nie Zuflucht im Keller suchen. Außerdem habe ich gelernt, nachts stets wachsam zu sein. Zwar wird in Barnsley nie jemand überfallen, dennoch lauert hinter jeder Ecke Gefahr: Tollwütige Fledermäuse sind hier eine ziemliche Plage, und in diesem Jahr hat die Zahl der Stinktiere ein Rekordhoch erreicht.
Wer hätte gedacht, dass ich mich in Barnsley so schnell zugehörig fühlen würde? Ich lehne mich wieder zurück und warte darauf, dass Wyatt mich zu einem Käseklapptoast überredet. Fast könnte ich mich entspannt der Vorstellung hingeben, wie es wäre, wenn ich ständig hier lebte. Ich betrachte Wyatt, den vertrauten Umriss seines breiten Rückens, sein länger nicht geschnittenes Haar, das ihm so gut steht, seine Hände, die von der Arbeit im Freien dunkelbraungebrannt sind. Ich schaue mich in der Küche um, wobei mir klar wird, dass ich mittlerweile an den meisten Tagen hier morgens, mittags und abends esse. Dann sehe ich zu Casey hin und denke, dass Wyatt nicht der Einzige ist, den ich schweren Herzens zurücklassen werde.
Und dann befehle ich mir, Vernunft anzunehmen. Ich darf so nicht denken. Ich werde mir auch nicht einen Augenblick lang erlauben, mich Träumereien hinzugeben. Das habe ich schon einmal gemacht, und als unsere Hoffnungen zerschlagen waren, als alles, von dem wir dachten, es würde gut ausgehen, sich als schrecklich verkehrt herausstellte, da wurde mir klar, wie gefährlich Träume sein können. »Es ist nur eine Routineuntersuchung«, sagte Mum am Abend vor ihrem Termin im Krankenhaus, zwei Jahre nach der Operation und der Chemotherapie und den Bestrahlungen. Mum und die Ärzte hatten alles im Griff, so dachten wir jedenfalls. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich ihr morgens viel Glück gewünscht habe. Ich war selbstzufrieden geworden, und falls Mum nervös war, ließ sie es sich nicht anmerken. Als ich von der Schule nach Hause kam, saßen Mum und Dad im Wohnzimmer. Sie hatten vergessen, Licht zu machen.
»Es ist zurückgekommen, Alice«, sagte Dad leise.
Ich war geschockt, lachte aber nur ein bisschen nervös, wenn ich mich recht erinnere. »Das können sie doch wieder verschwinden lassen.« Es war keine Frage. Es war das, was ich glauben wollte.
Dann sprach Mum. »Es sitzt in den Knochen, Liebes.«
In dem Moment schwor ich mir, das Träumen aufzugeben. Manchmal glaube ich, es war der Moment, in dem ich die Hoffnung aufgab. Doch jetzt sehe ich zu Casey hin, sehe das Vertrauen in seinem Blick, die feste Überzeugung, dass ich irgendwie Mary Lou retten werde und alles gut ausgeht. Nein, ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben. Nicht für Casey jedenfalls. Ich beschließe, dass ich Opa morgen einen Besuch abstatten werde.
Zuckerguss und Liebeslieder Roman
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