26. KAPITEL
Später, als alle weg sind, nehmen Wyatt und ich die Dekoration ab. Heidi wollte eigentlich nicht gehen, aber Wyatt sagte zu ihr, jemand müsste Casey nach Hause bringen. Es sind Kleinigkeiten wie diese, die mich in meiner Überzeugung bestärken, dass sie genau die Richtige für Wyatt ist. Er würde mir Casey nie auch nur für die kleinste Spritztour anvertrauen.
Wyatt befreit die Spruchbänder von den Reißzwecken und reicht sie mir herunter.
»Das war ein richtig gutes Fest, Alice.«
»Danke«, sage ich, voll darauf konzentriert, die Spruchbänder für das nächste Geburtstagsfest eines Zwölfjährigen, bei dem ich die Gastgeberin spielen darf, zusammenzurollen.
»Ja, ich glaube, Casey hat es großen Spaß gemacht. Sie haben eine Menge für ihn getan, Alice.«
Ich gebe keine Antwort, weil ich mich dafür wappne, die Ballons platzen zu lassen.
Dann wende ich mich meinem Kuchen zu, von dem der größte Teil noch auf dem Küchentisch steht. Heidis Torte ist komplett aufgegessen. Casey, Connor und Jackson haben die Marzipankuh in ihre Einzelteile zerlegt.
Ich greife nach meinem Victoria-Biskuitkuchen. Bilde ich es mir nur ein, oder ist er ein bisschen eingesunken? Nein, keine Einbildung. Ich marschiere Richtung Mülleimer.
»Sie wollen ihn wegschmeißen?«, fragt Wyatt.
»Ja. Das ist wohl die barmherzigste Lösung. Seinem Elend ein Ende machen.«
Er grinst mich schon wieder so an.
»Ich glaube, ich habe das Backpulver vergessen«, sage ich kläglich.
»Er hat super geschmeckt«, sagt Wyatt beinahe überzeugend.
Ich gebe ihm mit einem Blick zu verstehen, dass ich auf solche Sprüche nicht hereinfalle, und kratze die Reste von der Platte in den Müll. Dann räume ich die Geschirrspülmaschine ein. Wyatt hilft mit und schnappt sich ein paar Teller.
»Nein! Die muss man erst abspülen«, sage ich und entwinde sie seinem Griff.
»’tschuldigung. Ich vergesse immer, dass man sie erst spülen muss, bevor sie in die Geschirrspülmaschine kommen.«
Ich beachte ihn nicht weiter.
»Und«, sagt er, an die Arbeitsfläche gelehnt. »Was halten Sie von meinen choreographischen Talenten?«
Wider Willen muss ich lächeln. »Ich war sehr froh darum. Aber ich würde sagen, sie sind ebenso wie Ihre Talente als Songschreiber - ein bisschen eingerostet.«
»Autsch.«
Das ist ein weiteres fortlaufendes Thema bei unseren Witzeleien. Doch unser lockerer Schlagabtausch hat einen ernsten Unterton. Beim Abspülen der Kaffeebecher geht mir durch den Kopf, dass ich nach wie vor nicht das erreicht habe, wozu ich hergekommen bin - Wyatt wieder zum Schreiben zu bewegen. Ja, gut, mit meiner Talentsuche vor Ort habe ich einige Fortschritte zu verzeichnen. Erst vor Kurzem konnte ich Brent in einer ausführlichen E-Mail mitteilen, dass die Mitglieder der Straßeninspektion von Scott County sich mit einem neuen Schlagzeuger und einem aktuelleren Repertoire zu neuen Höhen aufschwängen. Sie nehmen nun die Neunziger in Angriff, darunter eine ambitiöse Coverversion von »Wonderwall«. Außerdem berichtete ich, dass Madison enorme Fortschritte mache. Brent schrieb zurück, ich müsse mich nicht jede Woche melden, ein Update alle sechs Wochen genüge vollauf. Doch trotz dieser Erfolge nagt weiterhin die Unzufriedenheit an mir.
Wyatt pflückt sich Traube um Traube aus der Schale auf der Arbeitsfläche. »Meinem Eindruck nach haben Sie hier in Barnsley genug zu tun. Um mich brauchen Sie sich keinen Kopf zu machen.«
»Ihretwegen bin ich aber hier«, erinnere ich ihn.
Er zuckt mit den Achseln. »Sie sind meinetwegen gekommen. Ich würde sagen, Sie haben seither durchaus eigene Zeichen gesetzt.«
O ja, ganz bestimmt. Mein Halbmondkuchen hat vermutlich eine eigene Seite auf der Website der Historischen Vereinigung von Barnsley verdient - Pest erreicht Barnsley!
»Sind Sie fertig mit Aufräumen?«, fragt Wyatt hoffnungsvoll.
»Nein. Ich muss noch den Fußboden wischen«, sage ich und hole den WetJet Power Mop von Swiffer aus dem Putzschrank. (Er ist nagelneu, ein Geschenk von mir für Wyatt. »Ich bin sprachlos«, sagte er, als ich es ihm überreichte.)
Wyatt schüttelt den Kopf. »Nein, müssen Sie nicht.«
»Doch, muss ich.«
Wyatt nimmt mir energisch den Mopp aus der Hand, hält ihn hinter seinem Rücken und mich in Schach, als ich vergebens danach grapsche.
»Wir werden jetzt an einer amerikanischen Tradition teilhaben«, erklärt er kategorisch.
»Was denn, den Küchenboden ungeputzt zu lassen?«, frage ich mürrisch.
»Nein, auf der Veranda Eistee zu trinken und der Sonne beim Untergehen zuzusehen.«
»Na gut«, sage ich widerwillig. »Aber erst muss ich mich mit meinem Mückenmittel einsprühen.« Mücken sind für mich eine echte Landplage.
Wir gehen durchs Wohnzimmer hinaus auf die Veranda, die Ausblick auf einen kleinen Gemüsegarten und ein tiefer liegendes Feld bietet. Hier etwas anzubauen, ist ein Kinderspiel, weil jeden Tag die Sonne scheint, und dann regnet es ein bisschen, bis die Sonne wieder herauskommt. Wyatt hat Erbsen, Bohnen, Mais und Möhren eingesät, und ich habe beim Kräutergarten mitgeholfen. Wir haben einen ganzen Vormittag gebraucht, weil ich darauf bestand, den Abstand zwischen den Pflänzchen mit einem Maßband zu bestimmen. Trotzdem sagte er am Ende zu mir, die Art und Weise, wie ich das Cottage umgestaltet hätte, hätte ihn seinerseits motiviert, etwas an der Farm zu tun. Das war natürlich wieder pure Höflichkeit.
Es ist schön hier draußen: die untergehende Sonne und der Blick auf den Wald weiter hinten, eine Idylle, die nur von dem durchdringenden Geruch nach Insektenvertilgungsmittel getrübt wird, den ich verströme.
Wyatt setzt sich und deutet zum Zaun. »Den muss ich bald mal richtig reparieren.«
Mary Lou bricht an einer Stelle immer wieder durch und macht sich dann über den Kräutergarten her. Basilikum mag sie besonders gern. Mary Lou ist ein Vielfraß und eine Naschkatze, wofür ich Casey die Schuld gebe, auch wenn er hartnäckig abstreitet, sie mit Keksen zu füttern.
»Und«, sagt Wyatt, lehnt sich zurück und streckt die Beine aus, »wie steht’s mit Stephen?«
Also ehrlich, ich weiß beim besten Willen nicht, warum Wyatt sich überhaupt nach meinem zutiefst öden Leben in London erkundigt. Was könnte ihn daran schon interessieren? Stephen und ich befinden uns gefühlsmäßig weiterhin auf Achterbahnkurs, wir telefonieren einmal pro Woche und schicken einander wöchentlich zwei E-Mails. Wie Stephen immer sagt, wir wollen uns doch nicht angewöhnen, aufs Geratewohl zum Hörer zu greifen, sonst geht uns noch das Gefühl für Zeit und Kosten verloren. Eine Versöhnung mit Stephen halte ich noch für möglich, nachdem nun Andy und Jennifer eine Wohnung in Coulsdon bezogen haben (obwohl noch eine Einigung über die Aufteilung der Telefonrechnung aussteht).
»Die Eigentümerversammlung heute Abend war offenbar recht hitzig«, erzähle ich Wyatt. »Stephen hat mir danach eine E-Mail geschickt. Er hat den Verwalter finanzieller Unredlichkeiten beschuldigt, die an Betrug grenzen.«
»Wow.«
»Hmmm. Das ist noch nicht alles. Dann hat er eine Abstimmung vorgeschlagen, um dem Verwalter das Vertrauen zu entziehen.«
»Eine Abstimmung?«
»Ja, alle vier Anwesenden hätten dafür gestimmt. Aber dann hat der Verwalter eingelenkt und mit knapper Not eine Staatskrise abgewendet.«
»Ganz schönes Drama.«
»Stephen hat gesagt, er schreibt morgen noch mehr dazu, aber er musste sich erst mal eine Ovomaltine machen, um seine Nerven zu beruhigen.«
»Und«, fragt Wyatt mit Blick auf das Feld, »hat Stephen vor, mal herzukommen?«
Ich verkneife mir ein spöttisches Lachen. »Nein. Die Entscheidung über unsere Zukunft wird wohl aufgeschoben, bis ich wieder da bin. Stephen hat Angst vorm Fliegen.«
»Ich dachte, er hätte Angst vor großen Höhen?«
»Hat er auch.« Ich zähle es an den Fingern ab. »Große Höhen, Fliegen, Meeresfrüchte, Hunde, Tunnel, übermäßige Geschwindigkeit und Pferde. Na ja, Pferde mögen wir beide nicht.«
»Dann sollten Sie mal mit mir reiten gehen«, sagt Wyatt und guckt zu mir hin. »Das würde Ihnen darüber hinweghelfen.«
Ich verdrehe die Augen. »Sie meinen, wenn ich zu Boden geschleudert werde, bin ich kuriert?«
»Sie fallen schon nicht runter. Das garantiere ich Ihnen.«
»Oh, schauen Sie mal«, sage ich und zeige zu Mary Lou und Billy, der Ziege, die am Zaun stehen. »Sie wollen uns Gesellschaft leisten.«
»Lenken Sie nicht ab«, sagt Wyatt. »Ich gebe nicht auf.«
»Sie haben leicht reden«, wehre ich ab. »Sie wissen ja gar nicht, wie es ist, solche Angst zu haben.«
»Nö.« Er schüttelt den Kopf, als wolle er mir recht geben. »Ich meine, auf eine Bühne rauszugehen, vor Tausenden von Leuten - das ist ein Klacks.«
»Das ist etwas anderes. Von einer Bühne fällt man nicht herunter.«
»Ich schon. Zwei Mal.«
»Tatsächlich?«
»Beim zweiten Mal habe ich mir das Bein gebrochen. Sechs Wochen Gips. Fand meine Ex nicht so toll. Eigentlich wollten wir nach der Tournee nach Barbados.«
Ich habe keine Ahnung, wer diese Ex ist. Wyatt lässt gelegentlich eine Bemerkung über sie fallen, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei dieser »Ex« in Wahrheit um ein ganzes Sortiment von Personen weiblichen Geschlechts handelt. Es sei denn, es gäbe auf der Welt eine, die sowohl früher Cheerleaderin für die New York Giants war und eine klassische Pianistenausbildung an der Juillard School absolviert hat und auf einer Ranch in Texas, in einer kalifornischen Hippiekommune und am Stadtrand von Swansea aufgewachsen ist. Ich glaube, die aus Swansea war die Stewardess von British Airways. Es ist nicht leicht, den Überblick zu behalten.
Nach einer Weile sagt Wyatt: »Ich glaube, am meisten habe ich mich davor gefürchtet, jemanden zu enttäuschen. Es war ja nicht bloß ich da oben. Es waren die Band, die Truppe und die Leute von Carmichael Music. Mein Produzent und Manager. Und der Witz ist, die habe ich alle hängen lassen, als ich aufgehört habe.«
»Wie ging es dann weiter?«
»Sie haben andere Auftritte bekommen. Und ich hab’s später wiedergutgemacht.«
»Wiedergutgemacht?«
»Ja. Mich bei ihnen gemeldet. Ihnen Entschädigungen gezahlt, wenn sie es nötig hatten.«
Ich werde neugierig. »Wie haben sie reagiert?«
Wyatt zuckt mit den Achseln. »Sie haben es alle ganz locker genommen. Mir gesagt, ich soll trocken bleiben und …«
»Und was?«
Er seufzt. »Wieder auftreten.«
»Ha!«, triumphiere ich. »Sehen Sie.«
»Ja«, sagt Wyatt. Und lässt mich ein diabolisches Grinsen sehen. »Wie wär’s damit? Ich setz mich hin und schreibe einen Song, wenn Sie sich auf ein Pferd setzen und mit mir ausreiten.«
Ich klappe den Mund auf und wieder zu. »Das ist nicht fair.«
»Doch, ist es.«
»Nein, ist es nicht.«
»Das ist mein Angebot. Ja oder Nein?«
»Dass Sie einen Song schreiben und ich auf ein Pferd steige, hat nichts miteinander zu tun«, wende ich ein.
»Stimmt. Heißt das Nein? Schade. Ich war schon ganz beschwingt. Sie wissen schon«, er wedelt herum, »die Natur, die Felder … Scheunen.«
»Ach, Klappe.« Vor meinem inneren Auge blitzen verschiedene Bilder auf. Im ersten fliege ich durch die Luft, in vollem Galopp von einem bockigen Hengst abgeworfen. Im zweiten sitze ich Phoebe in ihrem Büro gegenüber. »Alice, niemand sonst hätte das zuwege gebracht. Bitte werden Sie meine stellvertretende Geschäftsführerin.«
»Ich denke darüber nach«, sage ich zu Wyatt. Damit gewinne ich Zeit, um mir zu überlegen, was Dr. Vaizey wohl tun würde.
»Hey«, sagt Wyatt. »Ich könnte doch was über meinen neuen Mopp von Swiffer schreiben.«
»Ach, Schluss jetzt.« Ich muss einfach lachen und boxe ihn zum Scherz in den Arm. Er kriegt mein Handgelenk zu fassen - sehr gute Reaktion - und lässt wieder los. Stephen hätte sich den Arm gerieben und ordentlich geschmollt.
(Komisch, als er loslässt, bin ich fast ein bisschen enttäuscht.)
Jetzt versinkt die Sonne hinterm Horizont und taucht die Felder für heute ein letztes Mal in goldenen Glanz. Wirklich der schönste Moment des Tages hier.
»Und was ist bei Carmichael Music so los?«, fragt Wyatt.
Wenn ich das wüsste. Der Einzige, mit dem ich dort noch in Kontakt bin, ist Bob, und der lässt nichts mehr von sich hören, weil er angeblich vollauf mit einer verzwickten Nebenhandlung seines neuen Thrillers beschäftigt ist.
Ich räuspere mich. »Dort hat man volles Vertrauen in Sie, und Sie sind weiterhin ein äußerst wichtiger Pfeiler unseres Unternehmens.«
»Ach echt. Und ich dachte, sie hätten mich abgeschrieben.«
»Kein Gedanke«, sage ich nachdrücklich. Graham und ich haben Wyatt niemals abgeschrieben. »Vergessen Sie nicht, dass wir Sie unter Vertrag genommen haben, Wyatt. Und Loyalität hat für unser Unternehmen oberste Priorität.« Keine Ahnung, ob Letzteres stimmt, aber ich werde den Teufel tun und Wyatt den Wind aus den Segeln nehmen, wo er jetzt doch erwägt, wieder was zu schreiben.
Da wir nun schon beim Thema Carmichael Music sind, erzähle ich Wyatt von Bobs neuem Thriller, der in den Büroräumen eines internationalen Musikunternehmens spielt. Keine Ahnung wieso, aber Wyatt scheint ein brennendes Interesse an meiner Familie, meinen Freunden und Kollegen in England zu haben. In den letzten paar Wochen habe ich ihm von der Belegschaft bei Carmichael Music und den Mitgliedern der Selbsthilfegruppe erzählt, und eines Abends sogar ausführlich von Dr. Vaizey, bis ich zu ihm hinguckte und feststellte, dass er eingeschlafen war. Auch über Dad, Valerie und Teresa habe ich ihm das eine oder andere erzählt. Aber nichts über Mum.
»Interessantes Konzept«, sagt Wyatt nach meiner Kurzfassung von Bobs Thriller. »Softwaredesigner wird zum Privatdetektiv.«
»Nach Bobs Meinung sind High-Tech-Verbrechen die Zukunft der Prosaliteratur.«
»Hat er einen Agenten?«, fragt Wyatt.
»Nein«, räume ich ein, »aber er hat die Radio Times abonniert.«
Da wir gerade so nett miteinander plaudern, beschließe ich, die Gelegenheit zu nutzen. »Wie hat es denn bei Ihnen angefangen?«, frage ich. Dazu sagt Wyatt praktisch nie etwas.
»Angefangen?«
»Mit der Musik. Haben Ihre Eltern Sie dazu ermutigt?«
»Nö. Die kann man nicht als musikalisch bezeichnen. Ich hatte eine Lehrerin in der Schule … Miss Horner.«
»Miss Horner!« Das ist Neuland für mich. Wyatt hat noch nie ein Wort darüber verloren.
»Ja. Mr. Horners Schwester. Sie hat mich ganz schön rangenommen. Jeden Tag musste ich nach der Schule noch dableiben und Klavier üben. Und wenn ich mich verspielt habe, gab’s eins mit dem Lineal auf die Finger.«
Ich wusste doch, dass irgendwer die Rolle des Zuchtmeisters hat übernehmen müssen.
Wyatt zuckt mit den Achseln. »Es hat funktioniert.«
Manchmal muss ich mir ins Gedächtnis rufen, dass es in Barnsley eben ein bisschen rauer zugeht als in New Malden.
»Auf der Highschool habe ich dann mit Gitarre angefangen und mit den Jungs in einer Band gespielt.«
»Die von der Straßeninspektion von Scott County.«
Wyatt nickt. »Chris und ich haben Songs geschrieben.«
»Chris?«, frage ich überrascht nach.
»Er hat wirklich großes Talent als Songschreiber. Aber er singt immer nur Coverversionen. Das Problem ist, dass er nicht an sich glaubt.« Aus irgendeinem Grund blickt er mich an dieser Stelle lange und durchdringend an.
»Na jedenfalls«, redet er weiter, »als ich mit der Schule fertig war, wollten meine Eltern, dass ich mir einen Job auf einer Farm suche. Und da ist Miss Horner eingeschritten.«
»Sie hat mit Ihren Eltern gesprochen?«
Schweigen. »Nein«, sagt Wyatt trocken. »Das hätte zu nichts geführt. Nein, sie hat mir das Geld für die Busfahrkarte nach Nashville gegeben.«
Ich brauche ein bisschen, um das zu verarbeiten. »Sie muss furchtbar stolz auf Sie gewesen sein«, sage ich mit Wärme.
»Vielleicht.« Wyatt blickt auf den dunkler werdenden Himmel. »Sie ist vor ein paar Jahren gestorben - in meiner übelsten Zeit. Ich hab es nicht mal fertiggebracht, ihr das Geld für die Busfahrkarte zurückzuschicken.« Er sieht mich grimmig an. »Was halten Sie davon, Alice? Das ist es, was der Ruhm mit den Leuten anstellt - er verdreht ihnen den Kopf und lässt sie glauben, sie wären der Mittelpunkt der Welt. Ich schätze, sie war ziemlich enttäuscht von mir.«
Ich möchte widersprechen, aber etwas in Wyatts Tonfall lässt mich schweigen.
»Das ist das Problem, Alice«, fährt er fort. »Manche Dinge kann man nicht wiedergutmachen.«
Es ist dunkel geworden. Wyatt steht auf und lehnt sich an das hölzerne Geländer der Veranda. Wie selbstverständlich stelle ich mich neben ihn. Wir schauen zu den Sternen hoch.
»Manchmal, wenn es richtig stockfinster ist, so gegen drei Uhr morgens, kann man von hier aus Sternschnuppen sehen«, sagt Wyatt.
Es ist ganz still rings um uns.
Vor langer Zeit bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass Mum mich sehen kann, wo immer sie auch sein mag. Ich denke, wenn sie jetzt so zu mir herabschaut, wie ich da auf Wyatts Veranda stehe und auf das dunkle Land und die Lichter des Ortes sehe, weit weg von meiner Heimat, dass Mum sich für mich freuen würde. Auch wenn das alles nicht ganz real ist und nicht von Dauer sein wird, auch wenn nun der Zeitpunkt näher rückt, an dem ich nach England zurückkehre, auch wenn ich immer noch nicht alles erreicht habe, was ich vorhatte. Trotz alledem glaube ich, dass sie zu mir herunterschaut und lächelt.
Wyatt rückt näher an mich heran und legt den Arm um mich. Ein paar Sekunden lehne ich mich an ihn, an seinen harten, warmen Körper. Wenn ich ihn jetzt ansehe, werde ich wissen, ob es nur eine kameradschaftliche Geste ist wie zwischen zwei guten Freunden, die beieinanderstehen, oder ob mehr dahintersteckt. Und dann überkommt mich Furcht. Denn in diesem Moment gestehe ich mir ein, was ich schon seit einiger Zeit zu ignorieren versuche - dass ich mehr als nur eine Freundschaft will. Lieber die Ungewissheit ertragen als den Schmerz der Enttäuschung. Lieber ein bisschen als alles oder nichts. Lieber auf Nummer sicher gehen als riskieren, verletzt zu werden. Oder?
Ich löse mich, ohne zu Wyatt hinzusehen, und wende mich wieder dem Tisch zu.
»Ich nehme die Gläser mit hinein«, sage ich.
Dann gehe ich zurück ins Haus mit seiner hell erleuchteten Küche.
Zuckerguss und Liebeslieder Roman
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