4. KAPITEL
Der restliche Tag rauscht an mir vorbei. Phoebe
bringt ihn damit zu, »ihre neue Belegschaft« kennenzulernen. Brent
hingegen postiert sich neben meinem Bürocomputer und macht sich
Notizen zu unserer Machtübergabe. Er hat nicht den geringsten Sinn
für Ironie. Eben habe ich ihm gezeigt, wie man die Tabelle mit den
wöchentlichen Verkaufszahlen ausdruckt.
»Aber ja nicht auf die Tabulatortaste drücken,
während
der Drucker läuft«, sage ich mit gespieltem Ernst. »Sonst
explodiert der Computer.«
Brent macht große Augen. »Ach du meine Güte! Ist
das eine Sicherheitsfunktion zum Schutz gegen
Unternehmensspionage?«
Um die Mittagszeit gelingt es mir, Brent
abzuschütteln, mich in einer Kabine im Damenklo einzuschließen und
von dort aus Graham auf seiner Festnetznummer anzurufen.
Er geht nach dem ersten Klingeln dran. »Ich warte
schon die ganze Zeit auf dich.«
»Ich kann nicht lange reden«, flüstere ich, und
obwohl Graham zu Hause ist, flüstert er ebenfalls.
»Ist alles in Ordnung?«
»Bestens. Phoebe hat heute Morgen den ganzen Laden
hier zu sich einbestellt und uns mitgeteilt, in den nächsten drei
Monaten stünden keine personellen Veränderungen an. Sie will eine
Betriebsprüfung durchführen. Aber was ist mit dir?«
»Sie hat mir angeboten, mich an ihrer Seite
arbeiten zu lassen, Liebes. Da schien mir der vorgezogene Ruhestand
die beste Option zu sein.« Aus dem Hintergrund ertönt Gebrüll.
»Außerdem habe ich auf diese Weise mehr Zeit für die Enkel«, fügt
Graham ohne viel Begeisterung hinzu. »Bleibst du am Platz?«
»Wie es aussieht, gehe ich nach New York.«
»New York?«
»Hmm. Sie will uns stärker mit der US-Zentrale
vernetzen.«
»Mich laust der Affe.« Im Hintergrund höre ich
einen dumpfen Schlag und klägliches Gejammer. »Ich muss aufhören,
Liebes. Halt mich auf dem Laufenden.«
Ich bin voll und ganz darauf gefasst, die Nacht
durchzuarbeiten,
doch um sechs steht Phoebe bei mir auf der Schwelle und beordert
Brent, sich mit ihr eine Penthousewohnung in Chelsea Harbour
anzusehen. Aus irgendeinem Grund habe ich es nicht eilig, nach
Hause zu kommen. Stephen arbeitet heute sowieso länger, weil sie
einen neuen Fall hereinbekommen haben (er hat mir nicht viel
darüber erzählt, weil es streng geheim ist. Ich weiß nur, dass es
seiner Meinung nach gravierende Auswirkungen auf die
Traktorreifenbranche haben könnte). Daher schwinge ich mich in
einen Bus und fahre zu Carolyn.
Sie wohnt in einer von Bäumen gesäumten Straße in
Fulham, in einem winzigen Reihenhaus aus Backstein, das ein
Heidengeld gekostet hat. Dass das Viertel hier teurer ist als
Southfields, sieht man daran, dass links und rechts von den meisten
Haustüren schmuck in Form gestutzte Bäumchen stehen und die
Besitzer im Sommer die Blumenkästen mit diesen Minikohlköpfen
füllen. In jedem dritten Haus sind Handwerker zugange.
Carolyn macht mir auf; sie hat sich ein
Musselintuch mit einem kleinen Bündel darin um die Schulter
geschlungen - Maisie, ihre vier Monate alte Tochter. Beide sind von
Kopf bis Fuß in lässig-schicke Modelle von Boden eingekleidet:
Carolyn in Moleskin-Jeans und eine Jerseybluse, Maisie in
niedlichen Schlabberlook aus Kordsamt. Ich zwänge mich in ihrem
Gefolge an dem roten Kinderwagen von Bugaboo vorbei, der einen
Großteil des engen Flurs für sich beansprucht.
In der Küche, die sie letztes Jahr mit
cremefarbenen Einbauteilen von Smallbone komplett neu gestaltet
haben - ein Glück, dass ich nicht zur Gattung Neidhammel gehöre -,
erzähle ich Carolyn von meinen aufregenden Aussichten auf
New York, was sie mit einem kleinen Freudenschrei quittiert.
»Wahnsinn! Das ist ja fantastisch.«
Es rührt mich, dass Carolyn sich offenbar ehrlich
für mich freut, ungeachtet der Tatsache, dass sie ihren gut
dotierten Job als Finanzanalystin bei einer großen Londoner Bank
aufgegeben hat. Bereits eine Woche nach ihrer Rückkehr an den
Arbeitsplatz hatten sie selbst und ihre Milchpumpe den Dienst
nämlich wieder aufgekündigt. Ein Glück für Carolyn, dass ihr Mann
weiterhin als gut dotierter Finanzanalyst für eine große Londoner
Bank tätig ist.
»Nächste Woche soll es also schon losgehen«, ruft
sie schrill, schenkt mir ein Glas Wein ein und macht sich selbst
einen 100% naturbelassenen Kräutertee von Red Zinger. »Was ist mit
deinem Visum?«
»Phoebe hat Beziehungen«, erläutere ich. »Offenbar
kriege ich eine Green Card der absoluten Extraklasse.«
Carolyn sieht mich voll Hoffnung an. »Das heißt,
du fliegst nach New York?« Alte Freunde haben ihr Gutes,
zweifelsohne. Aber sie kennen auch deine Schwachstellen.
»Nein. Da müssen wir uns noch was anderes
ausdenken.«
Minuten später halte ich einigermaßen ungeschickt
Maisie im Arm, die hinreißend speckig ist und nach Johnson’s
Babyshampoo riecht, und Carolyn stürzt sich ins Internet.
Wochenlang hatte ich Mordsschiss, das Baby auf den Arm zu nehmen,
und auch jetzt verrät mein im 90-Grad-Winkel abgeknickter Ellbogen
meine Nicht-Mutterschaft. Maisie streckt ihre knubbeligen Beinchen
von sich, und ich hauche ihr Luftküsse zu. Das Wohnzimmer, das
früher den typisch minimalistischen Look eines Londoner Pärchens
hatte - weiße Sofas und Beistelltische aus indonesischem Hartholz
-, ziert jetzt eine gelbblaue Plastikschaukel
und eine limonengrüne Babywippe, und da, wo einmal der Couchtisch
stand, liegt nun eine mit Tiermotiven bedruckte Krabbeldecke.
Carolyn guckt vom Computer hoch. »Die schlechte
Nachricht lautet, dass diesen Monat wegen der stürmischen
Wetterbedingungen im März keine Passagierdampfer zwischen Europa
und den USA verkehren. Die gute Nachricht ist, dass du
möglicherweise auf einem Handelsschiff rüberkommst.« Sie wendet
sich wieder dem Computer zu und liest vor, was myfreebeez.com, die Website für den
preisbewussten Reisenden, dazu zu sagen hat.
Unerschrockene können das Großsegel hissen und
sich ihre Schiffspassage als zeitweilige Matrosen - oder
Matrosinnen - der Handelsmarine verdienen. Mitarbeitende Passagiere
reisen mit Duldung des Kapitäns, wohnen zusammen mit der Crew und
sind bei Aufgaben an oder unter Deck behilflich. Die Unterbringung
erfolgt gewöhnlich in Einzelkabinen. Begeben Sie sich einige Tage
vor Abfahrt zum Hafen und setzen Sie sich direkt mit dem Kapitän in
Verbindung.
Carolyn räuspert sich. »Ich habe ein in Liberia
registriertes Frachtschiff gefunden, das am 2. April von den
Niederlanden ausläuft und zehn Tage später in Nova Scotia
ist.«
»Hervorragend! Von da kann ich einen Zug
nehmen.«
(Auf das Thema Autofahren komme ich noch zu einem
späteren Zeitpunkt zurück und fasse hier lediglich meine aktuellen
Möglichkeiten zusammen: Fahrten von weniger als fünfundzwanzig
Meilen auf bereits bereisten Strecken.)
Carolyn steht auf und nimmt mir liebevoll Maisie
ab, die angefangen hat zu greinen, vermutlich weil sie spürt, dass
sie sich in den schmerzenden Armen einer Amateurin befindet.
»Alice«, gurrt Carolyn, »wie wär’s denn doch mit Fliegen?«
Ich schüttle den Kopf. Ich bin einmal mit einem
kleinen Propellerflugzeug nach Jersey geflogen. Aber da war ich
zehn und hatte noch vor nichts und niemandem Angst.
»Alice«, sagt Carolyn beharrlich. »Es hat seinen
Grund, dass im März keine Passagierdampfer auf dem Atlantik
verkehren.«
Ich nicke. »Ich weiß.« Vor meinem inneren Auge
sehe ich bereits fünfzehn Meter hohe Wellen und Horden betrunkener
liberianischer Matrosen.
Aber eigentlich ist die Sache die, dass mich schon
jetzt Zweifel an dem Unternehmen beschleichen. Den ganzen Tag lang
schießen mir sorgenvolle Gedanken durch den Kopf. Dad wird es
grauenvoll finden, dass ich so weit weg bin. Stephen lernt in der
Zeit, wo ich nicht da bin, womöglich eine andere kennen - was ich
allerdings ehrlich gesagt für unwahrscheinlich halte. Brent hat
sich nur sehr vage zu meinem Betätigungsfeld, meiner Entlohnung und
der Frage, wo ich denn wohnen soll, geäußert. »Fürs Erste im Hotel
natürlich«, hatte er mich grob abgefertigt, als ich nachmittags
versuchte, mehr Einzelheiten aus ihm herauszukitzeln.
Ich sehe Carolyn zu, die Maisie so entspannt wie
gekonnt im Arm hält. »Ich glaube, sie hat Blähungen«, sagt sie voll
Überzeugung. Wohl aus Sorge, ich könnte eines Tages ebenfalls
Mutter werden, streut Carolyn gelegentlich kleine Bemerkungen zum
Umgang mit Babys in unsere Unterhaltungen ein. »Die Kleine schreit!
Wann ist sie zuletzt gefüttert worden?«
Sie steht auf, durchmisst den Raum und säuselt:
»Armes kleines Windbeutelchen.« Dann sieht sie mich an und runzelt
die Stirn. »Die nächste entscheidende Frage ist, ob man bei ihr
schon mit fester Nahrung anfangen sollte.«
Ich hoffe, dass ich einen interessierten Eindruck
mache, aber es ist kein gutes Zeichen, wenn Carolyn anfängt, über
Ernährung zu reden. Ein Thema, über das sie sich, ich muss es
leider sagen, bis zum Schwachsinn ereifern kann. Nehmen Sie einen
kleinen Rat von mir an: Kommen Sie einer frischgebackenen Mutter
aus Fulham niemals mit der gut gemeinten Idee, dass Muttermilch und
Milchpulver letztlich doch ein und dasselbe sind.
Carolyn erzählt mir irgendwas von Bioreis für
Babys und wie man Karottenbrei in Eiswürfelbehältern einfrieren
kann. Ich versuche nach Kräften, bei der Sache zu bleiben, aber
meine Gedanken schweifen ab zu meinem künftigen Leben in New York.
Ein paar Stunden nur, und meine Tagträumereien von der Ostküste
haben eine sehr viel düsterere Färbung angenommen. Der Schauplatz
ist nunmehr irgendwo in der Bronx. Ich liege wach, höre Paare
streiten, Fernseher brabbeln und vereinzelte Schüsse knallen. In
der Arbeit ruft mich niemand je zurück, niemand außer dem
sturzbetrunkenen Wyatt. »Zum Kuckuck noch mal, Sie Weibsperson Sie,
ich sing keine müde Zeile mehr.« Tony, der Italiener aus dem
Delikatessenladen, ist mein einziger Freund. Eines Tages kommt er
um den Tresen herum nach vorne zu mir und nimmt mich bei der Hand.
»Bambina. Ich sehe die Trauer in deinen Augen. Geh nach Hause zu
deinen Leuten …« Teresa holt mich von Heathrow ab, wo mein Flieger
gerade eine Notlandung hingelegt hat, weil sich das Fahrwerk
verklemmt hat. »Und, warst du erfolgreich, Alice?«
Carolyns Stimme unterbricht meine Gedankengänge.
»Was meinst du?«
»’tschuldigung?«
»Babyreis oder Möhre?«
»Wie wär’s mit einem schönen gekochten Ei?«
Carolyn sieht aus, als wollte sie was sagen,
klappt aber den Mund wieder zu. Dafür macht Maisie ein Bäuerchen,
wozu wir ihr ausgiebig gratulieren. Dann wendet sich Carolyn mir zu
und sagt so langsam wie nachdrücklich: »Versprich mir, dass du dir
das nicht von Stephen ausreden lässt.«
Das überrascht mich. »Natürlich nicht.«
Der Gedanke, dass Stephen versuchen könnte, mir
die Reise auszureden, ist mir gar nicht gekommen. Wenn überhaupt,
dann fällt das in Dads Zuständigkeitsbereich. Seit er seinen Posten
als Verkaufsleiter von British Gas vor Ort, sprich im Umland von
London, gegen den vorgezogenen Ruhestand eingetauscht hat, gilt
seine Sorge nicht mehr undichten Gasleitungen, sondern in
verstärktem Maße seiner Familie. Er meint es gut, aber seit er
weiß, wie man E-Mail-Anhänge verschickt, komme ich bei all den mit
Ausrufungszeichen gespickten Warnmeldungen vor betrügerischen
Machenschaften kaum noch hinterher.
Für Valerie die Avon-Buchhaltung zu erledigen,
Teresas Zwillinge von der Schule abzuholen und freitags
ehrenamtlich in New Malden Bürger zu beraten, füllt ihn nicht mal
entfernt aus. Neben den ganzen Zeitungsausschnitten, die er mir
zukommen lässt, nimmt er auch Fernsehsendungen auf Video auf, die
seiner Meinung nach für mich von Interesse sein könnten. Und nervt
mich dann mit Nachfragen, ob ich sie mir schon angesehen habe.
Woraufhin ich Schuldgefühle bekomme und bis in die Puppen
aufbleibe, um mir in einer Marathon-Session alles reinzuziehen (bis
auf die neueste Folge von Kunst und
Krempel, die ich im Schnelldurchlauf erledige).
Carolyn zögert einen Moment. »Du hast so hart
gearbeitet, um dahin zu kommen, Alice. Es wäre eine Schande, jetzt
einen Rückzieher zu machen.«
»Ich weiß«, sage ich rasch. Sie will nur mein
Bestes, das ist mir schon klar, aber ich fühle mich genötigt,
Stephen zu verteidigen. »Er hat mich beruflich immer unterstützt.«
Ich denke an das Vorstellungsgespräch und Stephens Lernkärtchen
zurück. Damit nicht genug, hat er sich auch noch Firestorm angehört
und danach tagelang mit einem Tinnitus zu kämpfen gehabt.
»Hmmm. Er hat ja ganz offensichtlich gern bei
allem, was du so machst, die Finger im Spiel«, sagt sie, was man
als Kompliment auffassen könnte, aber nach ihrer Stimme zu
schließen nicht so gedacht ist. Ich weiß, worauf sie hinauswill:
Zugegeben, Stephens Sinn fürs Detail und sein Hang zur Routine sind
nicht zuletzt Ausflüchte. Er scheut sich vor der Konfrontation mit
unerquicklichen Gefühlen. Meiner allmonatlichen Anfrage zum Thema
»Wann machen wir uns an die Familienplanung« begegnet er
unweigerlich, indem er aufsteht und anfängt, den Herd zu
putzen.
»Er findet das unter Garantie irrsinnig
aufregend«, äußere ich munter, im Bestreben, sowohl sie wie mich in
Sicherheit zu wiegen.
Aber Carolyn lässt sich nicht so leicht an der
Nase herumführen. Ihr Blick signalisiert, dass jetzt Schluss mit
lustig ist. »Alice, du musst unter allen Umständen nach New York.
Nach Lage der Dinge hast du es mehr als verdient. Das ist die
Chance deines Lebens.«