22. KAPITEL
Um sieben Uhr abends versuche ich immer noch, das Bild von Brittanys Strichfrauchenzeichnung aus dem Kopf zu bekommen und mich auf die Wäsche zu konzentrieren. Ich bin schrecklich hintendran. Eigentlich sollte ich längst mit Packen fertig sein - schließlich sind es nur noch siebzehn Stunden, bis ich mich zum Flughafen aufmachen muss -, aber irgendwie kann ich mich nicht motivieren, damit anzufangen. Stattdessen setze ich die Waschmaschine in Gang und mache mich an einen kleinen Frühjahrsputz. Gerade behandle ich auf allen vieren den Schlafzimmerboden mit dem Allzweckpoliturspray, Duftnote Orange (leider habe ich kein Bohnerwachs), da kommt Gerry zur Tür herein.
»Hey, Prinzessin«, ruft er. »Wo bist du?«
Ich komme unter dem Bett hervor und flitze die Wendeltreppe hinunter.
Gerry steht unten, in der einen Hand Pizza, in der anderen eine Flasche Wein. »Ich kann auch gerne raufkommen«, sagt er mit einem lausbübischen Grinsen.
»Das wird nicht nötig sein«, sage ich streng.
Gerry tut, als würden ihm die Knie weich. »Ich wette, die Kerls in England drehen durch, wenn du so redest.«
Ich belasse es bei einem geheimnisvollen Lächeln, statt ihn darauf hinzuweisen, dass mein Akzent im Vereinigten Königreich nun wirklich nichts Ungewöhnliches ist.
Gerry geht in die Küche, vermutlich auf der Suche nach einem Korkenzieher. »Konnte doch so eine schöne Frau nicht ganz allein hier sitzen lassen«, ruft er. »Bin auf der Zufahrt gerade an Wyatt und dem Typ mit dem Spitzbart vorbeigekommen.«
»Bruce.«
Gerry kommt ins Wohnzimmer zurück und öffnet die Weinflasche. Ich schätze, Wyatt und Bruce sind auf dem Weg zu einem AA-Treffen, aber das binde ich Gerry nicht auf die Nase. Dank der Broschüre weiß ich, wie wichtig es ist, Anonymität zu wahren.
Zum Glück sagt Gerry nichts weiter zu dem Thema, sondern pfeffert seine braune Lederjacke quer über einen Stuhl, zieht mich aufs Sofa und küsst mich fünf Minuten lang, um mir danach ein Glas Wein zu reichen und mich mit Pizza zu füttern. Dann steht er auf und macht Feuer, wobei der gesamte Inhalt des Brennholzkorbs draufgeht. Sein Feuer ist viel größer als das von Wyatt. Dieses Feuer-in-Gang-Bringen muss für männliche Amerikaner so was wie ein symbolischer Macho-Ritus sein. Gerry pfeift zufrieden zwischen den Zähnen, als es ordentlich lodert. Er legt leichte Jazzmusik auf. Ich komme mir vor wie in einem romantischen Film. Draußen fallen sogar ein paar Schneeflöckchen.
Gerry legt mir die Hand aufs Knie. »Ich finde, du solltest noch dableiben, Alice. Nächste Woche fahre ich nach Vegas. Komm doch mit.«
»Ich kann wirklich nicht.«
Er hört nicht auf mich. »Es geht um ein Riesengeschäft. Wir könnten ins Bellagio gehen.«
Ich habe keine Ahnung, was das Bellagio ist, aber es ist bestimmt sehr hübsch.
Ich schüttle den Kopf. »Wyatt wäre es sicher nicht recht, wenn ich seine Gastfreundschaft überstrapaziere.«
»Du kannst ja bei mir wohnen!«, ruft er aus. Dann beugt er sich vor, nimmt ein Schlückchen Wein und hebt die Schultern. »Ich weiß, was du meinst, mit Wyatt. Er ist ein hilfsbereiter Nachbar … bis zu einem gewissen Punkt.« Er verstummt.
Meine Neugier erwacht. »Was meinst du damit - bis zu einem gewissen Punkt?«
Er schüttelt den Kopf. »Ach, nichts. Wyatt ist ein netter Kerl.« Gerry legt den Arm um mich und küsst mich auf den Hals. »Reden wir lieber über dich«, murmelt er.
So angenehm das auch ist, die Frage nach Wyatts Wohlverhalten als Nachbar lässt mir keine Ruhe. Sanft schiebe ich Gerry weg. »Erzähl.«
Er lehnt sich zurück. »Es ist nichts weiter, Schätzchen.« Er zeigt mit großer Geste durch den Raum. »Ich werde doch nicht herkommen und mir über Wyatt das Maul zerreißen. Man kann es ihm nicht verdenken, dass er mit all dem vielen Geld kriegt, was er will.«
»Was ist denn passiert?« Ich lasse nicht locker.
»Wenn’s ums Geschäft geht, steht er gern auf der Gewinnerseite«, sagt Gerry beiläufig. »Woran viele wohl gar nichts verkehrt finden. Ich bin vermutlich einfach von der altmodischen Sorte.«
»Was für ein Geschäft?« Ich rücke von Gerry weg bis zur Sofakante. »Nun erzähl schon.« Ich kann mir nicht vorstellen, dass Wyatt irgendwelche krummen Dinger dreht. »Er sieht doch so aus, als könne er keiner Fliege was zuleide tun.«
Gerry sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen scharf an.
»Diese Farm war über Generationen hinweg im Besitz von ein und derselben Familie. Das Farmhaus, die Scheune, das Land. Als der Farmer starb, ging das Anwesen an seine zwei Töchter über. Sie waren Missionarinnen und wollten es nicht haben, darum haben sie es zum Verkauf angeboten.« Gerry rückt wieder zu mir hin und zieht mich an sich. »Damals stand das Cottage hier natürlich noch nicht. Das hat Wyatt als Unterkunft für seine Freundinnen gebaut.« Er lässt einen Seufzer hören. »Wyatt ist der Ex-und-Hopp-Typ. Er hat gern seinen Freiraum.«
Mein Magen revoltiert. Was Gerry da sagt, klingt einleuchtend.
»Jedenfalls haben sie beschlossen, es zu versteigern. Es war eine richtige Auktion - draußen auf dem Hof, unter freiem Himmel. Wir reden hier von sämtlichen Gebäuden und achtzig Hektar erstklassigem Grund und Boden. Das ist Farmland hier, Alice. Eine Menge anständiger, hart arbeitender Bauern hat gehofft, den Zuschlag zu bekommen. Sie brauchten das Land, es ist ihre Existenzgrundlage. Auf der Zufahrt standen die Pick-ups Schlange, der Hof war schwarz von Menschen. Erst haben sie die großen Geräte verkauft. Aber alle warteten auf das Grundstück. Die Leute haben sich Geld zusammengebettelt und -geborgt, um mitbieten zu können.« Gerry legt eine Pause ein. »Tja, zehn Minuten bevor das Grundstück zum Verkauf steht, kommt aus heiterem Himmel Wyatt daher. Hatte sich seit Jahren nicht mehr in Barnsley blicken lassen. Die Leute dachten, sie sehen einen Geist. Und dann hat er sie alle überboten. Verstehst du, er hat den Preis so hochgetrieben, dass keiner mehr mithalten konnte. Wie denn auch? Das sind ganz gewöhnliche Farmer, und er ist ein großer Star. Also hat er das Grundstück gekriegt, ist eingezogen und hat verkündet, dass er nur die Hälfte von dem Land verpachtet.«
Gerry macht eine weitere Kunstpause.
»Warum nur die Hälfte?«
»Er will seine Ruhe, hat er gesagt.« Gerry deutet zum Fenster. »Sieh dir morgen mal das ganze Land da unten im Tal an. Wird nicht bebaut. Da lässt Wyatt keinen hin.«
Stimmt. Seit die Schneeschmelze eingesetzt hat, ist mir das lange Rispengras aufgefallen, das dort alles bedeckt.
Gerry streichelt meinen Nacken. »Wyatt ist kein schlechter Typ - er denkt nicht immer nur an sich selbst -, aber wenn es ums Geschäft geht, kennt er nichts.«
Das klingt nach einer scheußlich unangenehmen Wahrheit. Ich denke an den Tag zurück, an dem ich Wyatt kennengelernt habe: wie er mich aus dem Haus geworfen und sich aufgeführt hat, als ob er Besucher auf den Tod nicht leiden kann; oder wie er, als wir wenig später aus dem Blue Ribbon kamen, meinen Koffer einfach hinten auf die Ladefläche seines Pick-ups knallte. Aufgenommen hat er mich nur wegen Mr. Horner.
»Aber jetzt ist es genug mit Wyatt, Alice. Du machst es ganz richtig - belässt es strikt beim Geschäftlichen. Ich will nicht erleben, dass er dich benutzt.«
»Da besteht keinerlei Gefahr«, sage ich förmlich, bevor ich mich in Gerrys Arme sinken lasse. Puh, da habe ich wohl noch mal Glück gehabt. Mit der Zeit hätte ich durchaus Gefallen an Wyatt finden können, aber jetzt weiß ich ja Bescheid.
Die nächsten Stunden vergehen in seliger Weinstimmung mit dem, was britische Teenager früher als »Necking« bezeichnet haben.
»Du bist eine erstaunliche Frau, Alice«, wispert Gerry. »Noch nie bin ich jemandem wie dir begegnet.« Er öffnet den obersten Knopf meines salbeigrünen, langärmligen Polohemds von Lands’ End.
»Wirklich?«, frage ich hoffnungsvoll und lege meine Hand auf seine.
»Du hast wahre Klasse, diese typisch englische Zurückhaltung. Einfach unwiderstehlich.«
Ich lockere meinen Griff und erlaube ihm weiterzumachen. Gerry wirft sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich, sodass mir nichts übrig bleibt, als mich flach auf den Rücken zu legen.
»Wobei ich gar nicht versuche, dir zu widerstehen.«
Alles sehr verlockend. Mir ist mollig warm, ich bin ein bisschen beduselt und kein bisschen schuldbewusst wegen Stephen, was schon seltsam ist, schließlich waren wir mehr als drei Jahre lang zusammen.
Gerry küsst mich auf den Hals, und mir laufen buchstäblich Schauer über den Rücken. Mit der einen Hand streicht er mir durchs Haar, mit der anderen knetet er mein Hinterteil. Er hat offensichtlich keine Probleme damit, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. »Ich glaube, wir sind füreinander bestimmt, Alice«, haucht er. »Es war kein Zufall, dass du in das Restaurant gekommen bist. Wie hoch standen die Chancen, dass wir uns kennenlernen?«
»Gleich null«, vermute ich.
»Hmm.« Er gleitet mit der Hand von meinem Hintern weg unter mein Polohemd und hakt in null Komma nichts meinen BH auf. Das hat Stephen in mehr als drei Jahren nicht ein einziges Mal auch nur annähernd so gewandt hingekriegt. »Gehen wir nach oben«, raunt er.
Ich knöpfe sein Hemd auf. »Ich weiß nicht so recht.«
Gerrys Hand umschließt meine Brust. »Aber ich. Und die Antwort lautet klar und eindeutig Ja.«
Darauf kann ich nichts sagen, weil Gerry mich stürmisch küsst. Ich kapituliere. Schließlich bin ich eine schöne Engländerin und habe wahre Klasse - mir muss klar sein, dass ich eine derartige Wirkung auf amerikanische Männer ausübe.
Gerry steht auf und zieht mich sanft hoch. Ohne - wie gewisse andere Männer - erst einmal die Pizzareste in die Küche zu tragen und für sein Lunchpaket in Frischhaltefolie zu wickeln, führt er mich zur Treppe und geht stumm voran. Jeder Zoll ein Mann, fegt er meinen Flanellpyjama zu Boden. »Den wirst du nicht nötig haben.«
Er nimmt mich bei der Hand und zieht mich aufs Bett.
Ich greife nach der Nachttischlampe.
»Du brauchst das Licht nicht auszumachen«, sagt Gerry. »So perfekt, wie du bist.«
»Ich wollte es gar nicht ausmachen«, gebe ich zurück. »Ich habe nur gerade ein bisschen Staub auf dem Lampenschirm entdeckt. Den muss ich vorhin übersehen haben. Diese gefältelten Dinger sind ekelhaft schwer sauber zu kriegen«, erläutere ich, während ich mit einem Papiertaschentuch daran herumtupfe.
»Ach ja?«
»Hmm. Ob Dyson wohl irgendwann mal so eine Minibürste als Aufsatz für Staubsauger anbietet? Die eignet sich nämlich auch gut für Computertastaturen.«
Gerry blickt mich leicht verdutzt an. »Teufel noch mal, Alice, so einer Frau wie dir bin ich wirklich noch nie begegnet.«
Gerry hat sein Hemd ganz aufgeknöpft und auf den Boden geworfen. Er ist definitiv kein Brite: ansehnliche Brust-, Bauch- und Oberarmmuskulatur, sonnengebräunt, und seine Levi’s sitzen wie angegossen. In meinen niederen Regionen regt sich etwas. In einem Ausmaß wie seit Jahren nicht mehr.
In genießerischer Erwartung sehe ich zu, wie er sich bückt, um seine Schuhe aufzuschnüren. Und dann ist er weg. Buchstäblich. Gerade war er noch da, und jetzt ist er verschwunden. Ich höre ein überraschtes Aufjaulen, ein grässliches Knirschen und dann ein gepeinigtes Keuchen.
Gerry muss ausgerutscht sein.
An diesem Punkt sollte ich wohl erwähnen, dass ich vorhin, als ich statt Bohnerwachs mit dem nach Orange duftenden Politurspray vorliebnehmen musste, den Warnhinweis auf der Dose ignoriert habe, der da lautete: »Nicht auf Fußböden sprühen oder verwenden - Rutschgefahr!« Dem hatte ich keine große Bedeutung beigemessen.
Ich robbe blitzfix zum anderen Ende des Betts und spähe über die Kante nach unten. Da liegt Gerry, das Gesicht vor Schmerz verzerrt, und hält sich den Fuß. »Ich glaube, er ist gebrochen«, sagt er. »Ich bin an den Bettpfosten geknallt.«
Im Nu komme ich in Gang. »Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen. Ich schaue nach, ob Wyatt schon zurück ist. Er ist mit Bruce zu einem AA-Treffen gefahren, aber er müsste eigentlich mittlerweile wieder da sein.«
Verdammt! Soeben habe ich gleich zwei AA-Mitglieder bloßgestellt. Ein schweres Vergehen, außer es gibt eine Ausnahmeregelung für medizinische Notfälle. Muss es geben, beschließe ich.
»Nein!«, stößt Gerry hervor und windet sich am Boden. »Nicht Wyatt holen.«
Ich beachte ihn nicht weiter. Wenn ich doch bloß eine Tiefkühlpackung Erbsen dahätte! »Ruhig halten und hochlagern«, rufe ich über die Schulter hinweg, während ich die Wendeltreppe hinuntersprinte. Ich war im Erste-Hilfe-Team der Gemeindeverwaltung von Kingston - was man da gelernt hat, vergisst man nie mehr.
Im Hof renne ich um ein Haar Bruce über den Haufen, der gerade zu seinem Wagen geht. »Hilfe!«, rufe ich. »Ich brauche dringend medizinischen Beistand.«
»Alice, ich wusste doch, dass Sie eines Tages zur Vernunft kommen würden.«
»Nicht für mich. Für Gerry. Er ist oben.«
»Soll ich meine Bücher -«
Ich packe Bruce beim Ärmel und schleife ihn hinein. Leider lässt es sich nicht vermeiden, ihn durchs Wohnzimmer zu lotsen, vorbei an den weitgehend ausgeschlachteten Pizzakartons, der leeren Weinflasche und dem Aschenbecher. Bruce kann der Szenerie offensichtlich nichts abgewinnen. »Ich nehme an, er ist umgekippt«, sagt er trübsinnig.
»Ja, ist er, aber nicht so, wie Sie meinen«, sage ich über die Schulter hinweg und schon halb die Treppe hinauf.
Gerry hat sich zwischenzeitlich aufs Bett gehievt, leidet aber offensichtlich immer noch große Schmerzen.
»Es wird alles wieder gut«, beruhige ich ihn. »Schau, da ist Bruce.« Ich gebe mir alle Mühe, wie die perfekte Gastgeberin zu sprechen. »Bruce, Sie erinnern sich sicher noch an Gerry. Sie sind sich neulich im The Winds begegnet.« Bruce bückt sich und reißt mit einer einzigen brutalen Bewegung Gerrys Hand von seinem Fuß weg. Ich schnappe entsetzt nach Luft. Gerrys kleiner Zeh ist knallrot und doppelt so dick wie normal. Bruce kniet sich hin, betrachtet ihn prüfend und dreht ihn einmal hin und her.
»AAAAAU!«, schreit Gerry. »Was zum Henker?«
»Vermutlich gebrochen«, sagt Bruce trocken und steht wieder auf. »Aber ich schätze, ein Arzt kann da auch nicht viel ausrichten. Ich fahre Sie nach Hause, und dann sehen wir mal, wie es morgen ausschaut.«
Gerry will aufbegehren, doch da hält Bruce ihm sein Hemd hin. »Genau genommen handelt es sich hier um einen Unfall infolge von Alkoholkonsum. Das sollte Ihnen zu denken geben.«
»Allerdings. Wenn ich mehr getrunken hätte, würde es nicht so saumäßig wehtun«, grummelt Gerry.
Ich kann nicht anders. Die Broschüre über Alkoholismus hämmert einem förmlich ein, dass man egal in welcher Situation immer aufrichtig sein muss. »Eigentlich war es die Politur«, melde ich mich zu Wort.
Bruce stutzt. »Sie haben Politur geschnüffelt?«
»Nein! Ich habe den Boden damit gewienert.«
Gerry knöpft sein Hemd zu und bedenkt mich mit einem Dackelblick. »Siehst du, Alice, jetzt musst du doch in Barnsley bleiben. Ich brauche eine Pflegerin.«
Er hoppelt die Wendeltreppe hinunter und weiter ins Wohnzimmer, wo ich ihm seine Jacke über die Schultern lege. Dann hilft Bruce ihm weiter bis zu seinem Volvo. In Wyatts Haus ist unten alles dunkel - vermutlich hat Bruce ihn mit einem Haufen ernüchternder Hausaufgaben ins Bett geschickt.
Gerry verstaut sich im Wagen. Als Bruce den Motor anlässt, kurbelt Gerry das Fenster herunter. »Kann gut sein, dass ich morgen eine Krankenwäsche brauche, Alice.«
Mir ist elend zumute. Ich kann Gerry nicht gut ohne ein Wangenküsschen fahren lassen, woraufhin er mich links und rechts packt und nach allen Regeln der Kunst abknutscht. »Besser als Morphium«, so seine Worte.
»Leute, es ist klapperkalt hier drin«, blafft Bruce und lässt den Wagen anrollen.
»Auf geht’s«, lässt sich Gerry mit einem schauerlichen britischen Akzent vernehmen, als sie davonfahren.
Ich bleibe in der Kälte stehen und behalte sie im Auge, bis die Rücklichter nicht mehr zu sehen sind. Einen Moment lang schaue ich in den klaren Himmel und durch die Dunkelheit auf die Lichter von Barnsley. Wenn ich morgen abreise, werde ich nie wieder herkommen, das weiß ich. Und spüre so etwas wie leises Bedauern. Wenn die Dinge doch bloß anders gelagert wären, wenn Wyatt Songtexte schriebe und wollte, dass ich dableibe. Dann könnte ich mit Gerry nach Las Vegas fahren, Caseys Referat bis zum Ende begleiten, mit Rachel zu dem Laden von Lands’ End im Einkaufszentrum fahren und die volle Sommerkollektion in Augenschein nehmen. Und ich könnte die Gardinen im Cottage abhängen und chemisch reinigen lassen.
Was würde Mum wohl sagen, wenn sie mich so sähe. Komisch, aber ich glaube, Wyatt würde ihr gar nicht schlecht gefallen. Eigentlich weiß ich ziemlich genau, was sie sagen würde - weil sie’s nämlich schon gesagt hat.
»Sieh dir die Welt an, Alice. Solange du noch jung bist.«
Dann gehe ich rein und checke das Bellagio im Internet. Nur zum Spaß, versteht sich. Morgen früh sehe ich meiner Rückkehr nach England sicherlich sehr viel freudiger entgegen.
Zuckerguss und Liebeslieder Roman
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