6. KAPITEL
Ich will ehrlich sein. Nach diesem Gespräch mit Stephen wäre ich morgens vermutlich schnurstracks ins Büro gegangen und hätte meine Kündigung eingereicht, wenn Stephen nicht mitten beim Trinken seines entkoffeinierten Frühstückstees innegehalten und nach einem Blick auf die provenzalischen weißen Küchenfliesen die verhängnisvollen Worte geäußert hätte: »Vielleicht reicht es ja auch, wenn wir sie frisch verfugen.«
»Was?«
Sein Blick signalisiert, dass er die Dinge rein vernunftmäßig betrachtet. »Wozu ohne Sinn und Zweck Geld ausgeben, Alice?«
»Du hast gesagt, wir könnten die Fliesen neu machen.«
»Damit meinte ich natürlich unter Berücksichtigung der Etatbeschränkungen.«
»Herrgott noch mal, Stephen. Wir geben doch kein Kriegsschiff in Auftrag, wir bestellen bloß eine Küche.«
»Meiner Meinung nach gelten dafür die gleichen Prinzipien. Sehen wir doch mal, wie es uns geht, wenn die Bestellung von Scotts of Stow da ist.«
Er sieht auf seine Armbanduhr, murmelt »Ich bin spät dran« und greift nach seinem Fahrradhelm. Dagegen kann ich nichts einwenden, das weiß er.
Also gehe ich zur Arbeit, wo ich, statt meine Kündigung einzureichen, online italienische Marmorfliesen checke, wann immer Phoebe Brent zu sich zitiert. Nach einem Tag sind bereits erste Veränderungen bei Carmichael Music zu spüren. Mittags sitze ich mit Lisa vom Empfang, den Mädels aus der Buchhaltung und Bob vom technischen Service an einem Tisch. Graham hat immer Wert darauf gelegt, in der Kantine zu Mittag zu essen, wenn er da war, und mit Leuten aus verschiedenen Abteilungen zusammenzusitzen. Er kannte jeden mit Namen. Phoebe und Brent jedoch hocken oben in ihrem Büro und essen bei Itsu bestelltes Sushi.
Lisa, die Empfangsdame, packt ihr halbes Mittagessen in eine Tupperdose. Sie ist alleinerziehende Mutter, und vermutlich ist das ihr Abendessen. »Graham war immer so verständnisvoll. Wenn Kayla krank war, konnte ich immer zu Hause bei ihr bleiben. Ich nehme an, das wird sich alles gründlich ändern.«
Niemand widerspricht ihr.
Betty aus der Buchhaltung weist mit dem Kopf zu den PR-Mädels, die am Fenster sitzen. »Wenn die da bis zum Ende vom Sommer noch einen Job haben, fresse ich einen Besen samt Stiel. Die neue Madam macht kurzen Prozess mit ihnen und sucht sich ein externes Unternehmen.«
Bob nickt weise. »Von der Belegschaft ist bald nur noch das Gerippe übrig.« Bob, unser Techniker, ist Dads und Valeries Nachbar und hat mich Graham damals empfohlen. Graham hat Bob zur Einrichtung unseres Internetzugangs eingestellt. Mit dieser Tätigkeit finanziert Bob seine wahre Leidenschaft - die mittelalterliche romantische Komödie, an der er eifrig schreibt. Er ist sehr gebildet.
Lisa beugt sich zu mir hin. »Also, stimmt es denn nun, Alice? Es geht ein Gerücht um, du wärst auf dem Weg Richtung Big Apple.«
Ich schüttle den Kopf. »Ist noch nichts entschieden.«
Nach der Arbeit gehe ich zu dem monatlichen Treffen der Selbsthilfegruppe für Angstgestörte. Andy, Jennifer und Zara sind schon da. Andy ist ein ehemaliger Flugkapitän, dessen Nerven blankliegen, seit ein Sturm im Golf von Biscaya ihn zu einer Notlandung in der Nähe von Santiago de Compostela gezwungen hat. Er hat graues Haar, trägt immer noch einen Bürstenschnitt und weiße Pilotenhemden mit vielen Taschen. Jennifer ist Hausfrau und hat, bevor sie zu Dr. Vaizeys Gruppe stieß, zehn Jahre lang das Haus nicht verlassen, außer um bei Spar einkaufen zu gehen. Zu Zara nur so viel: Sie ist irgendwas zwischen zwanzig und dreißig, strebt nach Dichterlorbeeren, hat fast hüftlanges Haar und einen Mordshaufen Probleme.
Ich winke zur Begrüßung und reihe mich in die Schlange an der Theke ein. Wohlweislich bitte ich um einen Pappbecher für meinen Magermilch-Latte. Bakterien - und wie man den Kontakt mit ihnen vermeidet - sind bei diesen Anlässen ein beliebtes Thema. Jennifer und ich gehen ohne unsere desinfizierenden Reinigungstücher nirgendwohin, und Zara - die mal einen Becher mit einem nur teilweise entfernten Lippenstiftabdruck erwischt hat - trinkt jetzt nur noch durch einen Strohhalm.
Ich nehme Platz und höre Andy zu, der sich gerade über Depressionen verbreitet. »Scheißdepressive. Alles dreht sich nur um die.« Er zählt an den Fingern ab. »Arbeiten nicht, waschen sich nicht, schlafen den ganzen Tag. Und dann erwarten sie auch noch von allen Mitleid. Erzähl mal deinem Hausarzt, du hättest Angststörungen, und was kriegst du? Zwanzig Tavor und eine Meditationskassette.«
Jennifer nickt beifällig. Mir fällt auf, dass sie sich blonde Strähnchen hat machen lassen und von Monat zu Monat mit immer gewagterem Dekolleté erscheint. Heute trägt sie einen blassrosa Mohairpullover mit V-Ausschnitt. In letzter Zeit habe ich mich öfter gefragt, ob da wohl etwas zwischen ihr und Andy läuft, auch wenn ihr Mann, ein Verkehrspolizist, sie immer überallhin fährt. Ich sehe ihn manchmal, wie er in einer Seitenstraße mit freiem Ausblick auf Starbucks parkt und den Daily Express liest.
Zara holt ihr Strickzeug aus einer löchrigen Plastiktüte. Sie ist imstande, Aufgaben zu erfüllen, aber nur, wenn sie eine bestimmte Reihenfolge einhält. Bei der kleinsten Abweichung muss sie von vorn anfangen. Infolgedessen wurde es bei ihrem letzten Job, an der Kasse bei Tesco, Heiligabend ziemlich ungemütlich. Sie wird sich am Gespräch beteiligen, sobald sie ihr Strickzeug in Gang gebracht hat.
»Man hat mir einen Job in New York angeboten«, verkünde ich.
Andy klopft mir auf die Schulter, und Jennifer sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Ach, da wollte ich immer so gerne mal hin.« Sie zwinkert Andy zu. »Eines Tages vielleicht …«
»Und was machst du da?«, fragt Zara unter gleichmäßigem Klick, Klick, Klick.
»Weiter für Carmichael Music arbeiten.« Ich nehme ein Schlückchen von meinem Kaffee. »Die Sache ist die, ich bin mir nicht sicher, ob ich da wirklich hin soll. Ich meine, dazu müsste ich fliegen.«
Ich hatte etwas Mitgefühl erwartet - in der Welt der Angstgestörten kommt das Besteigen eines Flugzeugs gleich nach einer Vollnarkose - aber nichts da.
»Na, du fährst doch Auto«, sagt Jennifer.
»Du steigst in die U-Bahn«, sagt Zara.
»Du wärst schön blöd, wenn du das ablehnst«, sagt Andy und knallt seinen Chai-Latte auf den Tisch. (Dr. Vaizey hat uns allen Kaffee strikt verboten, aber ich bin rückfällig geworden.) »Komm schon, Alice, du warst doch immer die Klassenbeste.« Andy hat seit jeher ein Faible für mich und - vermute ich - gewisse Vorbehalte gegenüber Stephen. Er nennt ihn beispielsweise nie beim Namen. »Steckt da etwa dein Typ dahinter?«
»Oooh«, haucht Jennifer. »Ist er dagegen?« Sie wechselt einen Blick mit Andy. »Raubt er dir deine Kraft, weil er selbst Kontrollprobleme hat?«, fragt sie verständnisinnig.
»Schande«, sagt Zara verträumt.
Ich fühle mich verpflichtet, Stephen zu verteidigen. »Nein. Ihm ist ernsthaft an mir gelegen.«
Jennifer und Andy fixieren einander und nicken unisono. »Immer die gleiche Rechtfertigung, Liebes«, sagt Jennifer bissig.
»Er kommt nicht mehr zur Gruppe, stimmt’s?«, sagt Andy. »Kaum ist er so weit, dass er über dein Leben verfügt, denkt er, er hätte uns nicht mehr nötig. Er ist vollauf damit beschäftigt, dich zu schikanieren.«
»Genau«, wirft Jennifer ein. »Indem er sich auf dich konzentriert, muss Stephen sich nicht mehr mit den Leiden seines inneren Kindes auseinandersetzen.«
»Um Himmels willen«, sage ich genervt, »können wir bitte aufhören, über Stephen zu reden? Ich bin diejenige, die hier moralische Unterstützung braucht.«
»Jetzt hör mir mal gut zu. Mach’s einfach, Alice«, sagt Andy und wedelt nachdrücklich mit der Hand.
»Aber der Flug«, jammere ich.
»Ist die sicherste Art der Fortbewegung«, fertigt Andy mich ab.
»Aber du …«, setze ich an.
»Das ist etwas anderes. Ich musste zusehen, dass das Mistding nicht abstürzt. Du musst dich nur besaufen.«
Ein Glück, dass Dr. Vaizey uns jetzt nicht hören kann. Er hat sich immer vehement gegen unsere kleinen Krücken ausgesprochen, seien es Drinks, Fluppen, KitKats oder unsere ganzen verrückten Rituale. Ich fände es furchtbar, ihn zu enttäuschen.
»Ich bin mal mit dem Zug gefahren«, sagt Zara gedankenverloren. »Ging alles prima, bis mir die Wolle ausging.«
Später nimmt Andy mich beiseite. »Alice, das Leben ist kurz. Genieß die Reise.«
Zu Hause belüge ich Stephen, als er fragt, ob ich in der Arbeit verkündet habe, dass ich doch nicht nach New York gehe.
»Phoebe war den ganzen Tag nicht im Büro.«
Jegliche Schuldgefühle meinerseits verfliegen, als Stephen mit keinem Wort die Küche erwähnt. In der Nacht schlafen wir an den beiden äußersten Enden des Betts.
Am folgenden Tag geht mir Andys Rat immer wieder durch den Kopf. Außerdem haben sich die Gerüchte über meine Versetzung nach New York mittlerweile verselbständigt. Ich bin so etwas wie eine kleine Berühmtheit bei Carmichael Music. Betty beglückwünscht mich im Flur mit einer dicken Umarmung, und Lisa schenkt mir einen schmachtenden Blick. »Oh, Alice, du bist ja soooo zu beneiden.« Ich habe Gewissensbisse, dass ich mein Glück so einfach in den Wind schreibe. Schließlich raffe ich allen Mut zusammen und rufe Dad an, der nicht etwa besorgt, sondern regelrecht freudig reagiert. »Dann lässt du Stephen also hinter dir, hm?« Zwischendurch passt Bob mich in der Schlange fürs Mittagessen ab. Sein Blick ist flackrig. »Es sind Veränderungen im Gange.« Er dämpft die Stimme. »Frage nicht, wem die Stunde schlägt, Alice. Sie schlägt dir und mir.«
Im Übrigen, wie schlimm kann ein achtstündiger Flug schon sein?
Also wimmle ich Stephens Fragen weiter ab, und am Ende der Woche bin ich so gut wie überzeugt. Den letzten Rest gibt mir Teresas Anruf.
»Ich konnte einfach nicht anders, Alice. Dad hat es mir gerade erzählt. New York!« Sie lacht glockenhell. »Willst du die ganze Zeit mit den Armen rudern, damit das Flugzeug nur ja in der Luft bleibt? Also mal im Ernst, Alice. Was haben die sich bloß dabei gedacht, ausgerechnet dir so einen Job anzubieten!«
Damit stand die Entscheidung fest: Ich fliege.
Zuckerguss und Liebeslieder Roman
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