7. KAPITEL
»Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist nicht gerade
rosig, Stephen«, sage ich kopfschüttelnd. »Bei Carmichael Music
droht Personalabbau, und in meinem Alter kann ich durchaus gegen
jemand Jüngeren den Kürzeren ziehen. Nach New York zu gehen, ist
möglicherweise der einzige brauchbare Weg, um unsere finanzielle
Zukunft zu sichern.«
Ich habe beschlossen, Stephen so lange zuzusetzen,
bis er mich nach Amerika gehen lässt, und wie es aussieht, scheint
mein Plan zu funktionieren. In dieser Hinsicht sind Angstgestörte
absolut berechenbar, weil sie sich um alles und jedes Sorgen
machen. Wir sitzen im Pizza Express von Wimbledon Village. Auch das
gehört zu meiner Strategie - Geld für Restaurantbesuche auszugeben,
macht Stephen immer nervös. Er beugt sich vor, legt die Speisekarte
weg
und knetet die Hände. Bei der Erwähnung unserer finanziellen
Zukunft blitzt ein Fünkchen Furcht in seinen Augen auf.
»Überleg doch mal, Stephen«, fahre ich fort und
bemühe mich, verzagt zu klingen, »es könnte Monate dauern, bis ich
wieder einen Job habe. Je länger man arbeitslos ist, umso
schwieriger wird es. Ich schätze, ich werde einem dieser Job-Clubs
beitreten müssen, wo Leute, die früher mal multinationale Banken
geleitet haben, von der Gruppe mit Beifall begrüßt werden, wenn sie
von ihrem Vorstellungsgespräch bei Sainsbury’s zurückkommen.«
»Meinst du wirklich, es könnte so weit kommen?«,
fragt er entsetzt.
»Sofern ich es überhaupt bis in den Job-Club
schaffe«, sage ich und sehe ihn aus großen Augen an. »Vielleicht
werde ich ja auch depressiv, sitze den ganzen Tag auf dem Sofa und
bestelle Zeug bei QVC.« Pause. »Bei voll aufgedrehter Heizung.« Ich
seufze. »Vermutlich fühle ich mich auch nicht motiviert zu kochen,
deswegen müssen wir vom Bestellservice leben.«
Stephen klappt die Kinnlade runter. Die Kellnerin
kommt, um unsere Bestellung aufzunehmen.
»Eine Pizza Quattro Stagione, bitte«, sage
ich.
»Eine Pizza Quattro Stagione, bitte«, sagt
Stephen. »Und ein Knoblauchbrot und ein Beilagensalat mit zwei
Gabeln und eine halbe Flasche von Ihrem Hauswein und zwei Gläser
Leitungswasser.«
Das ist ein weiterer Vorteil, wenn man mit einem
ebenfalls Angstgestörten zusammenlebt - keine unerwarteten
Überraschungen oder Verhaltensänderungen.
»Aber du bist eine qualifizierte persönliche
Assistentin«, wendet er stirnrunzelnd ein, als die Kellnerin
abzieht. »Es
gibt doch sicher bergeweise andere Stellen für jemanden wie
dich.«
»Von wegen. Persönliche Assistentinnen sind eine
vom Aussterben bedrohte Gattung. Schuld daran sind die Computer«,
erwidere ich und schüttle erneut den Kopf. »Und die
Produktionsverlagerung in die Dritte Welt. Und die Erderwärmung«,
setze ich noch eins drauf.
Stephen überdenkt die Lage, so viel sehe ich. Er
nimmt seine Brille ab, säubert sie mit seiner
Pizza-Express-Papierserviette und setzt sie wieder auf, ein klares
Anzeichen, dass er unter Stress steht. Wie er da so sitzt, fühle
ich mich doch ein bisschen mies, dass ich ihm das antue. Aber alle
nerven mich dauernd, ich solle keinen Rückzieher machen, und gehen
irgendwie davon aus, dass ich es doch tun werde - das kränkt einen
schon ein bisschen. Heute hat mir Andy eine SMS geschickt: »Geh
nach NY. 1malige Chance. Versaus nicht!!!« Allerdings.
Ich nippe von meinem Wein. Wir sind keine großen
Trinker - ein Karton Wein reicht uns monatelang. Rings um uns
sitzen verliebte junge Pärchen und proper aussehende Familien mit
Kindern, die Bruschetta essen. Draußen ist es kalt und regnerisch,
aber drinnen in dem modern eingerichteten Restaurant mit den hohen
Decken ist es warm und laut. Ich könnte mich durchaus daran
gewöhnen, so zu leben, aber wir gehen nicht oft essen -
Küchenhygiene ist ein Reizthema für mich, und Stephen weist
unweigerlich jedes Mal darauf hin, dass wir für das gleiche Geld
eine ganze Woche zu Hause essen könnten. Pizza Express hat
allerdings eine blitzblanke, offen einsehbare Küche und ein gutes
Preis-Leistungsverhältnis.
»Aber wir wären so lange voneinander getrennt«,
sagt er. »Ich müsste sechs Monate ohne dich zubringen.«
Den Einwand habe ich vorausgesehen. »Ich rufe dich
an, und ich maile dir, und ich lasse eine Webcam anschließen.
Außerdem können wir uns auch noch SMS schicken. In Kontakt zu
bleiben, ist kein Problem.« Ich hole tief Luft. »Du könntest auch
rüberkommen und mich besuchen.«
»Dich besuchen«, sagt er mit dünnem
Stimmchen.
»Mithilfe von verschreibungspflichtigen
Beruhigungsmitteln«, füge ich hastig an. »Du schläfst in Heathrow
ein und wachst in New York auf.«
Das Knoblauchbrot kommt; Stephen teilt es
mittig.
Derweil male ich ihm unseren vorerst noch in den
Sternen stehenden Besichtigungstrip durch New York aus, unter
Auslassung der Bootstour rund um die Freiheitsstatue und des Teils,
bei dem man ganz hoch oben auf dem Empire State Building auf die
windumtoste Plattform tritt. »Die Museen sind Weltklasse«, erkläre
ich.
»Und damit bliebe uns auch mehr Zeit für die
Planung der neuen Küche«, setze ich beiläufig hinzu. Das mit der
Küche habe ich noch lange nicht aufgegeben, o nein. Aber ich warte
lieber damit, bis ich wieder da bin, bevor am Ende Stephen die
Ober- und Unterschränke, die Arbeitsflächen und die Armaturen
aussucht.
»Okay«, quetscht er heraus. »Wenn du das so sagst,
gibt es wohl keine Alternative …« Seine Stimme versagt, sein
Gesicht ist ein einziges Elend. »Ich weiß bloß nicht, wie ich ohne
dich zurechtkommen soll.«
Oje. Ich greife nach seiner Hand und drücke sie
fest, muss sie aber im nächsten Moment wieder fahren lassen, weil
die Kellnerin mit unseren Pizzas erscheint. Stephens
unverbrüchliche Treue schnürt mir die Kehle zu. Zugegeben, er hat
die eine oder andere Marotte, aber ich bin auch nicht gerade die
unkomplizierteste Mitbewohnerin aller
Zeiten. Für jeden Topf gibt es einen Deckel, was in unserem Fall
heißt, dass ich der deformierte Deckel für Stephens verbeulten Topf
bin.
»Wir müssen einfach ganz detaillierte Pläne für
alle Eventualitäten erstellen«, sagt er tapfer. »So wie sie es bei
der SAS machen.« Stephens Lieblingsschriftsteller ist Andy McNab,
der nach seiner Zeit als Kompanieführer bei dieser Spezialeinheit
der Armee zum Bestsellerautor wurde.
Liebe wallt in mir auf, als ich zusehe, wie er
seiner Pizza methodisch zu Leibe rückt, Kruste zuerst, und sich im
Uhrzeigersinn weiter nach innen vorarbeitet. Ich tue es ihm gleich.
Das war eins der Dinge, die mir sofort an uns auffielen - bei
unserem ersten Date im Pizza Hut - und mir sagten, dass wir
füreinander bestimmt waren. Ach, was hatten wir an diesem ersten
Abend für einen Spaß beim Austausch über unsere Vorlieben und
Abneigungen! Stephen stimmte mir zu, dass Pferde allerdings äußerst
furchterregende Wesen sind, ganz gleich, von welchem Ende man sich
ihnen nähert. Die Angewohnheit mancher Leute, mit ihrer Gabel ins
Essen anderer zu pieken und einen Bissen zu probieren, verurteilten
wir als sowohl unhygienisch wie auch als Zeichen von schlechten
Manieren. Beim Kaffee gestanden wir einander unseren
wechselseitigen Horror vor Swimmingpools - das unhygienische
Gemeinschaftswasser, das Risiko von Warzen und die Gefahr, dass zu
viel Chlor drin ist, man infolgedessen von Dämpfen benebelt wird
und schließlich ertrinkt.
Fürs Zusammenwohnen eignen wir uns ideal. Er weiß,
dass ich weiche Eier nicht ausstehen kann - schon beim Anblick des
Glibbers in der Mitte wird mir übel -, und kocht sie zuverlässig
zehn Minuten. Wir haben beide sehr empfindliche Ohren - Stephen und
ich lassen den Fernseher
so leise laufen, dass wir wichtige Dialogzeilen häufig erraten
müssen. Und beide waschen wir neue Kleidung immer erst einmal,
bevor wir sie anziehen, weil man nicht weiß, wer sie vor einem
schon alles anprobiert hat.
Eine Weile essen wir schweigend, dann legt Stephen
Messer und Gabel hin. »Wir nennen es Operation USA«, verkündet er.
»Und wir müssen gleich heute Abend mit der Planung beginnen.«
Ich will wieder nach seiner Hand greifen, aber er
hat sich erneut Messer und Gabel geschnappt und zerschneidet den
Fünf-Uhr-Abschnitt seiner Pizzakruste.
Also begnüge ich mich stattdessen mit einer Vision
von uns beiden in New York, Stephen außer Rand und Band und
herrlich unbekümmert dank der nachhaltigen Wirkung seiner
Flugangstbekämpfungsmittelchen. Hand in Hand hüpfen wir die Fifth
Avenue entlang, dinieren in Restaurants, die bald in aller Munde
sein werden, und rudern um den berühmten See im Central Park.
Mannhaft lenkt Stephen unser Bötchen bis zur Mitte des Sees und
lässt es dort dümpeln. Ich gucke verblüfft, obwohl ich eine Ahnung
habe, was jetzt kommt. Und richtig, Stephen zieht ein Kästchen von
Tiffany aus der Tasche. Ich lege kokett den Kopf schräg, mache es
auf und bin geblendet von dem Diamanten, der mir entgegenblinkt.
»Willst du mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden?«, flüstert
er. »Ja«, sage ich voll Stolz. Amerikanische Zuschauer, die diese
romantische Szene vom Ufer aus beobachten, brüllen »Yankee Doodle
Dandy!« und werfen ihre Baseballkappen in die Luft. Einige haben
zufällig Feuerwerkskörper dabei und lassen sie abbrennen. Es gibt
einen mächtigen Rummel, und später am Abend werden wir in den
Fernsehnachrichten von WKTZYB interviewt. »Der Central Park im
Flair
altmodischer Romantik: Ein kühner Brite beehrte heute den Big
Apple und stellte die Große Frage!« Stephen wird gefilmt, wie er
mich an sich drückt. »Ich habe die wundervollste Frau der Welt
gefunden und kann es nicht erwarten, mein Leben ganz ihrem Glück zu
widmen!« Donald Trump ruft an, während wir noch auf Sendung sind,
und bietet uns kostenlose Flitterwochen in seinem Hotel in Palm
Beach an.
Wieder spüre ich einen Schwall von Liebe zu
Stephen, der mit seiner Pizza gerade in die zweite Runde geht. Ja,
ich weiß, woran ich mit ihm bin. Er ist das, was ältere Leute den
»idealen Schwiegersohn« nennen. Stephen würde niemals für uns eine
von diesen Zu-schön-um-wahr-zu-sein-Hypotheken aufnehmen - zwei
Jahre günstig, und dann kann man sich keinen Bissen zu essen mehr
leisten. Er würde auch nicht vergessen, unsere Mitgliedschaft im
Automobilclub zu verlängern: eine Panne, und sie hat sich
ausgezahlt. Als Vater würde er bei Elternabenden eingehende Fragen
stellen, beim Sommerfest den Grill bedienen und als Hilfstrainer
der Schulfußballmannschaft fungieren. Er selbst stand als
Schuljunge im Tor; schmächtig, wie er war, lief er auf dem Platz
immer Gefahr, umgekegelt zu werden.
Während wir die letzten Bissen verzehren, setzt
mich Stephen über die neuesten Entwicklungen in dem von ihm
betreuten Streitfall um den Küstenpfad in Dorset in Kenntnis und
bedeutet dann der Kellnerin, dass sie die Rechnung bringen soll.
»Lass uns zu Hause Kaffee trinken«, sagt er wie üblich. (Für den
Preis einer bis zum Rand mit Schaum gefüllten Tasse Cappuccino kann
man ein ganzes Paket Kaffee kaufen.) Ich warte, bis er gezahlt hat,
und fühle mich warm, glücklich und geborgen in den fünf Minuten,
die er braucht, um die einzelnen Posten nachzurechnen und den
Beleg seiner MasterCard auszufüllen - heute ist nämlich er mit
Bezahlen dran. Wahrhaftig, was bin ich doch für ein
Glückskind.