2. KAPITEL
Eigentlich war ich über Phoebe bereits voll im Bilde. Dad hatte mir vor ungefähr einem Jahr einen aus Vanity Fair ausgeschnittenen Artikel geschickt und einen Haftzettel vorn draufgeklebt: »Das hat Valerie beim Friseur entdeckt, darum haben wir uns in Unkosten gestürzt und eine Ausgabe gekauft.« So was macht er laufend - versucht mit aller Gewalt, aus uns allen eine große glückliche Familie zu machen, obwohl ich ihm schon hundertmal gesagt habe, dass ich Valerie mag und kein Problem damit habe, dass er mit ihr zusammen ist. Nach Mums Tod war Dad fünf Jahre allein - nicht lange genug für meine Schwester Teresa.
Der Titel des Artikels aus Vanity Fair lautete: »Papas Töchterchen - Zehn Frauen treten aus dem Schatten ihrer berühmten Väter«. Darunter prangte ein doppelseitiges Foto von Annie Leibovitz, aufgenommen bei Nacht im leeren Handelssaal der New Yorker Börse. Zehn super-seriös wirkende junge Frauen, im Halbkreis aufgestellt.
Dad hatte einen Pfeil eingezeichnet, der auf Phoebe Carmichaels Kopf zielte. Sie trug einen schwarzen, schulterfreien Overall von Michael Kors und hatte die brünette, glänzende Mähne dekorativ über eine Schulter gekämmt. Sie blickte fast schon finster in die Kamera, eine Hand in die Hüfte gestemmt, und hielt mit dem Ellbogen eine Senatorentochter in Schach.
Die Frau wirkte künstlich, reich und insgesamt ziemlich furchterregend.
Wenn Phoebe Carmichael die Zentrale von Carmichael Music an der Fifth Avenue betritt, klacken die Absätze, und die Praktikanten zerstreuen sich in alle Winde. Die Beste ihres Jahrgangs an der Brown University begann ihre Karriere mit der Umstrukturierung der Firmenniederlassung in Chicago - ein Prozess, den ein Insider der Branche mit dem Wort »brutal« bezeichnete.
Hier hatte Dad an den Rand geschrieben: »Sieh dich vor, Zuckerschnecke!!!« Ich bin fünfunddreißig, beinahe Hausbesitzerin und, wie schon erwähnt, so gut wie verheiratet, und trotzdem möchte er mir immer noch »beispringen«.
Ms. Carmichael lächelt in Erinnerung an jene Zeit. »Ich würde eher von Rationalisierung als von Abbau sprechen. Alles Wesentliche, was man in diesem Geschäft braucht, hat mein Vater mir von klein auf beigebracht: Fünf Stunden Schlaf und kein Gejammer.«
Insidern zufolge nimmt sie in geschäftlicher Hinsicht ihrem Vater zunehmend die Zügel aus der Hand. Ihr selbstgesetzter Auftrag lautet, Carmichael Music auf den neuesten Stand zu bringen und zugleich Kritik an den altmodischen Geschäftsmethoden des Labels abzuschmettern.
Privat führt Ms. Carmichael (36) laut eigener Aussage ein zufriedenes Dasein als Single. Zur Wiederverheiratung ihres Vaters äußert sie sich wortkarg. Im vergangenen Jahr hatte sich Terry Carmichael nach einem erbitterten Scheidungskrieg mit Phoebes Mutter erneut verehelicht. Seine zweite Frau Olga war nach seiner Bypass-Herzoperation bei ihm als Privatpflegerin angestellt gewesen.
»Mittlerweile verstehen wir uns alle prächtig«, so Phoebes knapper Kommentar.
Das war nun schon ein Jahr her. Aus Gründen der Firmenloyalität hatte ich den Artikel an meine Pinnwand geheftet, aber so gefaltet, dass ich Phoebe nicht im Blick hatte. Dann versuchte ich sie zu vergessen. Vielleicht würde die Londoner Niederlassung ihr ja gedanklich durchrutschen. Oder sie beschloss am Ende, sie unter Grahams Leitung zu belassen … Aber sie vergaß uns dann doch nicht ganz. Offenbar hat sie in diesem einen Jahr New York rationalisiert.
Auf der Strecke bis zur Station High Street Kensington wurde der Zug rappelvoll. Ich kämpfte mich mit dem reißenden Strom eiliger Pendler an die Oberfläche, wich den Verteilern von kostenlosen Tageszeitungen und Flyern für Billigflüge aus und machte mich nach einem Blick in den grauen Himmel auf den Weg zum Büro. Die vor mir liegende Woche bereitete mir Bauchschmerzen.
Woran zum Teil Brent Schuld hat. Brent ist Phoebes Assistent. Er ruft mehrmals täglich aus New York an, um immer wieder das Gleiche zu sagen. »Alice, bitte bestätigen Sie mir, dass für Ms. Carmichael definitiv ein Zimmer im Dorchester mit Blick auf den Park reserviert ist.« Brent redet schnell und nervös und betont jedes zweite Wort, und da ich selbst auch nicht gerade die Ruhe in Person bin, greift die Panik mit der Zeit auf mich über.
Mittlerweile hat Phoebes Ruf sich im Londoner Büro von Carmichael Music herumgesprochen. Tagtäglich klopfen in letzter Zeit besorgte Mitarbeiter bei mir an, halten mich mit vertraulichen Einzelheiten ihrer schaurigen Hypothekenzahlungen von der Arbeit ab und fragen mit Leichenbittermiene, ob ich etwas über geplante Entlassungen wüsste. Selbst Graham spürt den Stress: Er kommt in mein Büro spaziert und späht mir beim Tippen über die Schulter - was einen, wie Sie vielleicht aus eigener Erfahrung wissen, auf die Dauer schwer irritieren kann.
Ich gehe die High Street entlang, immer knapp an zu spät zur Arbeit kommenden Anzugträgern und dem einen oder anderen Nebensaisontouristen vorbei. In den Schaufenstern liegt schon die Sommerkollektion aus, obwohl es noch schweinekalt ist. Ich zwinge mich dazu, mich aufs Atmen zu konzentrieren - schön langsam die Luft aus der Lunge entweichen lassen -, und halte mir vor Augen, dass Phoebe Carmichael, selbst wenn sie wollte, Graham nicht feuern kann. Das würde ihr Vater nicht zulassen. Er und Graham kennen sich seit fast vierzig Jahren, genauer gesagt seit Graham das winzige Reihenhäuschen seiner Eltern in Manchester hinter sich ließ, als Tramper quer durch Amerika reiste, in einer Bar in Nashville Terry kennenlernte und mit ihm ein Gespräch über Musik anfing. Ein Geistesblitz bewog Terry, Graham auf der Stelle zu engagieren, um den britischen Zweig von Carmichael Music aufzubauen. Terry war immer der Chef, aber die zwei sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. Während Terry sich in den Bars der Vereinigten Staaten Schulabbrecher anhörte und Gott weiß wie den einen unter Tausenden fand, der es bis an die Spitze schaffen würde, hockte Graham von Glasgow bis Bristol in verrauchten Pubs und nahm Bands unter Vertrag.
Graham zählt laut Billboard zu den hundert einflussreichsten Personen im britischen Musikgeschäft. Was man ihm wahrhaftig nicht ansieht. Das ist ein Teil des Geheimnisses, das seinen Erfolg ausmacht - seine väterliche Erscheinung mit dem grauen, am Oberkopf schon mehr als lichtem Haar und dem gemütlichen Bäuchlein, plus seine Garderobe, die aus bügelfreien Anzügen von Marks & Spencer besteht. Chemische Reinigung ist in Grahams Augen eine verwerfliche Extravaganz. Wobei er durchaus nicht knickerig ist. Zum letzten Weihnachten bekam ich von ihm einen Bonus, der für Ferien auf Barbados ausreichte. »Gönn dir ein paar Sonnenstrahlen, Liebes. Lass es dir mal ein bisschen gut gehen«, sagte er, als er mir den Umschlag mit dem Scheck überreichte. Letztendlich sind wir dann doch nicht geflogen. Stephen brachte Stunden damit zu, den Finanzteil der Sunday Times nach dem steuerlich günstigsten Altersvorsorgeplan für mich zu durchforsten.
Graham gehört zu denen, die nach dem Motto »Fest arbeiten und Feste feiern« leben. Übers Wochenende segelt er gern mit seiner Yacht über den Ärmelkanal oder jettet mal eben schnell mit Virgin Upper Class und seiner britzebraungebrannten Frau Maureen zu einem kleinen Einkaufsbummel nach New York. Neulich haben sie ihren dreißigsten Hochzeitstag mit einer Karibikkreuzfahrt gefeiert, an Bord neben dem Jubelpaar auch ihre drei Söhne, deren Ehefrauen plus sieben Enkelkinder. Ich weiß das alles, weil ich es organisiert habe. Was mir nichts ausmacht. Im Gegenteil, es macht mir Spaß, solche Sachen für Graham zu erledigen. Und dabei mitzubekommen, wie die andere Hälfte lebt. In seiner Kabine hatte Graham einen eigenen Butler und einen Jacuzzi, und jeden Abend erwartete ihn eine echte Praline von Godiva auf dem Kopfkissen.
Es war eigentlich nicht ausgemacht, dass Graham sich während des Trips bei mir meldete, aber er stahl sich zweimal pro Tag von Maureen unter dem Vorwand weg, er wolle die Wetterkarte vor der Brücke checken, und rief mich auf seinem superteuren Satellitentelefon an.
Am vierten Tag beschlich mich der Verdacht, dass Graham vielleicht doch nicht solch ein Familienmensch war, wie ich bis dahin immer gedacht hatte. Allmählich klang er ein bisschen verzweifelt. »Hast du Billboard da?«
»Ja.«
»Lies mir was draus vor.«
»Was denn?«
»Egal was!«
Obwohl er schon seit Ewigkeiten Bands unter Vertrag nimmt, giert er immer noch nach Erfolg. Ehrlich gesagt, kann er mitunter ziemlich reizbar sein, aber das nehme ich in Kauf, weil ich andererseits so viel von ihm lerne. Letzten Monat kamen die Jungs von Firestorm zu uns ins Büro, um über eine Vertragsverlängerung zu verhandeln. Firestorm - schwarzes Leder, wilde Haartracht - ist unsere wichtigste Band in den Heavy-Metal-Charts. Graham bot ihnen einen Platz an, ließ einen Teller mit Schoko-Vollkornkeksen herumgehen und redete ihnen die Idee aus, zu unserem Konkurrenten Sony überzulaufen.
»Hört mal, Jungs, wollt ihr denn wirklich fünf kleine Zierfische in einem riesengroßen Teich sein?«
Die Feuerstürmer dachten scharf nach, wechselten Blicke und schüttelten kleinlaut die Köpfe. Woraufhin Graham lässig nach den Vertragsunterlagen griff. »So, und nun setzt schön eure Pfotenabdrücke hierhin.«
Graham ist der Überzeugung, dass die besten Bands die sind, die ihre Songs selbst schreiben, live auftreten und zusehen, »bahnbrechende« Alben herauszubringen. Graham ist immer noch scharf auf Alben und hat letztlich nie kapiert, worum es bei dem geht, was in der Musikpresse immer als »digitale musikalische Revolution« bezeichnet wird. Er ist erst seit Kurzem im Besitz eines BlackBerrys, und wer in seiner Gegenwart von »Musik teilen« spricht, muss sich darauf gefasst machen, dass Graham die Augen aus den Höhlen treten und eine Standpauke über Raubkopien fällig ist. »Das ist Diebstahl!«
Graham hört Johnny Cash, Rod Stewart und, in verwegenen Momenten, auch mal ein bisschen was von Eric Clapton aus seiner Frühzeit. »Alle Großen schreiben ihre Songs selbst, Alice. Wie Wyatt.« An meiner Bürowand hängt ein Riesenposter von Wyatt Browns erstem Albumcover - Moonshine.
»So was brauchen wir«, seufzt Graham regelmäßig, wenn ein harter Tag sich dem Ende zuneigt. »Ein neues Moonshine. Wyatt hat uns in den Neunzigern Millionen eingebracht.«
Einmal habe ich ihn gefragt: »Meinst du, du könntest ihn überreden, wieder Aufnahmen zu machen?«
Graham zuckte mit den Achseln. »Er steht immer noch unter Vertrag. Wir haben versucht, ihn wieder in die Gänge zu bringen. Aber seit seinem alkoholischen Totalabsturz vor fünf Jahren in Montreal hat er keinen Ton mehr gesungen.« Graham legte eine Schweigeminute ein. »Wyatt hatte alles drauf, verstehst du. Country, Rock und ein bisschen Pop, schön miteinander vermengt.« Er seufzte. »Für jeden etwas.«
Weil Montag ist, mache ich bei Pret A Manger halt: einen Joghurt-Muffin mit Pekannüssen für mich sowie einen mittleren Cappuccino und ein Zimt-Rosinen-Teilchen für Graham. Graham und ich würden niemals eine Affäre miteinander anfangen, aber unsere regelmäßigen Seitensprünge zum Konditor halten wir vor unseren jeweiligen Partnern sorgsam geheim. Grahams Frau geht davon aus, dass er sich weitgehend glutenfrei ernährt, und Stephen hat in unserem Monatsbudget keinen Posten für Essen oder Trinken zum Mitnehmen vorgesehen.
Es ist Viertel nach neun, und mit Graham ist nicht vor zehn zu rechnen. Ich lege die letzten fünf Minuten Fußweg zur Zentrale von Carmichael Music zurück, die in einer Seitenstraße um die Ecke vom Kensington Odeon liegt, lasse mich von der gläsernen Drehtür ins Foyer schieben und winke Lisa zu, die am Empfang sitzt und telefoniert. Sie winkt heftig zurück, während ich auf den Lift zuschieße, und als die Türen sich hinter mir schließen, ist mir, als hätte sie meinen Namen gerufen. Aber wie üblich ist die Zeit zu kurz, um den Knopf für »Tür öffnen« zu finden, bevor der Lift sich zu den Büros in den obersten Etagen aufmacht. In der hell erleuchteten Kabine betrachte ich prüfend mein Spiegelbild und stelle zu meinem Entsetzen fest, dass ich nicht im Mindesten sonnengebräunt wirke, sondern eher einem Strahlenopfer gleiche, mit eigenartig verfärbten Stellen an Nase, Kinn und Stirn, überall dort, wo ich mit der Klorolle nicht fest genug gewischt habe. Aber ich komme nicht dazu, eins von meinen Papiertaschentüchern aus der Kleinpackung zu ziehen, weil im selben Moment eine E-Mail auf meinem BlackBerry erscheint; mit der Absenderadresse kann ich nichts anfangen.
Absender: sharingistheft@biznet.com
Betreff: alice ich komme nicht
Nachricht: komme heute natürlich nicht ruf mich auf dem
handy an graham ps sieh dich vor alles liebe
Bevor ich mir einen Reim auf Grahams Botschaft machen oder mir schnell irgendwo notieren kann, dass ich ihm beibringen muss, wie man Großbuchstaben hinkriegt, gehen die Lifttüren auf. Vor mir stehen vier Menschen in dunkler Geschäftskluft - drei der Gesichter sagen mir nichts, das vierte sehr wohl. Zittrig trete ich aus dem Aufzug.
Der kleinste der drei Fremdlinge wieselt auf mich zu, ein Klemmbrett im Griff. »Name?«
»Alice Fisher.«
Im nächsten Augenblick wendet sich Phoebe Carmichael mir zu. Einen Augenblick lang ruht ihr Blick auf meinen bequemen Jeans, wandert dann hinunter zu den Schnürschuhen von Clarks und weitet sich beim Anblick meiner Steppdecke von Mantel. Schließlich sieht sie mir ins Gesicht. Für einen kurzen Moment verliert sie die Contenance und gafft mich schlicht an. Phoebe, die hochgewachsene, elegante Absolventin der Brown University, steht vor mir, in einem maßgeschneiderten dunkelroten Hosenanzug und glänzenden, hochhackigen Pumps, jedes Härchen an seinem Platz - eine Frau, die laut Vanity Fair mühelos eine Führungsposition mit Glamour zu kombinieren versteht und neben der ich, wie ich da aus dem Lift getrottet komme, wie eine zerzupfte Raupe wirke.
Offenbar ist sie wieder Herrin der Lage.
»Alice. Wir warten schon auf Sie.« Sie schaut auf ihre Armbanduhr. »Seit sieben Uhr.«
Unsere Blicke treffen sich. Verdammt - zwei Minuten noch, und ich bin wegrationalisiert.
Zuckerguss und Liebeslieder Roman
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