10. KAPITEL
Auf der M25 herrscht null Verkehr, und um 23 Uhr erreichen wir den Flughafen Gatwick. Noch etwas mehr als sechs Stunden, bis der Check-in-Schalter für meinen Flug aufmacht. Also verfrachten wir uns mit meinem schicken Rollkoffer und der dazu passenden Umhängetasche in den Costa Coffee Shop. Der Flughafen ist so gut wie ausgestorben um die Stunde, da mein internationales Jet-Set-Leben beginnt.
Als wir uns setzen, merke ich, dass Stephen irgendwas hat. Er wirkt nervös, zupft an seinem Uhrenarmband und greift ständig in die Tasche seines khakifarbenen Squall-Parkas von Lands’ End.
»Ist alles in Ordnung?«, frage ich.
»Alles bestens«, gibt er verdächtig rasch zurück.
»Ist es deswegen, weil ich fortgehe?«
Er nickt. »Ja«, quetscht er heraus.
Er nimmt meine Hand und streicht mir sacht über die Finger.
»Was ist es denn?« Ich habe so ein leises Gefühl, als wollte Stephen mir etwas sagen.
Er greift in die Tasche. »Ich habe nachgedacht, Alice. Über uns. Ich weiß, wir haben das, was uns betrifft, immer ganz formlos gehandhabt. Aber dass du nun für ein halbes Jahr weggehst, hat mich die Dinge überdenken lassen.« Er sieht mir tief in die Augen. »Es ist eine lange Trennungszeit, Alice.«
Ich weiß, was für ein Riesenschritt das für ihn ist. Von fürsorglicher Liebe zu ihm schier überwältigt, nehme ich seine freie Hand. »Stephen, mögen uns auch viele Meilen trennen, du wirst in Gedanken stets bei mir sein.« Ich sehe mich verstohlen um. Die Kulisse macht nicht viel her. Zwei Männer in vorgeschrittenem Alter räumen die letzten süßen Teilchen aus der Kuchenvitrine. Falls Stephen mir tatsächlich einen Antrag macht, werden wir uns zur Feier des Tages ein dänisches Plundergebäck teilen dürfen.
Er holt tief Luft. »Dein Jobangebot hat mich völlig überrumpelt. Es hat mich gezwungen, einige wesentliche Dinge neu zu werten. Und ich weiß, ich hätte dich schon eher fragen sollen - und du findest es sicher ein bisschen spät, um die Uhrzeit …«
Ich lege kokett den Kopf schief und schenke ihm ein einfältiges Lächeln. »Nein.«
»Aber ich habe eine Weile gebraucht, um Ordnung in den Wirrwarr zu bringen.« Er nimmt die Hand aus der Tasche und präsentiert - seinen Spiralblock mit einem sorgsam zusammengelegten Din-A-4-Blatt darin, das er vor meinen erstaunten Augen entfaltet. Hat er etwa ein Gedicht geschrieben?
Nein. Es ist eine Tabelle.
»Hör zu, Alice, es geht um deinen Beitrag zu den Nebenkosten für die Zeit, in der du nicht da bist.«
»Was?«
»Ich weiß. Es lässt sich natürlich anführen, dass du aufgrund physischer Abwesenheit nicht in die Pflicht genommen werden solltest. Aber das Gegenargument ist die einvernehmliche Abmachung, unter der wir zusammengezogen sind - dass wir alle Kosten teilen. Und ich für mein Teil habe in unserem Haushaltsplan nicht vorgesehen, für sämtliche Kosten allein aufzukommen, solange du nicht da bist.«
Mir fehlen die Worte.
Stephen fasst mein Schweigen als ein Zeichen auf fortzufahren, was er denn auch mit wachsendem Selbstbewusstsein tut. »Nun, ich räume ein, dass du während deiner Abwesenheit keine Ressourcen wie Strom, Gas und Wasser verbrauchen und keinen Nutzen aus der Entsorgung des Hausmülls ziehen wirst. Doch diese Dienstleistungen stehen für dich bereit, wenn du zurückkehrst! Deshalb halte ich es für die fairste Lösung, dass du die Hälfte der laufenden Kosten für jede Leistung der öffentlichen Versorgungsbetriebe übernimmst.«
»Für jede Leistung?«
»Plus die halben Fernsehgebühren natürlich.«
Wenn der verdammte Check-in schon offen hätte, würde ich auf der Stelle aufstehen und gehen. Nur noch ein paar Stunden, bevor ich einen Flug antrete - den zu überleben ich mir nur sehr geringe Chancen ausrechne - und irgendwo in der hinterletzten Pampa einen versoffenen Einsiedlerkrebs dazu überreden soll, wieder zu singen. Ich gebe zu, mir war schon vorher der Gedanke gekommen, dass meine Abreise Stephen möglicherweise auf die Sprünge helfen könnte, sich endlich zu erklären. Doch diese Hoffnungen sind nun zunichtegemacht - von einem Mann, dem sein Kontostand mehr am Herzen liegt als meine monatelange Abwesenheit.
»Du verdienst doch ein Vermögen«, sage ich verbittert.
Er sieht mich scheel an. »Ich verstehe nicht, inwiefern das eine Rolle spielt.«
»Solange ich fort bin, werde ich eine Menge Ausgaben haben.«
»Ich bedaure, dass du es so aufnimmst, Alice«, sagt er steif. »Ich versuche nur so vorzugehen, wie es recht und billig ist.«
»Für dich vielleicht. Aber was ist mit uns?« Jetzt bin ich wirklich sauer. »Manchmal glaube ich, dir liegt mehr am Geld als an mir.«
(Mit einem Mal kommt mir eine von Dr. Vaizeys Sitzungen wieder in den Sinn. Stephen hatte gerade erläutert, warum er es nicht über sich bringt, mehr als fünfundzwanzig Pfund für ein Weihnachtsgeschenk auszugeben. Dr. Vaizey nickte mitfühlend. Woraufhin Andy - nicht allzu gedämpft - sagte: »Na, Doc, wie ist es, gibt es so was wie eine Pille für gehirnamputierte Geizkrägen?«)
Stephen sagt das, was er bei solchen Gelegenheiten immer sagt. »Ich kann nichts dagegen machen.«
Mir reißt der Geduldsfaden. »Du könntest es immerhin versuchen!«
In dem Moment merke ich, dass wir beobachtet werden. Ich schaue zu den zwei Bediensteten von Costa Coffee, die betreten weggucken und sich weiter in fließendem Italienisch unterhalten.
»Ich glaube, du gehst jetzt besser«, sage ich und starre verdrossen in meine Tasse.
»Alice.«
Keine Reaktion meinerseits.
Okay, ich gebe es zu: Ich dachte wirklich und ehrlich, er würde mir einen Antrag machen. Und jetzt sitze ich da wie ein volltrotteliger, begossener Pudel. Nichts ist mehr so wie zuvor: Ich sehe Stephen in einem anderen Licht - genauer gesagt, dem kalten, grellen Neonlicht des Flughafens Gatwick -, und das ist nicht eben schmeichelhaft. All die Kleinigkeiten, die ich ihm immer nachgesehen habe, strömen jetzt wieder auf mich ein. Ich dachte, ich hätte sie samt und sonders, ein für alle Mal, unter »ferner liefen« verbucht. Aber sie sind immer noch da, abgelegt in der Archivabteilung meines Unterbewusstseins. Mein mit Solarenergie betriebener Taschenrechner zu Weihnachten. Meine Salatschleuder aus Hartplastik zum Geburtstag. Und, egal was Stephen dazu zu sagen hat, der Kronleuchter von John Lewis in unserem Schlafzimmer macht mit Energiesparlampen einfach nichts her.
Stephen wirkt betreten. »Hör zu. Ich schlage vor, wir schließen einen Kompromiss?«, sagt er, um einen jovialen Ton bemüht. »Ich zahle die Rechnungen, und du gleichst dann aus, wenn du wieder da bist.«
»Verpiss dich!«
Der Groll macht sich in meinen Gehirnwindungen breiter und breiter. Nie hat mir Stephen auch nur annähernd so was wie einen Ring gekauft. Seine Bestleistung auf dem Gebiet des Schmuckerwerbs war ein Paar Goldohrringe (neun Karat) mit Aquamarinen, die er mit den Treuepunkten seiner MasterCard erstanden hat. Und ja, verdammt noch mal, ich hätte nicht das Geringste gegen ein paar Rosen zum Valentinstag einzuwenden, auch wenn sie um die Zeit das Doppelte kosten.
Er steht auf. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so reagierst«, nölt er.
Und wartet ganz offensichtlich darauf, dass ich einknicke. Vergebens. Nach ein paar äußerst ungemütlichen Sekunden macht er sich davon.
Instinktiv greife ich nach meinem Koffer, um Stephen nachzulaufen und unseren Streit beizulegen. Ich stehe auf.
Und weiß genau, wie es weitergeht - immer dieselbe alte Leier. Stephen verspricht hoch und heilig, sich zu ändern, ich glaube ihm, und alles bleibt genauso wie gehabt.
Stephen bewegt sich Richtung Ausgang. Er hat sich noch nicht mal umgesehen.
Ich stehe da, meinen Koffer im Griff. Aber ich glaube, ich halte es nicht mehr länger aus, dass alles genauso bleibt wie gehabt. Spät, aber zweifelsfrei wird mir klar, dass mir für solche Sperenzchen die Zeit zu schade ist. Ich bin fünfunddreißig, was meine Chancen, noch rechtzeitig fürs Kinderkriegen zu heiraten, Tag für Tag mehr dahinschwinden lässt.
Jetzt steht Stephen vor den Glastüren. Und dreht sich endlich zu mir um. Er hebt eine Augenbraue, was wohl so viel heißen soll wie: Na, was ist, kommst du? Aber er macht keinen Schritt auf mich zu. Das hat geradezu etwas Symbolisches an sich. Er wirkt völlig baff, als ich mich wieder hinsetze und den Koffer loslasse. Ich bin selbst überrascht von mir. Und sehe zu, wie Stephen mit zusammengekniffenem Mund auf dem Absatz kehrtmacht und hinaus in die Nacht marschiert.
Mist. Vielleicht hatte Teresa mit ihrer Bemerkung anlässlich meines dreißigsten Geburtstags doch recht: »Hast du dir mal überlegt, ein paar von deinen Eizellen einfrieren zu lassen, Alice?«
Mit einem Schwapp hat die Realität mich eingeholt. Ich habe keinen Mann, kein Eigenheim und eigentlich auch keinen richtigen Job. Wie lange will ich mich noch vor der Erkenntnis drücken, dass Phoebe mich nach Ohio schickt, um mich aus dem Weg zu haben? Das Ganze ist nichts weiter als ein abgekartetes Spiel. Ihnen ist klar, dass Wyatt nie wieder einen Ton singen wird, und wenn ich unverrichteter Dinge zurückkehre, werde ich an die Luft gesetzt. Wenn ich es denn überhaupt bis zurück schaffe. Die Broschüre mit den nützlichen Hinweisen zum Umgang mit Alkoholikern hat mir glasige Augen beschert. Jedes Kapitel endet mit einer Fallstudie über einen real existierenden Alkoholiker.
Ich sehe es schon genau vor mir. Ich kreuze bei Wyatts maroder Farm auf, im Hof liegen rostige Einzelteile eines abgewrackten Traktors, zwischen denen Hühner herumpicken. Von der Tür blättert die Farbe ab. Ich hämmere vernehmlich dagegen, doch es rührt sich nichts. Behutsam versuche ich sie aufzudrücken, sie ist unverschlossen, knarzt aber und sperrt sich, weil dahinter Tonnen von Post, Gerichtsbescheiden und Wurfsendungen auf dem Boden liegen. Vorsichtig taste ich mich weiter ins Dunkel, folge dem Schnarchen, das aus dem Wohnzimmer zu mir dringt. Wyatt liegt längelang auf dem Sofa, eine Gitarre und diverse leere Flaschen Jack Daniel’s neben sich auf dem Boden. Auf dem Plattenteller dreht sich leise klickend eine LP. Ich gehe hin und lüfte die Nadel. Es ist Moonshine, das hört er sich jeden Abend an, wenn er versucht, die Erinnerungen an bessere Zeiten im Alkohol zu ertränken. Ich rüttle ihn wach. Erst da sehe ich die Schrotflinte neben ihm. »Hier in den USA schießen wir Eindringlinge über den Haufen«, knurrt er. Kawumm! Ein weißes Licht, ich schwebe hoch über der Erde, halte Ausschau und sehe Teresa an meinem Grab stehen. »Und, wer ist jetzt wohl Daddys Liebling, Alice?«
Ein schwerer italienischer Akzent reißt mich aus meinen mörderisch-tragischen Country-Star-Tagträumereien. »Sie fertig mit die Tasse?«
Einer der beiden bejahrten Bediensteten von Costa Coffee zeigt auf meinen Pappbecher. Stephen hat seinen auf dem Weg nach draußen natürlich mitgenommen. Ich nicke.
Als er nach dem Becher greift, sehe ich sein Namensschild: Tony.
»Sie sehen traurig aus, Lady«, sagt er, während er den Tisch abwischt.
Ach was soll’s. »Ich habe gerade mit meinem Freund Schluss gemacht, mit meinem Job sieht’s auch übel aus, und in acht Stunden soll ich ein Flugzeug besteigen und habe Mordsschiss vorm Fliegen.« Meine Stimme bricht, und ich muss mir blitzfix die Nase putzen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Tony scheint das nicht im Mindesten aus der Fassung zu bringen. Er sieht mich so verständnisvoll an, als bekäme er dergleichen tagtäglich zu hören. »Warum Sie machen Schluss mit Freund?«
»Weil er ein gehirnamputierter Geizkragen ist, dem mehr am Geld liegt als an mir.«
Tony sieht mich entsetzt an. »Freund ist Idiot! Hat nicht verdient schöne Dame.«
Da hat er recht. Tony ist zwar schon gut und gern sechzig, aber so ein Kompliment habe ich gerade bitter nötig.
Er lehnt sich an seinen Putzwagen. »Wenn ich kenne ganz besondere Dame wie Sie, ich sie nie lassen außer Gesicht.« Er kommt in Schwung. »Vielleicht das alles nur zu gute Zweck. Vielleicht Sie lernen kennen nette Mann in Flugzeug. Gute Mann, der sich kümmert um Sie.« Tony seufzt tief auf. »Hörren Sie auf mich. Vergessen Sie Ihre Freund.« Er klopft sich auf die Brustregion. »Iste klein mit Geld, iste klein mit sein Herz.«
»Sie meinen also, ich sollte fliegen?«
»Flugzeug nicht stürzen ab«, sagt er zuversichtlich. »Und wenne doch, dann soll sein.«
Er sieht, was ich für ein Gesicht mache. »Warten Sie. Ich bringe Ihnen Pannacotta. Nix kosten! Iste nur bisschen alt.« Sein Arm beschreibt eine schwungvolle Geste. »Dann Sie sehen sich um in die Läden, kaufen sich was Schönes.«
Er marschiert hinter den Tresen. »Bringe ich Ihnen auch Kaffee«, ruft er. »Auf die Haus.«
Ich lehne mich zurück. Wie oft sind es doch völlig Fremde, deren Mitgefühl uns am meisten zu Herzen geht. Ich bin zutiefst gerührt. Dann wandern meine Gedanken, wie immer, wenn ich mich mutterseelenallein fühle, zu Mum, die so viel vor uns verborgen gehalten und so viel nur angedeutet hat, was mir erst Jahre später klar wurde. »Geh hinaus in die Welt, Alice. Solange du noch jung bist.« Jetzt begreife ich, was sie damals von mir wollte: das zu tun, wozu sie nicht gekommen ist - und nicht etwa abzuwarten, in der Annahme, es bliebe ja noch jede Menge Zeit, weil das für den einen oder anderen eben nicht zutrifft.
Ich verspüre den unbändigen Wunsch, sie jetzt hier bei mir zu haben, schließe die Augen und versuche mir ihr Gesicht vorzustellen.
Nach ein paar Sekunden ist sie mir wieder gegenwärtig. Doch was ich gleich darauf höre, bringt mich total aus dem Gleichgewicht: Ein paar Takte Musik aus dem Lautsprechersystem des Flughafens. Ein Song, den jeder kennt, dessen letzte Refrainzeile jeder mitgrölt. Der bei jeder Hochzeit, jeder Geburtstagsdisco und jeder Veranstaltung gespielt wird, bei der der DJ sonst nur noch mit »Dancing Queen« alle aufs Parkett bringen kann.
Take a little trip in the moonlit dew
Down by the creek
Thinkin’ it through
Maybe come and see you
Maybe come and see you
Hell, I’ve got the Moonshine Blues
Es ist »Moonshine« von Wyatt Brown.
Ich fliege nach Amerika.
Zuckerguss und Liebeslieder Roman
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