8. KAPITEL
Am Freitag um fünf finde ich mich in Phoebes Büro
zu dem ein, was Brent als mein Briefing für Führungskräfte
bezeichnet hat. Binnen weniger als einer Woche ist Grahams Büro im
japanischen Stil umgemodelt worden. Ich begucke mir ausgiebig die
Wandschirme aus Papier, die Drucke mit Berglandschaften und die
überdimensionalen Topfpflanzen, während Phoebe ihre E-Mails checkt.
Außerdem sind jede Menge Fotos von Phoebe zu sehen - beim
Skifahren, beim Reiten, beim Handschlag mit dem Präsidenten; und
der Artikel aus Vanity Fair hängt gerahmt
an der Wand.
(Vielleicht, so überlege ich, ist Vanity Fair ja geneigt, ein Feature über »Die Top
Ten der Auslandsbriten, die Manhattan im Sturm erobern« in Auftrag
zu geben. »Sie sind von Natur aus fotogen, Alice«, bemerkt Annie
Leibovitz beiläufig.)
Phoebe ist fertig mit ihren E-Mails, greift sich
ein Bündel Papiere von ihrem Schreibtisch und macht sich daran, sie
in aller Ruhe durchzusehen. Mittlerweile sind mir die japanischen
Bergszenerien im Nebel schon wohlvertraut, weshalb ich verstohlen
meine Aufmerksamkeit Phoebe selbst zuwende. Sie trägt ein eng
anliegendes schwarzes Kostüm von Chanel (das weiß ich, weil es die
goldenen Chanel-Knöpfe hat) und darunter ein schlichtes, rotes
Seiden-T-Shirt. Teresa würde Phoebe mögen. Sie kleidet sich ein
bisschen so wie Phoebe, bloß dass ihre Klamotten von TK Maxx sind.
Sie mag zusammenpassende Hosen und Jacketts, Blusen mit
Seideneffekt und hohe Absätze, aber keine Stilettos, die findet sie
nuttig. Ich riskiere einen Blick auf Phoebes Füße. Sie trägt
schwarze Ballerinas. Mit denen habe ich es auch mal probiert, aber
sie sind mir dauernd von den Füßen gefallen.
Schließlich schaut Phoebe von ihren Akten auf und
dreht sich auf ihrem braunen Wildlederstuhl, der mit seinen
beachtlichen Ausmaßen Grahams schwarzledernen mehr als ersetzt, zu
mir hin.
Ich beschließe, die Initiative zu ergreifen. »Ich
wollte sagen, wie dankbar ich für die Chance bin, nach New York zu
gehen.«
Phoebe glotzt mich einen Augenblick lang an;
vielleicht habe ich sie mit meinem neu gewonnenen Selbstvertrauen
auf dem falschen Fuß erwischt.
»Und ich möchte mich bedanken«, fahre ich
zielstrebig fort.
Ihre Miene hellt sich auf. »Nicht der Rede
wert.«
»Und ich werde Sie nicht enttäuschen.«
Sie schenkt mir ein halbes Lächeln. »Alice, wir
würden Sie nicht hinschicken, wenn wir nicht der Meinung wären,
dass Sie die Richtige für den Job sind.«
Sie schlägt die Akte wieder auf, entnimmt ihr ein
paar Blätter und schiebt sie mir quer über den Schreibtisch zu.
»Das ist Ihr Arbeitsvertrag für die USA. Er gilt sechs Monate. Und
das sind die Unterlagen zu Wyatt Brown. Mit dem sollen Sie sich als
Erstes beschäftigen. Er hatte einen weiteren Rückfall, aber ich bin
mir sicher, dass er jetzt wieder fit wie ein Turnschuh ist.«
Ich spüre ein leises Unbehagen. Rückfall? Ist er
am Ende in einer von diesen Luxus-Reha-Einrichtungen? »Und wo
werden wir arbeiten?«
»Bei ihm zu Hause«, sagt sie, als verstünde sich
das von selbst.
Ich entspanne mich wieder. Eine feudale
Rockstar-Bude mit Ausblick auf den Central Park, was sonst, in
einem von diesen Apartmentgebäuden mit Portiers in Livree, rotem
Teppich und Markisenüberdachung bis zur Straße, dank derer man
trockenen Fußes aus der Stretchlimousine ins Haus kommt. Würde sich
auch gut für meine Tea-Time-Stündchen mit Annie Leibovitz machen.
»Sie haben mir so viel an europäischer Kultur vermittelt, Alice.
Sie würden es doch nicht als Kränkung auffassen, wenn ich Sie als
meine Muse bezeichne?«
Phoebe ergreift erneut das Wort. »Am dreißigsten
September erlischt Wyatts Vertrag mit uns, Alice. Das heißt, Sie
sollten ein klein bisschen Druck auf ihn ausüben, damit er uns so
bald wie möglich ein paar Demotapes zukommen lässt.«
Gar nicht mal so unwahrscheinlich, dass rund um
Wyatts Domizil noch ein paar andere halbwegs berühmte Menschen
siedeln. Vielleicht könnte ich sie zu einer formlosen Jamsession
zusammentreiben und ihn so wieder ins Aufnahmestudio bringen. Paul
Simon am Keyboard, Paul McCartney an der Gitarre, und Robert De
Niro bedient das Tonbandgerät.
Phoebe erhebt sich und macht damit klar, dass
unsere Besprechung beendet ist. »Ich bin mir sicher, Sie werden auf
einen Berg neuer Ideen verfallen«, sagt sie. Irgendwas vor dem
Fenster lässt ihren Blick abschweifen. Eine Taube. Sie wendet sich
wieder mir zu. »Dann bleibt mir nur noch, Ihnen viel Glück zu
wünschen, Alice.« Sie deutet zur Tür. »Brent hat Ihr Ticket und die
Reiseunterlagen.«
Ich bin schier überwältigt von Dankbarkeit, dass
sie das Risiko auf sich nimmt, jemanden, den sie kaum kennt, in
die Firmenzentrale zu entsenden. Um ein Haar breche ich in Tränen
aus, als sie die Tür öffnet und mich hinauskomplimentiert. »Vielen,
vielen Dank!«
Die Tür schließt sich hinter mir, und damit wird
ein neues, bedeutsames Kapitel in meinem Leben aufgeschlagen.
Freitagnachmittag - London. Montagmorgen - New York. Darüber hinaus
spüre ich eine telepathische Verbindung zu den Millionen von
Einwanderern, die vor mir diesen Weg gegangen sind, meinen
Reisegefährten in die Neue Welt. Auch ich werde mir ein neues Leben
an jenen fernen Küsten zimmern, bevor ich wieder den Heimweg
antrete.
Unten in meinem Büro ist Brent eifrig damit
zugange, die Kartons mit meinen persönlichen Dingen im Flur zu
stapeln.
»Ich komme wegen meiner Tickets. Meiner Tickets
nach New York«, füge ich mit
pseudoamerikanischem Akzent hinzu und kann der Versuchung nicht
widerstehen, mit hochgereckten Armen einen kleinen Shuffle
hinzulegen.
»Nach New York?«, sagt Brent, dreht eine Pirouette
und kriegt mein Tänzchen so eben noch mit. Nach ein paar Sekunden
hat er sich wieder erholt. »Ach du meine Güte, nicht doch. Ihr
Stützpunkt ist New York. Aber Ihr Flug geht nach Ohio.« Er nimmt ein Flugticket vom
Schreibtisch. »Genauer gesagt, in die Kleinstadt Barnsley, Ohio. Wo
Wyatt Brown wohnt.«
Glucksend reicht er mir das Ticket.
»Ich glaube, er ist da seit Jahren nicht mehr
herausgekommen.«