15. KAPITEL
»Ich möchte doch lieber in die Frühstückspension«, sage ich bestimmt. Wyatt und ich stehen vor dem Blue Ribbon in der Eiseskälte.
Er sieht mich an. »Tja. Aber ich habe meine Anweisungen.«
»Sie meinen Mr. Horner«, sage ich.
»So läuft es hier eben. Wir halten die Gastfreundschaft in Ehren«, sagt er kalt.
Wyatt mustert meinen Ford Focus, das kleinste Auto auf dem Platz. »Wir kriegen Bodenfrost. Nehmen wir lieber den Chevy. Sie können sich Ihr Auto holen, wenn der Schnee weggetaut ist.«
Bevor ich Einwände erheben kann, holt er meinen Koffer aus dem Auto und wirft ihn auf die Ladefläche des Pick-ups, wo er in einem Haufen aus Schnee und Heuballen landet.
»Entschuldigung …«, will ich protestieren, aber er ist schon auf der Fahrerseite und überlässt es mir, die Beifahrertür zu öffnen und einzusteigen. Der Labrador liegt auf dem Rücksitz und versucht sich, nachdem ich Platz genommen habe, auf meinen Schoß zu kuscheln. Wyatt schiebt ihn sanft wieder nach hinten.
»Ab mit dir, Travis. Er ist der Meinung, dass Sie auf seinem Platz sitzen«, sagt Wyatt; nach seinem Ton zu schließen sieht Wyatt das offenbar genauso.
Er lässt den Motor an. Offensichtlich ist ihm nicht nach Plaudern zumute, denn er schaltet das Radio ein, das auf einen Sender namens Scott County Country eingestellt ist. Der Ansager verspricht uns »vierzig Minuten Country nonstop - neue Hits und all eure alten Lieblinge ohne blöde Zwischenkommentare«. Travis stupst mich an der Schulter, und ich kraule ihn hinter den Ohren. Wie es wohl ist, wenn man seine eigene Stimme im Radio hört? Beinahe hätte ich Wyatt danach gefragt, aber vermutlich habe ich für heute genug geredet. Ich muss ihm nicht auch noch mit dämlichen Fragen kommen, die man ihm schon Millionen Mal gestellt hat.
Außerdem ist er voll darauf konzentriert, sich mit seiner Karre durch den Schnee zu pflügen. Mir ist aufgefallen, dass die meisten Leute hier Pick-ups haben, außer den alten Damen, die fahren große alte Cadillacs, und den Kindern, die in knallgelben Schulbussen durch die Gegend gondeln.
Der Mann im Radio singt davon, wie er als Landarbeiter für eine junge Witwe arbeitet und was nach Eintritt der Dunkelheit passiert, wenn der Donner grollt. Aber alles sehr dezent formuliert.
Wir biegen in die Zufahrt ein, über die ich nur ein paar Stunden zuvor davongefahren bin. Vor uns kämpft sich eine kleine Gestalt durch den Schnee.
»Casey«, sagt Wyatt. Er hält neben ihm an und kurbelt das Fenster herunter. »Hinein mit dir.«
Casey steigt hinten ein. »Das ist Alice«, sagt Wyatt. »Sie kommt aus England. Sie bleibt eine Nacht.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Ma’am«, sagt Casey und zieht sich einen riesigen Lederhandschuh aus, um mir die Hand zu schütteln. Ein süßes Kerlchen, ungefähr zwölf, schätze ich, mit grünen Augen und Sommersprossen, bis zu den Augäpfeln in einen handgestrickten roten Schal und einen Mantel eingemummelt, der ihm zwei Nummern zu groß ist.
»In England gibt’s friesische Rinder, stimmt’s?«, fragt Casey. »Und Jerseyrinder. Ich hab Bilder davon gesehen.« Und dann legt er los. »Meine Kuh steht bei Wyatt in der Scheune. Sie heißt Mary Lou. Ich wohne auf der Nachbarfarm. Wir hatten mal eine Riesenherde, aber die ist verkauft. Mein Opa hat das beste Maislabyrinth in Ohio.«
Ich versuche tapfer, alle Informationen zu verarbeiten.
»Mary Lou hat schon Preise gewonnen«, sagt Casey stolz. »Letztes Jahr war sie beim Scott County Fair die beste Milchkuh. Mary Lou mag solche Wettbewerbe, sie ist Spitze im Ring. Macht ihr echt Spaß. Nächstes Jahr könnte sie sogar beim Ohio State Fair mitmachen.«
Wir halten vor Wyatts Hof. »Wollen Sie sich Mary Lou gleich mal angucken?«, fragt Casey atemlos.
»Später«, verfügt Wyatt.
Daraufhin hüpft Casey raus und steuert auf die Scheune zu.
»Es ist frisches Stroh da«, ruft Wyatt ihm hinterher. »Hab ich heute Morgen abgeholt.«
»Danke«, brüllt Casey. »Bis später, Miss Alice«, plärrt er über die Schulter hinweg und ist schon fast bei der rot gestrichenen Scheune angelangt.
Wyatt nimmt meinen Koffer, und wir stapfen durch den Schnee zu dem Gästehäuschen.
»Ist schon eine Weile her, seit hier jemand übernachtet hat«, sagt Wyatt, als er die Tür aufstößt.
Wir betreten ein hübsches Wohnzimmer mit zwei kleinen rot karierten Sofas, ein paar Webteppichen und einem kleinen Kamin, neben dem ein leerer Korb für Feuerholz steht. Mir sticht sofort ins Auge, dass sämtliche antiken Eichenmöbel mit einer Staubschicht überzogen sind. Ein großes Spinnennetz rankt sich um die Messingleuchte an der Decke, und bei näherem Hinsehen entdecke ich Aschereste im Kamin.
»Machen Sie hier denn nie sauber?«, rutscht es mir heraus.
»Hier wohnt ja niemand mehr«, gibt Wyatt zurück; zum ersten Mal klingt er mir gegenüber so, als müsse er sich verteidigen. »Braucht nur ein bisschen abgestaubt zu werden.«
»Hier ist eine Grundreinigung nötig«, erwidere ich schroff. »Ich brauche Kehrschaufel und Besen, Staubtücher, Allzweckpolitur und jede Menge Desinfektionsspray«, diktiere ich in Anbetracht der Aufgabe, die vor mir liegt. Eine hölzerne Wendeltreppe führt zu einer offenen Galerie hinauf, die offenbar als Schlafraum dient: Auf einem Doppelbett mit Holzrahmen liegt eine rotweißblaue Patchworkdecke. Aber es ist dies nicht der Zeitpunkt, um die Innenausstattung zu bewundern. »Plus frisches Bettzeug und feuchte Reinigungstücher von Windolene für die Fenster.«
»Tun’s die von Windex auch?«, fragt Wyatt, leicht perplex.
»Solange es ein Markenprodukt ist«, sage ich spitz.
»Sonst noch etwas?«, erkundigt er sich in sarkastischem Ton.
»Einen Bodenwischer, von Swiffer, wenn Sie so was dahaben.«
Er macht den Mund auf und wieder zu.
Ich begebe mich durch den Bogengang aus rohem Mauerwerk zur Küche: ein völlig eingestaubter Kiefernholztisch, Arbeitsflächen und eine Spüle, die seit Jahren nicht mehr ordentlich gescheuert worden ist.
»Ich lege gleich los«, sage ich, ziehe meinen Parka aus und rolle die Ärmel hoch, was ich sofort bereue, weil es hier drinnen saukalt ist.
Zum Glück fummelt Wyatt schon an dem Thermostat herum, und nach ein paar Sekunden ist das willkommene Geräusch zu hören, mit der die Heizung zum Leben erwacht.
Wyatt wirkt zögerlich. »Sie müssen hier aber wirklich nicht sauber machen.« Holla, das hört sich fast ein bisschen nach einer Entschuldigung an.
»Das glaube ich aber doch«, sage ich knapp. »Wenn Sie mir nur die Putzutensilien holen würden.«
»Ja richtig.« Er geht zur Tür.
»Und vergessen Sie den Staubsauger nicht«, rufe ich ihm hinterher.
Als Wyatt zurückkommt, bin ich schon im Wohnzimmer zugange. Sinnvoller wäre es, mit der Küche anzufangen, aber ich warte noch auf heißes Wasser. Derweil schüttle ich die Läufer gründlich aus und bündle alte Zeitungen und Zeitschriften.
»Ich glaube, da ist alles dabei, was Sie haben wollten«, sagt er und stellt eine Kiste sowie das Spitzenmodell eines Staubsaugers Marke Dyson auf dem Boden ab. Wahnsinn! So einen wollte ich immer schon mal ausprobieren.
Ich schaue in die Kiste. Ist es zu fassen! Sie haben Allzweckpolitur von Pledge in den USA. Und Swiffers. Das wird ja immer schöner. Die Allzweckpolitur hat meine Lieblingsduftnote, Orange. Ich mache mich ans Werk, sämtliche Möbel abzustauben und einzusprühen. O ja, ich fühle mich wie ein neuer Mensch. Wyatt verschwindet zur Tür hinaus, vermutlich auf Nimmerwiedersehen. Für den Rest meines kurzen Aufenthalts hier wird er mir tunlichst aus dem Weg gehen. Mit ein bisschen Glück kann ich mich morgen früh unauffällig verdrücken.
Als ich mit den Fenstern fertig bin, fühle ich mich schon halbwegs entspannt. Ich werde mich hier ganz gemütlich mit meinem BlackBerry verkriechen. Dad hat schon in ein paar E-Mails angefragt, »wie es sich jenseits vom großen Teich denn so anlässt«. Weniger erfreulich ist, dass auf meine E-Mail an das New Yorker Hauptquartier von Carmichael Music, in der ich von meiner Bredouille in Barnsley berichtet habe, Folgendes zurückkam: »Dies ist eine automatisch generierte E-Mail. Bitte antworten Sie nicht auf diese Nachricht, da die Antworten nicht weitergeleitet werden. Für Rückfragen dürfen wir Sie auf die Rubrik FAQ unserer Website verweisen.« Ich werde Brent kontaktieren und ihn fragen müssen, wieso um Himmels willen die E-Mail-Adresse, die er mir gegeben hat, nicht funktioniert.
Zehn Minuten später ist Wyatt wieder zur Stelle, mit einem großen Korb Feuerholz.
»Sie brauchen ein Kaminfeuer hier drin«, sagt er kurz angebunden. »So heizt es sich schneller auf.« Er macht sich kundig ans Werk und schichtet die großen Scheite über dem Bruchholz zum Anfeuern. Unterdessen steige ich auf einen Stuhl und fege die ekligen Spinnweben von der Decke. Wir arbeiten schweigend Seite an Seite, aber die Stille macht mir nichts aus, weil ich voll zufrieden mit meiner Tätigkeit bin.
Ich wechsle in die Küche und bringe das Desinfektionsspray zum Einsatz. Zum Glück wird das Wasser endlich warm.
Nach ein paar Minuten höre ich Wyatt fluchen. »Mistfeuer. Das Holz ist feucht.«
»Können Sie es denn trotzdem in Gang bringen?«, frage ich höflichkeitshalber.
»Klar«, kommt es etwas pikiert zurück. Völlig verständlich. Wer in der Gegend hier kein Feuer entzünden kann, gilt nicht als echter Mann. Wahrscheinlich kann er auch noch mit links eine Viehherde zusammentreiben und einen Baum fällen.
Ich poliere auf allen vieren die Beine der Küchenstühle und begutachte den Boden, als Wyatt sich erneut vernehmen lässt. »So. Jetzt brennt es.«
Unhöflich, nicht hinzugehen und sich das anzuschauen.
Ein ausnehmend schönes Kaminfeuer. Die dicken Scheite haben sich eben entzündet und verströmen den gleichen Duft von Apfelholz wie in Wyatts Wohnhaus. Der Wind pfeift rings um das Cottage, aber mir ist warm und wohlig und - dank meines gigantischen Frühstücks und der Großputzaktion - auch ein bisschen schläfrig zumute. Allmählich verstehe ich, warum manche Menschen sich dafür entscheiden, hier und nicht in irgendeinem piekfeinen Apartment in New York zu leben.
In der Ferne lässt sich eine Kuh vernehmen.
»Das macht sie immer, wenn Casey sie striegelt«, sagt Wyatt und verschiebt ein Holzscheit um einen Zentimeter.
»Er striegelt die Kuh?«
»Genau. Und fettet ihre Hufe ein und nimmt sich jeden Tag Zeit für sie.«
»Fehlt ihr denn die restliche Herde gar nicht?«
»Sie hat ja noch Billy.«
»Billy?«
»Den Ziegenbock«, sagt er, als verstünde sich das von selbst. »Caseys Großvater musste die restliche Herde verkaufen. Eine reichlich traurige Geschichte. Caseys Eltern sind vor ein paar Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem geht es mit der Farm bergab. Sein Großvater gibt sich alle Mühe, aber er kann sie allein nicht halten.«
Wyatt verliert kein Wort darüber, dass er Mary Lou in Pflege genommen hat. Ich gebe zu, das gefällt mir an ihm. Stephen und ich tun rein gar nichts für unsere Nachbarn. Von den meisten wissen wir nicht mal, wie sie heißen.
Das Feuer lodert jetzt kräftig, und Wyatt kommt von den Knien hoch. Einen Moment lang herrscht unbehagliches Schweigen. Ich verstehe schon, was ihm Bauchgrimmen bereitet: Er beherbergt eine Frau, die ihm abwechselnd bittere Kränkungen an den Kopf wirft oder sich wie eine Irre aufführt und offensichtlich an irgendeiner Zwangsstörung leidet.
Er hüstelt. »Ich zeige Ihnen noch kurz, wie alles funktioniert. Es gibt WLAN hier.« Dann erklärt er mir die Fernbedienung für den Fernseher und die Stereoanlage (von Bose), neben der ein Riesenstapel CDs liegt. Der ebenfalls abgestaubt gehört, aber der Swiffer wird damit kurzen Prozess machen. Ich schaue den Haufen kurz durch: Bob Marley, Jimi Hendrix, Stevie Nicks, BB King und - meiner Vermutung nach, die Namen sagen mir alle nichts - jede Menge Country-Stars. Ich denke an Stephens und meine in unserem IKEA-Ständer alphabetisch geordnete CD-Sammlung, in der vor allem James Blunt, Coldplay, Enya und David Gray gut vertreten sind. Bei Musik mit zu vielen Bässen bekommt Stephen Migräne.
»Ich bin heute Abend unterwegs«, sagt Wyatt. »Soll ich Rachel fragen, ob sie Ihnen Gesellschaft leisten möchte?«
»Ich bin hundemüde«, gebe ich ehrlich zu. »Ich glaube, ich habe noch ein bisschen mit der Zeitumstellung zu kämpfen.«
Ob Wyatt sich wohl mit Heidi trifft, der Blondine aus dem Diner?
»Die Nebenstraßen werden vermutlich geräumt sein«, verkündet er weiter. »Die Streufahrzeuge und die Schneepflüge sind die ganze Nacht hindurch im Einsatz.« Er zögert kurz. »Laut Wetterbericht ist südlich von hier mit weiteren Schneefällen zu rechnen. Kann sein, dass es auf der Interstate zum Flughafen länger dauert.«
Er geht zur Tür. »Ich stelle Ihnen eine Kiste Lebensmittel vor die Tür.«
Großer Gott, er klang, wie soll ich sagen, andeutungsweise freundlich.
Und dann ist er weg und lässt mich ungestört sinnieren, wie lange genau ich wohl noch in diesem Kuhkaff am Ende der Welt festsitzen werde.
Zuckerguss und Liebeslieder Roman
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