37. KAPITEL
Stephen hat mir eine E-Mail geschickt, aus der
hervorgeht, dass er heil zu Hause angekommen ist. Er hat
buchstäblich im Flughafen von Columbus übernachtet, verteilt auf
drei Sitzen bei seinem Flugsteig. Im Übrigen wies er spitz darauf
hin, dass er sich auf ein paar Schlückchen Wasser aus dem
öffentlichen Trinkbrunnen beschränkt und lediglich ein
Blaubeermuffin von Starbucks gegessen habe. Seither habe ich nichts
mehr von ihm gehört.
Noch zwei Tage bis zum Benefizkonzert für Mary Lou
- und noch mal zwei Tage, dann läuft mein Visum ab. Wie jeden
Morgen sitze ich am Küchentisch und mache Häkchen
auf meiner WICHTIG-Liste, die trotzdem nie kürzer wird. Heute sind
sage und schreibe drei Seiten voller Posten abzuhaken.
Keine Ahnung, was ich ohne Gerry angefangen hätte.
Seit er weiß, dass ich mit Stephen Schluss gemacht habe, ist er
fürsorglicher denn je. In der vorigen Woche ist er sogar mit mir
Kleider einkaufen gegangen. »Letzte Woche hatte ich einen
Supergewinn - ich meine, einen Supergeschäftsabschluss«, sagte er
mit einem prüfenden Blick auf meinen Schlabberlook aus Shorts und
T-Shirt. »Ich wüsste nicht, worauf ich ihn lieber verwenden
würde.«
Zwischenzeitlich kreuzt er Tag für Tag pünktlich
um zehn Uhr vormittags bei mir im Cottage auf.
»Die gute Nachricht ist«, eröffne ich ihm an
diesem Vormittag, »dass wir schon zweihundertfünfzig
Eintrittskarten verkauft haben. Und Heidi wird mit ihrer Tombola
noch mal so viel einnehmen. Die schlechte Nachricht ist, dass das
Konzert selbst ein absoluter Mega-GAU wird.«
»Hmm«, macht Gerry nachdenklich.
»Zweihundertfünfzig Eintrittskarten. Ich dachte, es würde sich eher
im kleinen Rahmen halten.« Komisch, er klingt fast ein bisschen
vergrätzt. »Das ist doch bestimmt mehr Geld, als ihr für Mary Lou
braucht?«
»O ja. Die Tierarztrechnungen können wir allein
schon von den Einnahmen aus dem Getränke- und Imbissverkauf
begleichen. Dann bleibt uns immer noch ein Riesenüberschuss für
Caseys Opa. Den kann er gut für die Farm gebrauchen. Sofern ich ihn
nicht für die Arztrechnungen in Anspruch nehmen muss, die fällig
werden, sobald die zornige Zuschauermeute sich auf mich
stürzt.«
Bisher ist es mir nicht gelungen, irgendwelche
weiteren Nummern aufzutreiben, bis auf den Barnsleyer
Kindergartenchor,
der eventuell ein Lied singen wird, sofern der Auftritt nicht mit
ihrer Schlafenszeit kollidiert.
Gerry geht auf meine letzte Bemerkung nicht ein.
»Aber das Geld ist nur für Mary Lou?«
»Nein. Stephen hat vor seiner Abreise noch den
Entwurf für die Stiftung aufgesetzt, und zwar so, dass das
verfügbare Kapital zugunsten von Mary Lou und/oder jedem anderen
Tier auf der Farm verwendet werden kann. Er ist absolut
wasserdicht.«
(Stephen war heilfroh, die Spritzgusstülle für ein
Weilchen beiseitelegen zu können und sich zur Abwechslung mit
Fragen zur Vermögensverwaltung im Agrarrecht zu beschäftigen. »Sehr
entspannend«, sagte er und schlug eine neue Seite seines
Din-A-4-Blocks auf.)
»Caseys Opa kann das Geld für alles verwenden, was
mit der Farm zusammenhängt«, fahre ich fort. »Ich vermute, er hat
auch noch andere Rechnungen zu bezahlen.«
»Ich verstehe«, sagt Gerry gedehnt. Er lehnt sich
zurück. »An deiner Stelle würde ich mich vorsehen, Alice.«
»Mich vorsehen?«
»Das hier ist ein Dorf. Wenn Caseys Opa plötzlich
zu einem Vermögen kommt, sehe ich schon manche die Augenbrauen
hochziehen. Die Leute könnten neidisch werden. Er verdient ja auch
immer noch ganz hübsch mit seinem Maislabyrinth, vergiss das
nicht.«
»Aha.« Irgendwie will es mir nicht recht
einleuchten, dass ein Maislabyrinth ein einträgliches Geschäft sein
soll. Ich lutsche am Ende meines Tintenkugelschreibers herum. »An
dem, was die Leute so reden, kann ich wohl nicht viel
ändern.«
»Sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt habe.« Er
steht auf. Ohne seinen Doughnut angerührt zu haben.
»Du gehst doch nicht schon?«, frage ich erstaunt.
Normalerweise fängt er um die Zeit an, mein Knie zu
begrapschen.
»Doch«, sagt er knapp. »Hab Geschäftliches zu
erledigen. Bis später, Alice.«
Und weg ist er, ohne jeden verbalen Versuch, mich
ins Bett zu kriegen - das war noch nie da. Vielleicht hat er den
Kopf voll mit einem seiner großen Geschäftsabschlüsse. Ich widme
mich wieder meiner Liste für die letzte Planungsbesprechung des
Organisationskomitees, die heute Abend in der Turnhalle der
Highschool stattfindet. Bei dieser Besprechung gilt es sämtliche
wichtigen Entscheidungen und offenen Fragen abzuklären, weswegen
ich alle daran erinnert habe, dass Anwesenheitspflicht herrscht.
Wyatt habe ich natürlich außen vor gelassen - tief in meinem
Inneren bin ich wegen seiner Bemerkung über das Turnhallen-Karaoke
immer noch ein bisschen eingeschnappt, auch wenn er damit offenbar
geradezu gespenstisch richtiglag.
Ich finde mich frühzeitig bei der Turnhalle ein.
Heidi und Madison sind schon da, ganz ins Gespräch vertieft, und
verstummen bei meinem Anblick.
»Nur zu«, macht Heidi Madison Mut.
»Ich finde, ich sollte am Samstag meine eigenen
Songs singen«, sagt Madison und schiebt die Unterlippe vor.
Ich verdrehe die Augen. »Das haben wir doch schon
besprochen, Madison. Die Leute wollen Songs, zu denen sie tanzen
können.«
»Eine oder zwei von Madisons Kompositionen ließen
sich sicher unterbringen«, schlägt Heidi vor.
»Ach, na gut.« Ich habe keine Zeit für einen
weiteren Schlagabtausch mit Madison, die über Nacht von einer
Oberschülerin mit Rosinen im Kopf zur Diva mutiert ist.
Mr. Horner ist mit seinem Akkordeon eingetroffen, gefolgt von
Brandy, die ihr Filofax fest im Griff hat, und Dolores, die
schleppenden Schrittes die Nachhut bildet.
»Ich soll dir von den Jungs von der
Straßeninspektion sagen, dass sie nicht kommen können«, schnauft
sie.
»Wieso nicht?«
»Heute ist Donnerstag. Da ist abends in der
Barnsley Tavern doch immer Karaoke«, sagt Dolores, als verstünde
sich das von selbst.
»Oh, sollten wir das Treffen dann vielleicht
verschieben?«, fragt Mr. Horner besorgt.
»Hmmm, sollten wir vielleicht«, stimmt Heidi ihm
zu.
»Nein! Es sind nur noch zwei Tage bis zum
Konzert«, fahre ich gereizt dazwischen. »Wir müssen heute Abend
alles fertig besprechen.«
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Alice?«, fragt
Heidi betulich. »Sie wirken ein bisschen angespannt.«
Ich bin drauf und dran, sie anzubrüllen, dass ich,
ja, natürlich, verdammt angespannt bin, fange mich aber im letzten
Moment und mache meine Atemübungen. Konzentrieren Sie sich auf
einen positiven Aspekt, weist Dr. Vaizey mich von seinem
Ledersessel aus an. Ja! Zumindest tragen alle außer Heidi unser
T-Shirt. Es ist weiß mit schwarzen Klecksen, die friesische Rinder
darstellen sollen, und auf der Rückseite steht »Konzert für die
Kuh« auf einem braunen Kuhfladen.
»Für wie viele soll ich denn Essen vorbereiten?«,
fragt Dolores und lässt sich schwerfällig auf einen Stuhl
plumpsen.
»Bestimmt keine Unmengen«, fährt Heidi dazwischen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass da viele Leute hingehen
wollen.«
»Nun ja«, sage ich süffisant. »Sheriff Billy hat
bisher schon zweihundertfünfzig Eintrittskarten verkauft. Er macht
extra mehr Grillsauce«, teile ich ihr mit einem triumphierenden
Glitzern im Blick mit.
Heidis Mundwinkel verziehen sich nach unten.
»Wundert mich gar nicht«, sagt Madison. »Das liegt
bloß daran, dass ich bei Barnsley sucht den
Superstar gewonnen habe. Alle wissen, dass ich bei dem Konzert
singe.«
»Den Kartoffelsalat muss ich nämlich bis morgen
Abend fertig haben«, sagt Dolores, die für die Hauptgerichte
zuständig ist. »Das Maisbrot mache ich dann am Samstag.«
»Es wäre viel einfacher gewesen, wenn die
Müttergruppe das komplette Catering übernommen hätte«, sagt Brandy.
Es ist ein ewiger Zankapfel, dass die Mütter die Nachspeisen und
Dolores und Nancy die Hauptgerichte machen. »Wir haben fünf
Nachspeisen zu bieten, einschließlich Creme Brüh-li«, sagt
sie.
»Echt«, sagt Heidi mit einem mokanten Lächeln.
»Ich habe noch nie etwas von Creme Brüh-li gehört.«
»Oh, hältst du das als Dessert für eine kluge
Entscheidung?«, fragt Mr. Horner beunruhigt. »Das ist nicht der
richtige Zeitpunkt für Neuerungen, Brandy.«
»Nein, Mr. Horner.« Brandy schluckt. »Ich streiche
es vom Speiseplan.«
So läuft es immer, wenn Mr. Horner etwas sagt. Sie
waren alle früher seine Schülerinnen und geben sofort klein
bei.
»Meine Hauptsorge ist die Musik«, ergreife ich die
Initiative.
»Wie wäre es mit einem leckeren Apfelkuchen?«,
fragt Dolores.
Brandy blickt genervt zur Decke. »Langweilig«,
murmelt sie.
»Hast du langweilig
gesagt, Brandy?«, trompetet Heidi.
»Weiß wer, was die Jungs von der Straßeninspektion
spielen?«, frage ich hastig.
»Ja, ich«, sagt Heidi. »Ich laufe ihnen ständig
über den Weg, wenn ich unterwegs bin, um Tombolapreise zu besorgen.
Also ungefähr drei Mal pro Tag.«
Nicht zum ersten Mal fällt mir auf, dass Heidi
offenbar wild entschlossen ist, die Tombola als einsames Glanzlicht
des ganzen Abends dastehen zu lassen.
»Ich rede ihnen zu, aktuellere Songs zu singen«,
fährt sie fort.
»Und was ist das dann?«, fragt Brandy
argwöhnisch.
»Ach, keine Sorge«, sagt Heidi. »Sie begleiten
dich trotzdem zu Flashdance. Wenn du darauf
bestehst. Ich finde das ja wirklich mutig von dir, Brandy. Nein,
sie wollen ein paar neuere Bands für die Jüngeren covern. Oasis,
Green Day, Nickelback.«
»Passt das denn?«, rufe ich dazwischen.
»Es muss doch nicht immer nur nach Schema F
ablaufen«, sagt Heidi. »Diese Aufkleber auf den CDs, die vor
anstößigen Texten warnen, die sind sowieso nicht ernst zu nehmen.
Vielleicht auch noch was von Snoop Dogg, das wäre doch lustig!« Sie
lächelt mir zu.
»Jedenfalls steht mir der Platz als Top-Act zu«,
schaltet Madison sich ein und begutachtet dabei ihre Fingernägel.
»Schließlich habe ich bei Barnsley sucht den
Superstar gewonnen.«
»Das ist mir wohl bewusst«, sage ich
gereizt.
»Wie wär’s mit einer schönen Pfirsichpastete?«,
meldet Dolores sich zu Wort. »Da geht doch nichts drüber.«
»Pfirsichpastete!«, gluckst Mr. Horner. »Das
erinnert mich an damals -«
»Wer besorgt denn die Teller und Servietten?«,
fällt Brandy ihm ins Wort.
Jetzt reden alle gleichzeitig.
»Oh, Alice, haben Sie die Teller und Servietten
vergessen?«, fragt Heidi.
»Der Bürgermeister und seine Gemahlin waren
anwesend …«, sagt Mr. Horner, dem niemand zuhört.
»Und wir brauchen einen Trupp, der hinterher
sauber macht«, seufzt Brandy.
Dann kommt Sara. »Tut mir leid, dass ich zu spät
dran bin! Aber ich musste erst noch Milch für Hillary
abpumpen.«
Brandy schnalzt missbilligend, und ich blicke
nervös zu Mr. Horner. Aber der redet immer noch vor sich hin. »Dann
war es Zeit für die Ansprachen …«
Sara ist für die Turnhallendekoration zuständig.
Sie holt ein paar Zeichnungen heraus. »Ich hatte mir etwas
vorgestellt, das ländliche Themen in einen multikulturellen,
globalen Zusammenhang setzt.«
Wir scharen uns um die Zeichnungen. »Was ist das
da?«, fragt Brandy und zeigt darauf.
»Stammesmasken.«
»Aber wir wollen doch Luftballons aufhängen«, gibt
Dolores zu bedenken.
»Eher nicht. Ich habe mir gedacht, wir könnten
stattdessen Gemüse aus Pappmaschee basteln.«
»Die werden sich kringelig lachen«, sagt Brandy.
»Was sollen wir machen - um einen Komposthaufen herumtanzen?«
»Eigentlich plane ich auch noch eine Skulptur aus
Recyclingmaterial«, sagt Sara und zieht eine weitere Skizze
heraus.
»… Die Pfirsichpastete war völlig verkohlt! Du
meine Güte, was haben wir gelacht«, redet Mr. Horner im Hintergrund
unbeirrt weiter.
Ich schließe die Augen. Ich bin weit über
irgendwelche Angstzustände hinaus. Ich rase zügig auf einen
Zusammenbruch zu. Ich glaube beim besten Willen nicht, dass ich
noch mehr verkraften kann.
Heidi lehnt sich zurück und schnaubt vernehmlich.
»Ach, Alice. Ganz ehrlich, ich kann den Samstag gar nicht mehr
erwarten.«